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John Montgomery

Meine Schritte, die ich durch den Wald hastete, waren zu schnell und zu laut, das wusste ich. Annemarie konnte nicht mithalten, doch das war mir in diesem Moment, in dem es nur um unser Verschwinden ging, egal.

Ich war wütend. Ja, ich war verdammt wütend.

Ich war mir sicher, Annemarie würde nicht mehr versuchen zu den Nazis zu fliehen, denn dass ich einen von ihnen erschießen musste, sollte sie abgeschreckt haben. Sie brachte uns in Schwierigkeiten, besser gesagt mich. Und nun sollte sie auch zusehen, mit mir Schritt zu halten.

Ich schlug einen Ast vor meiner Nase aus dem Weg, als sie sich irgendwann gehetzt zu Wort meldete. „Ich – Ich kann nicht – Könnten wir etwas langsamer werden?“

„Nein“, lautete meine klare Antwort lief weiter geradeaus und konnte schon das Ende des Waldes sehen, hinter dem sich besser keine Deutschen befinden sollten. Es war mitten in der Nacht, stockdunkel, am besten sollte sich absolut niemand dort aufhalten.

„Aber die vielen Sträucher kratzen an meinen Beinen … Bitte!“ Sie klang abgekämpft und ich hörte noch ihren Kloß im Hals heraus, was bedeutete, dass sie entweder weinte oder damit zu tun hatte, das Weinen zu unterdrücken.

Ich konnte verstehen, dass sie Schmerzen hatte, immerhin trug sie nur ein Kleid, aber

Schmerzen hatte ich auch. Mit der Zeit verschwand das Adrenalin in meinem Blut und meine Verletzung an der Hüfte machte sich mit Macht bemerkbar. Sie pochte heftig und ich musste mich setzen oder legen, konnte es mir aber noch lange nicht erlauben. Wir sollten uns so weit wie möglich von dem deutschen Trupp entfernen, egal wie groß unsere Qualen waren.

Außerdem war ich noch zu geladen, um mich normal mit Annemarie unterhalten zu können.

Dann hörte ich nach ein paar Metern wie sie leise schrie und ihr Körper auf dem Waldboden unter uns landete. Sie stöhnte und ich drehte mich zu ihr um, sah sie direkt mit dem Bauch nach unten liegen. Um ihr wenigsten ein bisschen behilflich zu sein, zog ich sie am Arm auf die Beine, ging sicher, dass sie nicht ernsthaft verletzt war.

„Bitte“, bat sie mich leise und sah ausgelaugt zu Boden, während sie sich ein Blatt aus dem zerzausten Haar zog. „Etwas langsamer.“

Aber ich hörte nicht auf sie. Ich wandte mich von ihr ab und ging, ohne auf ihren Protest zu achten, weiter. „Wir laufen weiter, keine Widerrede. Vielleicht solltest du dich besser darauf konzentrieren wo du hinläufst, anstatt …“

„Nein, ich will langsamer laufen!“, schrie sie aus heiterem Himmel und ich blieb sofort auf der Stelle stehen. Wiederholt drehte ich mich zu ihr, nur um das erste Mal eine ansatzweise wütende Miene in ihrem eigentlich sonst immer unschuldigen Gesicht zu sehen. Sie hatte ihre Fäuste geballt und spannte sich an. „Ich …“, quetschte sie wortkarg hervor und presste ihre Augen zusammen, als würde sie jeden Moment explodieren. Sie atmete tief durch. „Ich habe Schmerzen, meine Beine sind geschwächt und ich bin müde“, erklärte sie schließlich flehend. „Bitte! Verstehst du das denn nicht?“

Es war für mich das erste Mal sie als jemanden zu sehen, der wie jeder andere Mensch auf der

Welt eine Grenze hatte, die nun überschritten war. Ich vergaß zu oft, dass Annemarie ein Mädchen oder eher eine junge Frau war, die es nicht leicht bei uns hatte, doch das änderte nichts an unserer momentanen Lage.

Deswegen kniff ich etwas die Augen zusammen und kam ihr Schritt für Schritt näher. „Was? Du willst langsamer laufen? Glaubst du, das macht Sinn nachdem du geschrien hast wie eine Verrückte, hm?“

Sie wand ihren Blick von mir ab und ihr verärgerter Ausdruck wurde durch einen unsicheren ausgetauscht. Da war die kleine Annemarie also wieder, so schnell verging ihre temperamentvolle Seite. Ein Wunder, dass sie sich tatsächlich getraut hatte, mich anzubrüllen.

„Wir laufen das Tempo, das ich vorgebe“, raunte ich zu ihr, als wäre sie gar nichts für mich. Als wäre sie nur eine unwichtige Person in meinem Trupp. Ich begann wieder in Richtung des Waldendes zu laufen, ignorierte ihre traurige Miene. „Gewöhn dich besser daran. Hier gibt es keine Rücksicht mehr.“

„Du hast ihn einfach erschossen.“

Und zum dritten Mal blieb ich ihretwegen auf der Stelle stehen, rümpfte die Nase.

Annemarie klang unglaublich erschöpft, als sie fortfuhr: „Du hättest ihn am Leben lassen können, er sagte, er würde uns nicht verraten … Aber du hast ihn einfach erschossen, als … Als wäre es dir vollkommen egal.“

Jetzt drehte ich mich auch zum dritten Mal zu ihr um, blickte geradewegs amüsiert in ihre Augen, die auch noch in der tiefen Dunkelheit blau leuchteten. „Versuchst du mir ein schlechtes Gewissen einzureden?“

Sie neigte ihren Kopf leicht und sah mich fragend an. „Ist das denn überhaupt möglich?“

Ich empfand es als mutig mich so etwas zu fragen. Überhaupt dachte ich, dass Annemarie gerade sehr waghalsig war, dafür, dass sie theoretisch meine Gefangene und ich ihr Feind war.

Dennoch ging ich nicht auf ihre Frage ein und meinte stattdessen: „Du hast doch keine Ahnung, was all das hier überhaupt bedeutet und wie es funktioniert.“ Ich lachte auf. „Du denkst, er hätte uns nicht verraten?“ Und drehte mich wieder von ihr weg, um endlich am Waldrand anzukommen. „O, Annemarie. Deine Märchen existieren nicht mehr.“

„Das weißt du nicht!“, sagte sie und ich hörte, wie sie mir mit kleinen Schritten folgte. „Er war noch so jung und hatte unheimliche Angst! Glaubst du denn nicht, dass es manchmal besser ist zu vertrauen, auch wenn er ein Deutscher war?“

„Nein“, antwortete ich überzeugt. „Das denke ich nicht.“

„Aber wieso?“ Gott, sie sollte endlich ihren Mund halten. „Wieso musstest du ihn erschießen? Es ist …“

Genau jetzt platzte mir der Kragen. Wie vom Blitz getroffen blieb ich schon zum vierten Mal stehen, drehte mich zu ihr und zeigte mit dem Finger auf sie, während ich zwei drohende Schritte näherkam. „Deinetwegen!“, presste ich vor Wut kochend zwischen meinen Zähnen hervor, worauf sie sofort einknickte und rückwärtslief. „Wieso frage ich dich denn nicht, weshalb du unbedingt schreien musstest?“ Ich sollte sie lieber nicht so anknurren, aber auch ich hatte eine nervliche Grenze und gemischt mit meinem physischen Schmerz, war das keine gute Mischung. „Was dachtest du würde passieren, nachdem du die Aufmerksamkeit des kleinen Nazis erweckt hast? Dachtest du, er würde dich vor mir retten, mich einfach zurücklassen und alles hätte ein Ende? Gott verdammt, er hätte mich erschossen, genauso wie er jeden anderen Amerikaner erschießen würde!“

Annemarie starrte mich einfach nur perplex an, bewegte sich keinen Millimeter mehr, weswegen ich nun wirklich ein schlechtes Gewissen bekam, weil ich ihr gegenüber so laut wurde. I ch war immens sauer.

„Das ist es, was hier passiert, Annemarie!“, redete ich weiter. „Wenn ich ihn nicht erschossen hätte, wäre es andersrum gewesen. Und ich sterbe nicht wegen einem Mädchen hier draußen, die denkt, dass ihre ihr Retter ein verdammtes Hakenkreuz auf seinem Abzeichen trägt!“

Sekunden der Stille vergingen, in der wir uns stillschweigend in die Augen sahen und niemand den Blickkontakt unterbrach. Sie versuchte meine Worte zu kapieren und ich versuchte runter zu kommen, auch wenn es mir nur mäßig gelang. Das Blut kochte weiterhin wild in meinen Venen und ihre blauen Augen machten es nicht besser.

Irgendwann sagte sie: „Du hältst es mir vor, geschrien zu haben?“ Langsam schüttelte sie den

Kopf, als könnte sie mich nicht verstehen. „Ich bin Gefangene einer amerikanischen Kriegstruppe, John … Ich würde alles dafür tun, um frei zu sein.“

Meine Stirn verkrampfte sich und ich mochte es nicht, wie sie mit mir sprach. Ich war der erste, der wegschaute.

„Ich muss jede Minute Angst davor haben, dass mir jemand wehtut oder … jemand Katharina anfasst. Was blieb mir anderes übrig? Für mich ist all das hier grauenvoll.“

Ich blickte auf den, schwarzen Untergrund und versuchte meine Gedanken zu sortieren. „Du hast mein Leben aufs Spiel gesetzt, während ich versuche deins zu retten.“ Ich schaute erneut in ihre blauen Augen. „Ich gebe dir und deiner Schwester mein Brot, ich habe schon am ersten Tag Pattons davon abgehalten dich zu erschießen und ich habe dich aus diesen verdammten Fluten wegen eines nervigen Haarbands gerettet. Nicht zu vergessen, dass Walt dich angefasst hat und ich dir geholfen habe.“

Sie sagte nichts mehr, schluckte nur.

„Und selbst wenn der Deutsche mich nicht erschossen hätte“, wetterte ich weiter, „wärst du weggewesen und ich tot. Major Pattons hätte mich auf der Stelle umgebracht, wenn ich dich verloren hätte.“

Tränen bildeten sich in ihren Augen, während sie den Kopf schüttelte. „Das weißt du nicht“, hauchte sie kläglich.

„Doch, ich weiß es“, erwiderte ich und war überzeugt von dieser Aussage. „Es ist nicht meine Art mich für jedes dahergelaufene Mädchen so derart erbärmlich einzusetzen. Du solltest es zu schätzen lernen.“

Wieder wurde nicht gesprochen, sie ließ ihren Kopf sinken und man konnte ihr die Reue ansehen. Es stellte mich zufrieden, dass sie dran zu knabbern hatte, denn dann fühlte ich mich weniger dumm. Ich konnte nicht glauben, was ich bereits alles für ein deutsches Mädchen getan hatte, als ich es aufzählte. Es gefiel einer Seite meines Ichs nicht, während jedoch die andere Seite in Stolz getränkt war.

Als ich gerade sagen wollte, dass es besser sei weiter zu gehen, kamen plötzlich laute Geräusche von links und ich zog instinktiv meinen Revolver hervor und hielt ihn in diese Richtung.

Ich war bereit abzudrücken, als jemand aus dem Gebüsch gestürzt kam und vor unsere Füße fiel.

Es war Theo der mit Schlamm und Laub beklebt schwer atmete.

„Theo“, hauchte ich entsetzt und steckte sofort meinen Revolver weg. Man sah ihm an, dass er lange gerannt sein musste, so außer Atem wie er war, deswegen versuchte ich ihm aufzuhelfen. Ich merkte, dass es ihm widerstrebte sich von mir helfen zu lassen, doch er war zu geschwächt. „Was ist passiert?“, fragte ich ihn, als er aufrecht stand, ich ihn aber noch immer an den Schultern halten musste. „Wo sind die anderen?“

Theo musste die Augen schließen, um sich beruhigen zu können. Sein Gesicht war schmutzig, ein paar Kratzer zierten seine linke Wange. Schusswunden konnte ich aber, zum Glück, außerhalb seiner Kleidung, nicht erkennen. „Ich weiß es nicht“, erzählte er und sein Gesicht verkrampfte sich, als er heftig nachdachte. „Es … Es waren Deutsche. Sie kamen, es waren so…so viele, sie …“

Weil ich merkte, dass Theo noch zu durcheinander war, um klare Sätze zu sprechen, legte ich ihm meine Hand auf den Hinterkopf und hielt ihn fest. „Beruhige dich, wir müssen erst mal aus diesem Wald verschwinden.“

Er nickte mehrmals und ich sah über ihn hinweg zu Annemarie, die noch total versteift hinter Theo stand und uns anstarrte. Ihre Hände hatte sie fest ineinander verhakt, was mir zeigte, dass sie sich überhaupt nicht mehr gut fühlte.

„Ein ruhiger Platz und Schlaf“, sprach ich, während ich zusah, wie Annemarie ihren Blick auf den Boden richtete. „Das ist es, worum wir uns als nächstes kümmern sollten.“

Wir verließen den Wald, gingen noch ein ganzes Stück, um möglichst sicher zu sein, dass uns der deutsche Trupp nicht mehr zu nahekommen konnte. Theo erklärte mir den kompletten Ablauf des Überfalls. Es muss ein Hinterhalt der Deutschen gewesen sein, doch viele unserer Männer konnten flüchten. Manche wurden erschossen, sagte er, aber konnte mir versichern, dass Annemaries Schwester und James noch lebten. Major Pattons, leider Gottes, auch.

Es war schwierig, aber machbar ein Feuer zu entzünden, woran wir uns wärmen konnten. Die Stimmung, die herrschte, war bedrückend und das nicht zu wenig. Theo hatte weiterhin einen Groll auf mich und Annemarie sprach kein Wort mehr mit mir.

Nun saß ich – als Einziger, der noch wach war – am Feuer und rieb mir die kalten Hände. Wir waren in einer alten Scheune, die verlassen inmitten eines Feldes stand. Annemarie schlief seitlich auf einem Haufen Stroh und hatte ihr Gesicht in meine Richtung gedreht, Theo lag neben dem Feuer und sein regelmäßiger Atem verriet mir, dass er ebenfalls schlief.

Ich war selbst hundemüde, meine Schmerzen waren enorm, aber ich durfte jetzt nicht schlafen. Die Gefahr, wir könnten entdeckt werden, egal von wem, war zu groß. Einer von uns musste nun mal wach bleiben.

Das Einzige, das mir zum Verhängnis wurde, mich auf unsere Umgebung zu konzentrieren, war Annemaries Gesicht.

Ich presste die Handflächen aneinander, während ich zusah, wie das Licht des Feuers, ihre Haut noch sanfter aussehen ließ. Sie war blass, doch trotzdem war sie … Gott, es stresste mich, wie schön ich sie fand.

Ihr blondes Haar und wie ein paar Strähnen ihres Zopfes vor ihren Augen hingen. Vor allem ihre blauen Augen und wie sie mich damit immer ansah. Sie dachte, ich würde es nicht bemerken, aber ich müsste blind oder zurückgeblieben sein, wenn ich es nicht bemerken würde.

Mich zu ihr hingezogen zu fühlen mochte vielleicht ein Fehler sein, aber es war so belebend. An etwas zu denken, außer an den Krieg, war verdammt belebend. Nur durfte ich nicht vergessen, was sie wirklich war. Sie war eine deutsche Gefangene und ich musste dafür sorgen, dass es so blieb. Ich konnte verstehen, weshalb sie geschrien hatte und flüchten wollte, auch wenn ich es im ersten Moment nicht wahrhaben wollte.

Sie war eben nur eine deutsche Gefangene. Egal wie schön sie gerade aussah.

Ich wusste auch, dass ich mich verhältnismäßig zu viel für sie einsetzte und ihr half, es wurde schon so manches im Trupp geredet, so offensichtlich war es. Aber schon alleine wegen Pattons musste ich mich zurückhalten. Es war nicht so, dass es mir schwerfiel, nicht über sie herzufallen, ich war immer noch ein Mann, der wusste, wie man mit Frauen umzugehen hatte. Ich hatte einfach nur Gefallen daran, mich mit etwas auseinander zu setzen, das schöne blaue Augen hatte. Und die hatte sie. O ja, die hatte sie.

„Wenn du sie noch länger anstarrst, fängt sie gleich an zu brennen.“

Sofort blinzelte ich und sah zu Theo, der auf dem Rücken lag und die Decke anstarrte. Er wirkte müde, gleichzeitig aber auch noch immer wütend.

„Wieso bist du wach?“, fragte ich ihn leise, um Annemarie nicht zu wecken.

„Das war nicht das Zeichen, um ein Gespräch mit mir anzufangen.“ Theo drehte sich auf die Seite, seinen Rücken zu mir. „Beobachte sie einfach weiter.“

Ich musste mir einen tiefen Seufzer unterdrücken. Es war frustrierend, wie stur Theo sich manchmal verhielt. Er war zweiundzwanzig, aber noch zu oft ein Kind. Etwas, das man an ihm mögen und etwas, das einen zur Verzweiflung treiben konnte. Deswegen wischte ich mir durch das schmutzige Gesicht und stützte die Ellen auf meine Knie. „Rede schon. Ich kann mir diesen Mist nicht mehr geben.“

„Es gibt nichts zu bereden, nerv mich nicht.“

Ich wurde ungeduldiger. „Hör auf mit diesem elendigen Schwachsinn, Theo. Sag mir endlich, was dein Problem ist oder ich werde dich nie wieder fragen.“

Er schwieg kurz, man hörte nur noch das Holz knacken. „Du verstehst gar nichts.“

„Dann klär mich auf.“

Überraschenderweise richtete Theo sich ruckartig auf und setzte sich geradehin. „Okay, du willst es wissen?“ Er sah mir genau in die Augen. „Du hast Peppers Tod verursacht, verurteilst mich, wenn ich trauere und dann fühlst du noch nicht einmal einen Hauch von Reue.“ Ungläubigkeit stand in seinem Gesicht. „Du tust so, als wäre Pepper irgendwer gewesen, aber das war er nicht. Du hast keinen Respekt, nicht vor ihm und nicht vor mir.“

Ich hielt Theos Blick stand und scheinbar wollte er etwas von mir hören. Eine Entschuldigung vielleicht, irgendetwas, das ihn einigermaßen zufrieden stellen konnte, ich war mir nicht sicher. Doch das Einzige, das ich sagen konnte, war: „Ich bin nicht für Peppers Tod verantwortlich.“

„Doch, das bist du“, widersprach mir Theo sofort und griff mit seiner Hand in den Stoff seiner Hose. „Du hast den Schützen genau gesehen, du hättest mir sagen können, wo er war, doch du hast es nicht getan. Weil du egoistisch warst und lieber deinen eigenen Arsch gerettet hast, anstatt den von jemanden, der hundert Mal wichtiger war, als du.“

Er versuchte mich mit seinen Blicken zu ermorden, ich konnte es genau spüren.

„Denk nicht, mir ist das entgangen“, sprach er weiter und mit einem Zorn in der Stimme, den ich selten von ihm hörte. „Schätz dich glücklich, dass ich es nicht jedem anderen im Platoon gesagt habe, ansonsten wärst du schon längst tot.“

Ich war zu müde, um Theo mit viel Wut entgegenzusteuern. Sowieso machte es keinen Sinn für mich, denn er würde mich nicht verstehen. Wahrscheinlich würde er mich nicht einmal verstehen wollen. „Ich weiß, du brauchst einen Schuldigen“, sagte ich leise und schaute ins Feuer. „Ich kann dieser Jemand für dich sein, aber …“

„Nein, nein, halt‘s Maul, John!“, unterbrach mich Theo zornig und stand auf, worauf ich unauffällig zu Annemarie sah, um sicher zu gehen, dass sie noch schlief. „Rede nicht wie jemand, der du nicht mehr bist. Du hättest mir verdammt nochmal sagen sollen, wo der beschissene Schütze war, ich hätte ihn erwischt und Pepper würde noch leben. Wir müssten nicht in einer zugigen Scheune sitzen, nachdem wir unsere Freunde und den kompletten Zug verloren haben.“

Seine Worte brachten mich nur dazu, noch müder zu werden, als ich es ohnehin schon war, deswegen atmete ich einfach nur tief ein und aus, schloss die Augen. „Verschwinde, wenn du es brauchst. Ich werde dich nicht aufhalten.“

Aggressiv bückte sich Theo nach seiner Jacke, die auf dem Boden lag und zog sie an. „Gut, dass du immer sofort weißt, was ich brauche. Ich schicke dir eine Brieftaube, wenn ich den Rest von uns gefunden habe.“ Das war dann wohl sein typischer Sarkasmus. Er verließ die Scheune ich hörte ihn noch schimpfen: „Wenn ihr bis dahin nicht schon verreckt seid.“

Augenblicklich plagten mich Kopfschmerzen, tiefe, ätzende, niemals endende Kopfschmerzen.

Manchmal schien es unwirklich, wie sehr wir uns verändert hatten. Früher waren Theo und ich beste Freunde, ganz normale Jungs, die Spaß hatten, die Nachbarn ärgerten und Mädchen begafften. Es gab selten etwas, worüber wir uns stritten, außer natürlich um Mädchen. Heute sind wir komplett andere Menschen, denken über Dinge nach, an die wir früher keinen Gedanken verschwendet hätten. Und hätte uns vor mehreren Jahren jemand erzählt, dass Theo beginnen würde, mir die Schuld eines Todes in die Schuhe zu schieben und mich dafür zu hassen, hätten wir gelacht.

Aber so es ist nun mal. Es war unmöglich in dieser Zeit keinen Zorn in sich zu tragen. Zu viel Scheiße hatten wir schon durchgestanden.

Mein Körper fuhr immer weiter runter und mein Blick fiel wieder auf Annemarie, die scheinbar noch immer schlief. Ihre Hände hatte sie unter ihre die Wange gelegt und ihr Körper atmete nicht mehr gleichmäßig.

„Du musst einen tiefen Schlaf haben, wenn du hiernach nicht wach geworden bist“, redete ich deswegen zu ihr und warf ein Stück Holz ins Feuer.

Wie ich es erwartet hatte, öffnete sie langsam die Augen und sah mich an.

Da waren wieder ihre blauen Augen.

Sie seufzte leise. „Ich wollte euch nicht belauschen.“

„Dir blieb wohl nichts anderes übrig“, meinte ich scherzhaft und versuchte die Stimmung aufzulockern. Sie hatte die ganze Zeit nicht mit mir gesprochen, es lenkte mich aber ab, wenn sie es tat, deswegen sollte sie damit nicht mehr aufhören. „Aber sprechen wir nicht darüber.“

Annemarie setzte sich langsam auf. Ihre Haare waren ein reines Durcheinander, ein paar Strohhalme hingen darin, sodass es amüsant aussah. Sie bemerkte es jedoch nicht und rieb sich mit der Faust über ein Auge. „Ist es nicht gefährlich, ihn alleine draußen rumlaufen zu lassen?“, fragte sie mich und ihre Stimme war noch etwas kratzig von dem Schlaf.

„Er wird wiederkommen“, versicherte ich ihr und legte mich auf den Rücken, worauf er sofort schmerzte. Ich versuchte mir den Schmerz nicht anmerken zu lassen, und hielt den Atem an. „Ansonsten hätte ich ihn nicht gehen gelassen.“

Für einen Augenblick war es still. Ich schloss die Augen und versuchte mich auf alles andere zu konzentrieren, bloß nicht auf den Schmerz, der mich plagte.

„Du hast Schmerzen“, unterbrach Annemarie die Ruhe.

„Ist das so offensichtlich?“, presste ich hervor, positionierte mich anders, sodass ich meinen Kopf seitlich in ihre Richtung drehen konnte. „Normalerweise schaffe ich es immer, andere denken zu lassen, ich könnte noch einen Staffellauf bestreiten.“

Sie lächelte nicht, schmunzelte nicht einmal. „Würdest du dich besser fühlen, wenn ich dir sage, dass ich auch Schmerzen habe?“ Sie zog ihr Kleid etwas ihre Beine hinauf und entblößte ihre nackte Haut bis über ihre Knie. Unverkennbar musste sie Schmerzen haben. Viele Kratzer zierten ihre Beine. Sie musste sie wohl von den vielen Ästen und Sträucher im Wald bekommen haben. Dann strich sie über ihre Handgelenke, die noch rot und mit getrocknetem Blut verunstaltet waren. „Meine Gelenke sind nicht mehr so schlimm wie anfangs. Meine Beine lenken den Fokus auf sich, denke ich.“

Ich schaute wieder auf ihre Beine, musterte die vielen kleinen Narben. Sie waren nicht tief, nach ein paar Tagen würden sie verheilt sein, aber sie strahlten zu viel Negatives aus. „Nein“, lautete schließlich meine Antwort und blieb bei einer Narbe stehen, aus der gerade ein Tropfen Blut lief. „Es lässt mich nicht besser fühlen.“

Annemarie schnaufte leise. In der unmöglichsten Situation lachte sie. „Mist. Ein Versuch war es wert.“ Und schon waren ihre dünnen Beine wieder mit dem Kleid bedeckt, worauf ich ihr ins Gesicht sah.

Mir erschien es oft, als würde ich jemand anders sein, wenn ich mit ihr sprach. Irgendwie jemand, der kein Soldat war, einfach jemand, der versuchte sich nicht ständig in ihren schönen Augen zu verlieren. Sie erschien mir so unschuldig, noch so naiv und rein, dass mir nichts anderes übrigblieb, als den Krieg für wenige Minuten auszublenden.

„John“, wisperte sie irgendwann leise, nachdenklich.

Sie sah mich nicht an, ich jedoch hatte ihre Augen wieder direkt im Blick.

„Ich will dir sagen, weshalb ich dich damals mit zum … du weißt schon … in den Wald genommen habe.“

Meine Mundwinkel hoben sich belustigt. „Ich hatte nicht erwartet, dass es dafür eine Erklärung gibt.“

Annemarie wurde rot, ich bemerkte es genau, weswegen sie ihren Kopf von mir abwand. „Ja, also, äh“, fiepte sie zu hoch und räusperte sich deswegen, schüttelte sich und versuchte ernst zu sein. „Also … Willst du es wissen?“

Mein Grinsen war immer noch beständig. „Sag es mir, bitte.“

„Ich, ähm …“ Sie wurde nervöser und strich sich eine blonde Haarsträhne hinter ihr Ohr. „Also eigentlich ist das …“ Nun hielt sie sich die Hand an die Stirn und legte sich wieder auf den Rücken. „O, Mann, ich bin bescheuert.“

Ich runzelte die Stirn, beobachtete sie dabei, wie sie sichtlich durcheinander wurde und sie, genau wie ich, neben dem Feuer lag. „Kneifst du?“

„Ich weiß nicht.“

„Du kneifst tatsächlich.“

Annemarie atmete schwer aus, während sie an die Decke sah. „Du würdest mich für dumm halten, wenn ich es dir sage. Das war eine blöde Idee, mit dir darüber zu sprechen. Wir sollten sowieso lieber schlafen.“

Die Tatsache, dass ihr anscheinend etwas unangenehm war und ich ihr die Scham im Gesicht ablesen konnte, amüsierte mich. Sie wirkte wie ein Teenager. Wieder etwas, das mich belebte.

„Wenn du es mir nicht sagen möchtest“, erwiderte ich, wand meinen Kopf ebenfalls an die Decke und schloss die Augen, „dann muss ich mir wohl eine eigene Erklärung ausdenken. Ich fange an bei der Vorstellung, dass du dich vor mir entblößen wolltest, vielleicht wäre das …“

„Bitte, lass das“, unterbrach sie mich schnell, worauf ich augenblicklich stoppte und sie wieder ansah. Anscheinend merkte nicht nur ich, dass der Ton, mit dem sie eben mit mir gesprochen hatte, nicht passend für ihre eigentliche Situation war, deswegen schwieg sie für einen kurzen Moment.

Ich würde nicht auf die Idee kommen, sie zu ermahnen, wenn sie zu gewagt mit mir sprach, dazu hatte ich nicht das Recht, aber es würde lange andauern, bis sie diese Angst mir gegenüber abstellte.

„Es tut mir leid.“ Anne klang nun weniger offen, wie sie es eben war. „Mir sind zu schnell viele Dinge unangenehm.“

„Okay, ich rede nicht weiter darüber.“ Ich richtete mich wieder auf, weil ich spürte, wie mir die Augen zu fielen, wenn ich auf dem Rücken lag. Mich gegen einen Strohkasten lehnend, sage ich: „Du solltest schlafen, ich werde wachbleiben.“

Annemarie spielte noch immer unruhig mit ihren Fingern, was mir zeigte, dass sie grübelte.

„Annemarie“, sagte ich deswegen in einem beruhigenden Ton. „Versuch zu schlafen.“

Fast unmerklich nickte sie, schloss die Augen und legte ihre Hände einfach über ihren Bauch. Es vergingen vielleicht fünf Minuten, in denen ich darüber nachdachte, wo Theo sein könnte und wie es James erging. Tatsächlich bekam ich ein flaues Gefühl im Magen, da Theo noch immer nicht wiedergekommen war. Ich hatte erwartet, er würde auf direktem Weg wieder umkehren, egal wie sauer er sein mochte.

Das Feuer wurde immer kleiner, deswegen auch immer dunkler um uns herum. Ich wollte unbedingt schlafen, meine Lider fielen mir schon im Minutentakt zu, doch ich kämpfte dagegen an, wie ich es so oft tat. Vielleicht sollte ich aufstehen und Theo suchen gehen. Ich würde es mir niemals verzeihen, wenn ihm etwas zustieß, nur weil ich nicht mutig genug war, ihn zurückzuhalten.

Als mir die Augen nun schon zum fünften Mal zufielen und ich fast im Schlaf versank, erklang Annemaries Stimme. „Es klingt dumm“, begann sie, hatte aber immer noch ihren Kopf an die Decke gewandt, „aber ich musste wissen, ob …“ Wieder versuchte sie, die richtigen Worte zu finden.

Ich blinzelte und bemühte mich, ihr zu folgen.

„Ich weiß, dass Katharina sicher ist, wenn James bei ihr ist. Ich vertraue sie ihm an, weißt du? Es ist gut, dass er sich um sie kümmert und sie weniger Angst haben muss, vor allem wenn ich nicht da bin. Aber – bitte versteh das nicht falsch, ich weiß ja, dass es dumm klingt – ich war mir ständig nicht sicher, aber ich dachte vielleicht, dass du oder – oh Gott, keine Ahnung – dass ich vielleicht so jemanden auch in dir irgendwie … irgendwie sehen könnte.“

Es fiel mir wirklich sehr schwer, ihr konzentriert zuzuhören, aber ich verstand sofort, was sie meinte.

„Du hattest vorhin gesagt, dass du schon von Anfang an Major Pattons davon abgehalten hast, Katharina und mich zu erschießen und … Ich vergesse nicht, was du für uns bereits getan hast und genau das ist das, was mich dazu bringt dieses Etwas, das ich in James für Katharina sehe auch in dir zu sehen.“ Sie legt sich einen Arm über die Augen und lacht unbehaglich. „Ich bin dumm. Sag, dass ich dumm bin. Ich schleppe dich mit zum – du weißt schon was –, um … keine Ahnung. Ich bin einfach bescheuert, sagte ich doch.“

Ich zählte eins und eins zusammen. Ich erfasste trotz meiner Müdigkeit, was sie versuchte mir zu erklären und schob die Brauen zusammen. „Deswegen hast du mich am Fluss nicht losgelassen, nachdem ich dich rausgeholt habe. Du suchst bei mir den Schutz, den James deiner Schwester gibt.“

Ob dieses Gespräch gut war, konnte ich nicht erahnen. Aber es musste wohl ausgesprochen werden.

„Vielleicht ist es so“, erwiderte Annemarie leiser. „Ich weiß, dass diese Situation absurd ist und es tut mir leid, dass ich mich so sehr an dich geklammert habe, aber ich denke, ich … ich denke, ich brauchte es. Es überkam mich.“

Ich wusste keine Antwort darauf. Was sie sagte überraschte mich, gleichzeitig auch keine Sekunde. Natürlich suchte sie Schutz bei mir, nachdem ich ihr schon mehrere Male geholfen hatte. Sie dachte, sie könne sich auf mich verlassen, aber ich hatte ihr schon im Zelt versucht klar zu machen, dass das nicht möglich sei. Dass ich nicht selbst bestimmen könnte, wann ich wo sein würde, und wann nicht. Schon morgen könnte mich jemand erschießen und dann wäre sie allein.

Aber wie ich sie so da liegen sah, wie unsicher sie mir schien und wie ängstlich sie allem gegenüber war, verbot mir, ihr nun zu sagen, dass sie realistisch sein sollte.

Momente, in denen ich so dachte, erinnerten mich immer wieder an Lisbeth, meine kleine Schwester, und wie sie es auf einfachste Art und Weise schaffte, mich zu erweichen. Lisbeth wollte ich nie etwas ausreden, ihr nie etwas schlecht machen oder wegnehmen, vor allem nicht ihre Hoffnung.

Ich hatte mit mir zu kämpfen.

Seit mehreren Jahren bin ich nun schon im Krieg und habe schon auf viele schreckliche Arten lernen müssen, dass Hoffnung etwas war, das man mit einer schönen Illusion gleichsetzen konnte. Entweder man fühlte sie oder nicht. Und ich fühlte sie schon seit längerer Zeit nicht mehr.

„Du solltest wirklich schlafen,“ flüsterte ich ihr zu. Wir werden schon bei Sonnenaufgang aufbrechen müssen.“

Natürlich blieb mir Annemaries enttäuschter Blick nicht verborgen. Sie wollte von mir hören, dass ich sie immer beschützen würde, aber das sagte ich nicht. Ich konnte es nicht. Vielleicht hätte ich es in diesem Moment heute nicht einmal bei Lisbeth geschafft.

„Okay“, hauchte sie traurig und drehte ihren Körper seitlich von mir weg, sodass ich nur noch ihren Rücken sehen konnte. „Gute Nacht, John.“

Gute Nacht, Annemarie.


*


Ich döste bereit im Halbschlaf, als ich Schritte hörte, die sich unserer Hütte näherten. Ich brauchte keine halbe Sekunde, in der ich hellwach war und nach meinem Revolver griff, der neben mir lag.

Doch ich brauchte auch keine weitere halbe Sekunde, bis ich wieder todmüde war, als ich erkannte, dass es Theo war, der unsere Hütte betrat.

„Sag nichts“, lautete seine Begrüßung, als er sich gegen die Wand der Scheune lehnte und seine Jacke auszog. Er sah mich nicht einmal an. „Du kannst schlafen. Ich werde wachbleiben.“

Ich war mittlerweile so ermüdet, dass ich nicht einmal antworten konnte, nur noch kurz zu Annemarie sah, um zu prüfen, ob sie noch schlief. Sie tat tiefe gleichmäßige Atemzüge.

„Ich werde schon auf sie aufpassen“, sagte Theo leise und gab mir ein Zeichen, dass ich ihm den Revolver zu schieben sollte. Er nahm ihn an sich und legte ihn genau neben sich, dann sah er mich an. „Los, schließ schon die Augen, du Penner.“

Ich schlief augenblicklich ein.

Einer von ihnen

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