Читать книгу Einer von ihnen - Celine Ziegler - Страница 7
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ОглавлениеJohn Montgomery
Während Annemarie mir in Richtung des Waldes folgte, überkam mich ein seltsames Gefühl. Ich konnte mir nicht erklären, was nun passieren sollte und außerdem wusste ich nicht einmal, ob überhaupt irgendetwas passieren würde. Mir ist nicht entgangen, wie sie mich angesehen hat, nachdem ich ihr aus Pattons Zelt geholfen habe. Wie auch? Sie tat es extrem auffällig, fast ohne Scham. Es passte nicht zu dem Verhalten, das sie noch letzte Nacht aufwies, wo sie mir zitternd aus dem Weg ging.
„Also“, sagte ich, als wir im Wald standen. Ich sah mich um, ob jemand in der Nähe war. „Du kannst jetzt … Tun, was auch immer du tun musst.“
Ich hörte, wie sie mehrere Schritte hinter mir stehen blieb, sich jedoch nicht mehr bewegte, weswegen ich mich zu ihr umdrehte. Sie stand mit den Händen hinter dem schmalen Rücken verschränkt dort und sah mich mit großen Augen an. Sie wirkte unsicher und ihr rechter Fuß strich langsam durch die alten Blätter.
„Was ist?“, fragte ich sie und schob die Brauen zusammen. „Es ist niemand hier.“
Man konnte sehen, dass sie schluckte, bevor sie mit ihrer sanften Stimme sprach. „Gehst du sicher, dass niemand hier ist?“
Ihre Frage verwirrte mich, ich ging aber nicht darauf ein. „Ich denke schon“, antwortete ich, ließ es aber wie eine Frage klingen. Wieso hatte sie überhaupt gewollt, dass ich hier mit ihr war, wenn sie so verunsichert mit gegenüber war?
Ich war es gewohnt, dass Mädchen oder Frauen, gar Männer Respekt vor mir zeigten, doch bei Annemarie ließ es mich wie einen Unmenschen fühlen. Ihre kleine Schwester und sie machten so einen unschuldigen Eindruck. Allein wie ihre Haltung war. Schmale Schultern, sie schienen ständig angespannt, dünne Waden, die unter ihrem Kleid hervorkamen und die dünnen Arme. Es war ein Wunder, dass sie nicht dicker war. Normalerweise waren Mädchen, die aus guten Häusern wie sie kamen, gut bestückt.
Normalerweise hatten aber auch Mädchen, die ich traf, nicht solch blaue Augen wie Annemarie sie hatte.
„Aber kannst, du ähm, dich wegdrehen?“, holte mich Annemarie aus einer Starre, in der ich ihre blauen Augen betrachtete.
Ich blinzelte und musste mich instinktiv schütteln. Ihr Blick hatte etwas Fesselndes, es war unbeschreiblich. „Sicher“, sagte ich schnell und drehte mich um. „Aber beeil dich, wir sind ziemlich weit von unserem Lager entfernt.“
Ihre Schritte durch das Laub waren leise, aber das Rascheln hörbar. Sie ging nicht weit weg, es schien, als würde sie ein paar Blätter zur Seite fegen. „Ist es sehr gefährlich?“, fragte sie mich nach ein paar Sekunden.
„Was?“ Sie wollte ein Gespräch führen, während sie …?
„Hier. Könnten wir angegriffen werden?“
Ich sah mich mehr in der Gegend um, ging ein zweites Mal sicher, dass niemand hier war, der uns schaden könnte. Einfach aus Gewohnheit. „Unwahrscheinlich. Wenn es ein Trupp wäre, würde ich sie hören und einzelne Soldaten laufen nicht umher.“
„Also ist es nicht gefährlich?“
„Doch, ist es.“
Kurz sprach sie nicht und ich dachte, sie würde verstehen, dass es ziemlich merkwürdig sein konnte, sich mit jemanden zu unterhalten, der gerade uriniert, doch anscheinend täuschte ich mich.
„Kanntest du meinen Vater?“
„Nein“, log ich und verschränkte die Arme. Mir gefiel es nicht private Gespräche mit Menschen zu führen, die ich nicht kannte.
Ganz vage hörte ich sie etwas vor sich hinmurmeln, verstand es aber nicht. Und als das Laub wieder raschelte, war ich mir sicher, dass sie fertig war, drehte mich aber trotzdem nicht um. Zur Sicherheit.
„Ich finde es sehr nett von James, dass er sich so sorgsam um Katharina kümmert“, sagt sie. „Anscheinend ist das ziemlich … selten.“
Normalerweise würde ich daraufhin sagen, dass James schon immer ein Mensch war, der Kinder liebte und sie niemals leiden sehen konnte, doch ich brummte nur ein ungeduldiges „Hm“.
„Er meinte eigentlich, dass wir nicht so weit in den Wald gehen sollten, damit uns nichts passiert.“
Ich verdrehte die Augen. „Dann hättest du mit ihm gehen sollen. Ich dachte, dass es ziemlich unangenehm sein kann, wenn man beim Pinkeln beobachtet wird.“
Es herrschte eine längere Schweigepause, in der ich nicht einmal ihre Schritte hörte, deswegen drehte ich meinen Kopf vorsichtig nach hinten. Sie stand wieder einfach dort und verschränkte ihre Arme hinter dem Rücken, schaute zu Boden.
Noch bevor ich sie fragen konnte, was nicht stimmte, sagte sie: „Bist du gut?“
Ich runzelte die Stirn. Was war das für eine Frage?
Anscheinend merkte sie, dass ich sie nicht verstand und fügte schüchtern hinzu: „Also … Ob du einer von den Guten oder von den Bösen bist …“ Sie sah mich an. „Verstehst du?“
Das war solch eine unerwartete Frage, dass ich nicht einmal direkt eine Antwort parat hatte. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht oder so eine Frage überhaupt gehört. Aber ihr zerknirschtes Auftreten und wie sie mich ansah, ließen mich nach irgendeiner Antwort wühlen. „Ich weiß es nicht“, war alles, was ich darauf zu sagen hatte. „ … denke ich.“ Und es war die Wahrheit. Ich wusste es tatsächlich nicht.
Sie seufzte schwer und sah wieder zu Boden. „Es tut mir leid … Ich wollte nur wissen, ob ich vielleicht …“
Ich neigte den Kopf. „Was?“
Sie zuckte zaghaft mit einer Schulter. „Ob ich … Angst vor dir haben muss.“
Und ich verstand sofort. Sie wollte mir nicht zu nahetreten oder einfach irgendwelche seltsamen Fragen stellen. Sie wollte einfach nur wissen, ob ich so war wie James und Theo. Oder ob ich eher so war wie Walt, der sie anfassen und Pattons, der sie leiden lassen wollte.
Weil ich überzeugt davon war, schüttelte ich langsam den Kopf. „Nein“, meinte ich. „Du musst keine Angst vor mir haben.“
Sie hob wieder sachte ihren Kopf und sah mich mit ihren hellblauen Augen an. Erleichterung war zu erkennen. „Also bist du … gut?“
Ich zögerte. Was bedeutete schon „gut“? Deswegen griff ich nach der Pistole in meinem Gürtel, worauf Annemarie ruckartig zusammenzuckte, weshalb ich sie locker mit der Hand nach unten hielt. „Sieht das für dich gut aus?“, gab ich ihr eine Frage zurück. „Auch nur ein Stück?“
Während sie überlegte, presste sie ängstlich ihre Lippen aufeinander. Ihr Blick war durchgehend auf meine Waffe gerichtet. Dann hauchte sie: „Würdest du sie gegen meine Schwester richten?“
Fragend legte sich meine Stirn in Falten. „Ob ich, was?“
Sie sah von der Waffe zu mir. „Katharina … Würdest du sie damit umbringen?“
„Nein“, antwortete ich sofort, obwohl ich nicht einmal darüber nachdachte. Ich tötete, aber ich hatte noch immer die Macht darüber was und wen ich töten würde.
„James wird dafür sorgen, dass ihr nichts passiert“, sprach Annemarie wieder und wand ihre Augen auf das Laub unter unseren Füßen. „Richtig?“
„Ich denke, ja.“
Erleichtertes Aufseufzen ließ ihre Schultern das erste Mal etwas hängen.
Ich packte die Waffe wieder weg und betrachtete sie weiter. Es war, als hätte sie noch mehr Fragen auf den Lippen, traute sich nur nicht, sie auszusprechen. Es wunderte mich sowieso, dass ich so mit ihr sprach, wie wir nun mal miteinander sprachen. Aber es wunderte mich auch, dass Annemarie so mit mir redete. Was war passiert, seitdem sie noch letzte Nacht Todesangst vor mir hatte und sich gegen diesen Pfosten presste, um mir ja nicht zu nahe zu kommen?
„Wir sollten wieder zurück gehen“, beendete ich das Gespräch und ging an ihr vorbei. „Wir werden bald wieder weiterlaufen.“
Sie folgte mir mit kleinen Schritten. „Ist schon einmal jemand wegen eines Flusses gestorben?“
Ich wurde langsamer. Sie spielte auf Pattons an und seine Warnung, dass sie dafür büßen müsste, wenn jemand auf dem Fluss starb. Ich bin kein Mensch, der lügt, auch nicht, um Situationen angenehmer zu machen, deswegen antworte ich: „Ja. Viele.“
Daraufhin schwieg sie den ganzen Rückweg.
Es ist bereits eine Stunde vergangen, in der wir in Richtung des Flusses marschierten. Ich sprach nicht viel mit irgendwem, viel mehr dachte ich darüber nach, wie wir am besten das Wasser überqueren konnten. Annemarie und ihre kleine Schwester würden einen Ballast darstellen und wie wir sie sicher und ohne Problem auf die andere Seite bekamen, sollte schwer werden.
Vor allem weil der Wind immer stärker wurde und man erkannte, wie der Himmel ein immer dunkleres grau annahm. Als wäre ein Fluss nicht schon problematisch genug, zog auch noch ein Gewitter auf.
Als ich den ersten Regentropfen auf die Schulter bekam, wurde mir klar, dass es wohl ziemlich schwer werden würde, diesen elendigen Fluss zu überqueren.
„Du musst mit ihm reden“, sprach James nun schon zum dritten Mal auf mich ein und sah dabei zu Theo, der mehrere Meter vor uns lief. „Ich meine es ernst. Ihr müsst das Problem mit Pepper klären, ansonsten gibt es nur Ärger und das können wir nicht gebrauchen.“
„Ich habe versucht mit ihm zu reden, James.“ Ich beobachtete Annemarie, wie sie in den Himmel sah, weil auch sie einen Tropfen abbekam. „Er soll sich einfach nicht so kindisch anstellen. Es liegt nicht in meiner Hand, wen er für Peppers Tod verantwortlich macht.“
„Natürlich nicht.“ James seufzte. „Ich hasse es zwischen den Fronten zu stehen und um ehrlich zu sein, gibt es Wichtigeres, als eure dauernden Auseinandersetzungen. Ich möchte einfach nur nicht, dass wenn irgendetwas passiert …“
„Ja“, brach ich seinen Satz ab, weil ich wusste worauf er hinauswollte. Wenn man Freunde im Krieg hat, sollte man dafür sorgen, dass man in Freundschaft stirbt und nicht in Verachtung, wegen eines dummen Streits. Dinge, die man im Krieg zu schätzen lernte. „Ich denke, ich werde noch einmal mit ihm sprechen.“
„Bitte tu es einfach“, bat mich James, während der Regen anfing stärker zu werden. „Heute sieht es einfach nicht gut aus, es kann so viel passieren.“
Ich knüpfte meine Jacke zu und band meinen Rucksack enger um die Schultern. Ja, es stimmte, was James befürchtete. Es lag die Überquerung des Flusses vor uns, und das konnte sehr ungemütlich werden. Das waren die Momente, die ich am meisten hasste. Diese Vorbereitungsminuten auf das Ungewisse, was kommen würde. Es gab tausende Bilder in meinem Kopf und ebenso viele Szenarien, die ich durchdachte, um immer richtig handeln zu können, falls etwas passierte. Doch nicht immer klappte alles, selbstverständlich, und das machte diese Minuten davor schrecklich. Vor allem seitdem Pepper umgekommen war.
„Wir werden die Transportfahrzeuge hier stehen lassen! Der nachfolgende Trupp kann sie sich nehmen, oder wir kommen am Rückweg wieder hierher!“, schrie Pattons über die lauten Geräusche des Regens, als wir den Fluss schon von weiten sehen konnten. „Nehmt alles Wichtige, so viel wie ihr tragen könnt! Und dann, verlieren wir keine Zeit!“
Die Autos wurden abgestellt, die Männer sortierten ihre Sachen heraus und sekündlich wurde der Wind stärker und der Himmel schwärzer. Als es donnerte, ging ich zu Annemarie, die mit ihrer kleinen Schwester hilflos bei Javad stand, der das Seil um deren Hände festhielt.
„John“, musste er schon lauter zu mir sprechen, damit wir uns überhaupt verstehen konnten. „Ich habe keine Ahnung, wie wir die beiden da rüber bekommen sollen!“
Ich sah zum Fluss, an dem wir bereits standen und beobachtete die heftigen Fluten, die an Steine klatschten und Äste umherschleuderten. Wahrscheinlich hatte das Gewitter auch schon flussaufwärts getobt und den Fluss mit Wassermassen gefüllt. Wie sollten wir das hinbekommen?
„Kapp das Seil!“, sagte ich als erstes und deutete auf Annemaries Handgelenke. „Wir werden sie tragen!“
Javad schüttelte den Kopf und ich erkannte kaum noch sein Gesicht durch den Regen. „Das kann ich nicht! Pattons killt mich!“
Ich runzelte verständnislos die Stirn. „Willst du sie umbringen?“ Ich zog mein eigenes Messer hervor und griff nach dem Seil, das um die Hände des jüngeren Mädchens gebunden war, schnitt es kurzerhand durch. Ich ignorierte dabei ihre ängstlichen Blicke. Nachdem ich es einfach zu Boden fallen ließ, packte ich das Messer weg und wand mich an Annemarie. „Sag deiner Schwester, dass sie auf meinen Rücken steigen wird! Sie kann es nicht alleine durch das Wasser schaffen!“
Sofort nickte sie und sprach etwas zu der Kleinen, die mich nun noch ängstlicher ansah. Doch Annemarie redete auf sie ein und dann sprach sie wieder laut zu mir: „Ich soll bei ihr bleiben!“
Mann, für so etwas hatten wir keine Zeit. Das Unwetter wurde immer schlimmer, Zeit war das letzte, das wir verlieren sollten. „Du wirst direkt hinter mir bleiben!“, rief ich und sah zu James, der auf uns zukam. „James wird dir helfen, dann sollte es funktionieren!“
„Wir werden das packen!“, sagte James, weil er merkte, wie nervös die zwei Mädchen waren. „Die Strömung ist stark, aber wir sind stärker!“
Ich sah von ihm zu Annemarie. Ihre Haare klebten ihr schon nass in der Stirn und man sah genau die Panik, die sie ergriffen hatte. Sie hatte Furcht um ihre kleine Schwester und hielt sie ständig an der Hand. Ich war mir, um ehrlich zu sein, nicht sicher, ob Annemarie es alleine packen würde, durch die Fluten zu waten. Sie war zu schwer, um sie zu tragen, das wäre ein hohes Risiko, deswegen mussten wir darauf vertrauen, dass sie es alleine schaffte, wenn man sie nur festhielt.
Major Pattons schrie „Los geht‘s!“ und das war unser Startschuss. Die ersten Männer sprangen schon in das Wasser, hielten ihre Waffen nach oben und sofort sah man ihnen an, wie heftig die Fluten wirklich sein mussten. Einer verlor sofort die Kraft und sank komplett ins Wasser, konnte sich aber noch rechtzeitig an einen Ast krallen und sich aufrappeln. Theo lief bei den ersten mit und ich sah, wie er kämpfte und wie schwer es ihm fiel, nicht unterzugehen.
James hätte vorher beten sollen!
Ich zog mir den Rucksack vom Rücken. Die ersten Kameraden kamen nach einer kurzen Zeitspanne am anderen Ufer an, und zogen ein Tau mit sich. Dieses knoteten sie an einen dicken Baumstamm und spannten so das Seil zwischen den zwei Seiten des Flusses. Daran wurden die Rucksäcke an ihren Schulterriemen aufgehängt und mit jedem Schritt ein Stück weitergeschoben. Zentimeter für Zentimeter dem anderen Ufer zu. Da ich Katharina auf dem Rücken mitnehmen musste, war das die einzige Möglichkeit meine Ausrüstung zu transportieren. James oder Javad würden meinen Rucksack rüberschieben. Auch andere Soldaten nutzten diese Möglichkeit, weil sie auf ihren Rücken noch anderes rüberbringen mussten.
„Okay!“, rief ich und stellte mich zu Annemaries Schwester. „Wir gehen los!“ Ich kniete mich zu Boden und nur widerwillig, stieg sie auf meinen Rücken. Doch als ich mich wieder aufstellte, drückte sie sich fest an mich, da sie nun auch die starke Strömung sehen konnte.
Während ich schon die Kälte des Wassers ahnen konnte und mir ausmalte, wie unangenehm das nun werden würde, sah ich nach hinten zu James, der mit Annemarie vor sich zu uns kam.
„Jonathan!“, hielt mich James noch einmal auf, als ich den ersten Schritt ins Wasser setzen wollte. Er sah mir tief in die Augen. „Ich habe gebetet.“
Auch wenn ich nicht gläubig war, war ich erleichtert. James Gebete hatten für mich etwas, das mir Sicherheit gab. Etwas, das mich stärkte, egal wie unrealistisch es auch sein mochte.
Und dann war ich an der Reihe. Die Schuhe hatte ich schon ausgezogen und mit dem Rucksack mitgeschickt. Ich hielt den rechten Fuß ins Wasser. Es war eisig kalt und die Kraft dahinter stärker, als ich vermutet hatte. Ich blieb kurz im Wasser stehen, das mir bis zur Hüfte ging, um mich irgendwie an die Kälte zu gewöhnen und meinen Weg zu planen. Währenddessen hielt ich die Beine des kleinen Mädchens auf meinem Rücken fest umklammert, da auch sie ins Wasser einsank und ängstlich oder vor Kälte schniefte.
Sie umschlang mit ihren Armen fest meinen Hals, presste sich an mich. „Angst“, sagte sie leise, sodass nur ich es hören konnte. Es war das erste englische Wort, das ich von ihr hörte.
„Du musst dich nur festhalten“, sprach ich deswegen zu ihr, machte währenddessen die ersten schweren Schritte ins Flussbett hinein. „Dann musst du keine Angst haben.“
Ich spürte in meinem Nacken, wie sie nickte und stampfte weiter. Natürlich wäre es einfacher gewesen, wenn ich kein Gewicht zu tragen gehabt hätte, doch ich war mir ganz sicher, ich würde sie auf die andere Seite bekommen. Es waren gute zwanzig Meter, die wir zurücklegen mussten, um das feste Ufer zu erreichen, es blieb uns gar nichts anderes übrig, außer es einfach durchzustehen.
„Scheiße, ist das kalt!“, rief Walt, der etwas weiter weg von mir lief. Er war kleiner als ich, deswegen stand er tiefer im Wasser. „Ich schwöre bei Allem was mir heilig ist, das war der letzte Fluss, den ich durchquere!“
„Dann wirst du leider ersaufen, du arme Sau!“, schrie ein anderer, der sich genauso angestrengte wie wir nach vorne kämpfte. Ihm schlug ein Ast gegen die Hüfte und er wütete auf. „Ich hasse es!“
Ich versuchte einen festen Stand zu kriegen und drehte meinen Kopf leicht nach hinten zu meinem menschlichen Gepäck. „Alles okay?“ Sie nickte, weswegen ich mich traute, noch ein bisschen weiter nach hinten zu schauen, um zu sehen, wie James, der hinter mir lief, vorankam.
Annemarie krallte sich an seinen Arm fest und versuchte mit ihm Schritt zu halten. Es fiel ihr sichtbar schwer, aber James würde sie bestimmt gut rüberbringen. Er würde nicht zulassen, dass sie abrutschte. Ich fluchte leise vor mich hin, weil das Wasser drohte meine Beine wegzureißen. Der Regen, der mir währenddessen ins Gesicht peitschte, erleichterte das Laufen nicht sonderlich, aber wir waren jetzt drin, und mussten es schaffen. Wir mussten ans andere Ufer kommen.
Die Minuten vergingen wie Stunden, bis wir endlich auf der anderen Seite ankamen und ich mich an einer Wurzel festhalten konnte, die aus der Uferböschung ragte. Mir wurde von Javad das Mädchen vom Rücken gehoben und ich wollte gerade nach oben steigen, als ich aus den Augenwinkeln sah, wie kämpfte, um das Ufer zu erklimmen.
Theo rutschte ständig auf dem Matsch des Abhanges ab und die anderen waren mit sich selbst beschäftigt.
Deswegen stieg ich schnell nach oben und kniete mich vor ihn hin, reichte ihm die Hand entgegen. Er aber presste verbissen und stur die Lippen aufeinander, und ging auf mein Hilfsangebot überhaupt nicht ein.
„Los, komm schon! Greif zu!“
„Mach dich ab!“, brüllte er zurück und versuchte es erneut aus eigener Kraft, rutschte aber zum wiederholten Mal ab. „Ich brauch deine Hilfe nicht!“
„Was ist nur, verdammt nochmal, los mit dir?“, fragte ich laut und zog meine Hand zurück. „Glaubst du, das hier ist der Richtige Zeitpunkt für so eine Scheiße?“
Theo hörte auf, es zu versuchen und starrte mich böse an, währenddessen klammerte er sich an dem Uferbewuchs fest. „Es ist nie der richtige Zeitpunkt, schon gemerkt?“ Ihm klatschte eine heftige Wasserflut gegen die Seite, worauf er fast den Halt verlor, sich aber gerade so noch festkrallen konnte. „Es ist immer falsch, wütend zu sein, es ist immer oberfalsch, das zu sagen, was ich denke! Und fühle! Etwas, das du schon verlernt hast!“
Ich wollte nach seinem Ärmel greifen, weil ich merkte, wie seine Finger abrutschten, aber er nahm ihn zurück. Deswegen rutschten meine Knie nach hinten und schon lag ich mit dem Bauch im Matsch. „Man, lass den Mist! Was willst du von mir?“
„Das würdest du nicht verstehen, selbst wenn ich es dir sagen würde!“ Wieder versuchte Theo sich hochzuhieven, doch es gelang ihm nicht. Er lehnte sich einfach kraftlos an den Hang und ließ den Kopf hängen. „Geh einfach! Ich komme klar!“
Zornig presste ich die Lippen aufeinander und ergriff einfach den Kragen seiner Jacke, noch bevor er sich wehren konnte. Mit einem kräftigen Hieb zerrte ich ihn den Hang nach oben und ließ ihn wie einen nassen Sack auf den Boden fallen. Ich stand auf, als er zu husten begann und sich auf die Ellenbogen stemmte. „Willst du sterben?“, fragte ich ihn. „Willst du, verdammt nochmal, sterben? Wenn du denkst, dass du mit so einer Aktion irgendetwas bezwecken kannst, dann liegst du falsch! Rede, wenn du mir was zu sagen hast und führ dich nicht auf wie ein gottverdammtes Kind, verstanden?“
Theo stemmte sich auf die Knie und Hände und keuchte vor Anstrengung. Er war klatschnass. „Was würde das noch für einen Unterschied machen?“, hörte ich ihn leise sagen, dann fesselte etwas anderes meine Aufmerksamkeit.
James, der bereits auf der Wiese war, kniete am Ufer, um Annemarie nach oben zu ziehen und schrie ihr zu: „Das geht nicht mehr! Du musst es zurücklassen!“
„Ich kann nicht!“, wehrte sie sich und versuchte ihren Arm aus seinem Griff zu ziehen. „Du verstehst das nicht!“
„Annemarie, das ist gefährlich! Du bist alleine!“ Wieder wollte er sie nach oben ziehen, doch sie schaffte es, ihren Arm zu befreien, stolperte dadurch aber nach hinten ins Wasser.
Ich riss die Augen auf, als ich ungläubig beobachtete, wie sie sich umdrehte und wieder ins tiefere Wasser watete.
Ohne viel darüber nachzudenken, ging ich zu James, der ihr immer noch kniend, verzweifelt hinterher sah. Auch andere Männer wurden aufmerksam auf sie und sahen zu, wie sie sich durch die Fluten kämpfte, immer wieder weggerissen wurde, aber nicht aufgab.
„Was zur Hölle tut sie da?“, fluchte ich verärgert und beobachtete, wie sie sich die Haare gehetzt aus dem Gesicht wischte.
„Versteh einer die Frauen! Sie hat ihr Haarband verloren“, erklärte James mir und hielt sich die Hand an die Stirn. „O Mann, sie wird sich umbringen!“
Ich atmete tief durch und presste den Kiefer aufeinander. Sie hatte ihr elendiges Haarband verloren?
Ich musste mich zusammenreißen, um nicht loszubrüllen, so zog ich mir die Jacke, die mich eh nur stören würde, von den Schultern.
„Was hast du vor?“, fragte mich Walt, der erschöpft in der Wiese saß.
„Was glaubst du denn?“, gab ich die Gegenfrage und sprang den kleinen Hang hinunter, direkt ins Wasser. Wegen eines gottverdammten Haarbands!
Walt schrie mir noch etwas hinterher, doch ich verstand ihn nicht mehr, da das Rauschen des Wassers noch lauter zu sein schien, als vorher. Es donnerte und blitzte und es war ein Wunder, dass ich Annemarie noch an der Oberfläche sehen konnte und sie nicht schon längst ertrunken war.
„Hey!“, schrie ich zu ihr, damit sie endlich damit aufhörte, sich von mir zu entfernen. Ich wich einem treibenden Ast aus und kämpfte mich ihr immer näher.
Sie krallte sich an einen Baumstamm, der sich im Wasser verkeilt hatte und sah zu mir zurück. „Es tut mir leid!“, rief sie mir zu. „Ich kann es nicht zurücklassen, ich brauche es!“
Wenn du tot bist, wirst du es auch nicht mehr brauchen, dachte ich mir, behielt es aber für mich.
Ein bescheuertes, verdammtes Haarband!
Der Abstand zwischen Annemarie und mir betrug nicht mehr als fünf Meter. Ich spürte, wie meine alte Schnittwunde an der Hüfte schmerzte, durch den massiven Druck, der auf mir lastete, doch das musste warten, bis sich James darum kümmern konnte. Ich musste sie hier rausbekommen, ob sie wollte oder nicht. Mit Haarband oder ohne.
Ich kam an dem Stamm an und hielt mich an einem der Aststumpen fest. „Zieh dich an dem Holz zu mir!“
Sie jedoch schüttelte den Kopf, was mich beinahe verrückt werden ließ. „Ich kann nicht! Mein Haarband klemmt hier fest!“
Mein Griff an dem Stamm wurde fester, weil ich ungeduldig er wurde. „Das ist irre! Komm sofort zu mir und lass dieses Band los!“
Für ein paar Sekunden sah sie mich noch an, ich dachte, sie würde zur Vernunft kommen, doch Annemarie tat das genaue Gegenteil. Sie zog sich weiter an dem Stamm von mir weg und versuchte immer wieder ihr geliebtes, gottverdammtes Haarband aus dem Holz zu befreien.
„Annemarie!“, schrie ich noch einmal und kam ihr einen Schritt näher. „Lass diesen Dreck, dafür haben wir keine Zeit!“
„Ihr versteht mich alle nicht!“
Eine Sekunde danach wurde ich durch die unerwartete Kraft einer Welle, mit der verletzten Seite gegen ein gesplittertes Stück des Baumstamms gehauen.
Der stechende Schmerz ließ meinen Atem kurz aussetzen und ich schloss für einen Moment die Augen. Diese Schnittwunde brächte mich noch um, wenn wir nicht sofort aus dem Wasser verschwinden würden.
Ich richtete mich wieder auf, formulierte für mich den nächsten Befehl, den ich diesem sturen Mädchen zu schreien wollte, würde, als der Baumstamm plötzlich rutschte und einen halben Meter von der Strömung verschoben wurde. Ich konnte mich noch geradeso daran festhalten.
Annemarie kreischte auf und krallte sich vor Schreck fester an das Holz.
Nun wurde es gefährlicher. Sollte der Stamm der Flut nicht mehr standhalten, könnten wir mit samt dem Holz flussabwärts geschwemmt, oder gar unter Wasser gedrückt werden, vor allem, weil ich nicht das Gefühl hatte, dass die Strömung sanfter wurde. Es war nur eine Frage der Zeit.
„Komm jetzt endlich zu mir!“, brüllte ich und diesmal aggressiver. „Ich werde hier bestimmt nicht wegen dir ertrinken!“
„Ich hab es!“, rief Annemarie zurück und das rote Haarband kam zum Vorschein, das sie sich sofort um ihr Handgelenk wickelte. „Ich hab es!“
Ich hasste dieses gottverdammte Haarband.
„Beeilung!“, drängte ich sie und hielt ihr meine Hand entgegen. „Wir sind –„
Ein weiterer Ruck des Stammes, der mit der Strömung rutschte, unterbrach mich und ich brauchte wieder beide Hände, um mich daran festzuhalten.
„John!“, schrie Annemarie und zeigte mit dem Finger gegen die Fließrichtung. Mein Blick folgte ihrem Arm. „Da!“ kreischte sie, durch den Regen.
Ich wusste sofort, was sie meinte. Ein abgebrochener Baum kam uns querliegend entgegen, und er würde uns sicher treffen, wenn wir uns nicht augenblicklich in Sicherheit brächten.
Wir durften keine Zeit mehr verlieren, deswegen streckte ich ihr wieder meine Hand entgegen. „Los, wir müssen sofort hier weg!“ Es fiel mir sogar schwer, den Arm geradeaus nach oben zu halten, die Wunde nahm mir zwar die Kraft, aber der Schmerz wurde durch das eiskalte Wasser, eingefroren.
Annemarie wollte nach meiner Hand greifen, doch wieder bewegte sich der Stamm, an den wir uns klammerten, ein Stück mit der Strömung. Sie schrie und ich wurde immer nervöser.
Nur noch kurze Zeit, dann würde uns dieser schwimmende Rammbock treffen.
„Nimm sie endlich!“, brüllte ich deswegen und hielt ihr weiter die Hand hin.
Annemarie fiel es schwerer, als mir, den Arm auszustrecken und sich gleichzeitig festzuhalten, deswegen brauchte sie ein paar Sekunden. Entscheidende Sekunden, die unser Leben riskierten, denn die Gefahr raste auf uns zu.
„Du packst das!“, ermutigte ich Annemarie und sie sah mir in die Augen. Es ist verrückt, was einem in solchen Momenten durch den Kopf schießt. Ich habe sie angesehen und mir fiel auf, wie hübsch sie eigentlich war und fragte mich, ob die Feuchtigkeit auf ihren Wangen, wohl Tränen waren, oder vielleicht doch Wasser. „Komm schon!“
Der Baum würde uns jeden Moment umbringen!
„LOS!“
Danach ging alles ganz schnell. Annemarie ergriff meine Hand und ich zog sie mit aller Kraft zu mir, stieß mich von dem Baumstamm ab, ließ mich einfach zurück ins Wasser fallen und mittragen, während ich das Mädchen so eng wie ich konnte an meine Brust drückte.
Unter Wasser hörte ich den mörderhaft lauten Schlag, als der Baum auf den Stamm prallte und sah zu, wie Stamm samt Baum, fortgetrieben wurden.
Ja, dieser Aufprall hätten unseren Tod bedeutet.
Allerdings schwammen auch wir mit den Köpfen mal über, mal unter Wasser. Deshalb stieß ich mich am Grund ab, um zur Wasseroberfläche zu gelangen.
Annemarie, die ihre Arme um meinen Hals geschlungen hatte, hustete. Immer wieder peitschte uns das Wasser ins Gesicht, weswegen das Atem holen schwer war.
Mit einem Arm drückte ich das Mädchen an mich und mit der anderen ergriff ich eine Wurzel, die aus dem Hang am Ufer herausragte, damit wir nicht weiter mitgezogen wurden. Es war schwer uns beide zu halten, doch in solchen Situationen mobilisieren sich Kräfte, die man nicht einmal ahnt.
Da unser Kampf vom Ufer aus beobachtet wurde, mussten wir nur noch darauf warten, bis sie uns rauszogen.
Ich ergriff das Seil, dass zu uns herunterbaumelte, band es um meine Taille, um Annemarie nicht loslassen zu müssen und war erleichtert, als die Kameraden uns an Land zogen.
Wir rutschten eng aneinander festhaltend, über die Böschung nach oben und schon lagen wir im Uferschlamm. Pitschnass und zitternd presste ich Annemarie immer noch auf meinen Körper. Einige Decken wurden über uns geworfen, Stimmen redeten aufgeregt durcheinander und der Regen schien kein Ende zu nehmen. Ich richtete meinen Oberkörper langsam auf, bemerkte, dass meine Seite elendig schmerzte und das Mädchen auf meinem Bauch, rollte sich zusammen wie ein Embryo. Die Hände hatte sie in mein Shirt gekrallt, das Gesicht an meine Brust gedrückt. Ihre Schultern zuckten. Sie weinte also doch.
Was sollte ich jetzt mit diesem heulenden Elend anfangen? Ich konnte sie unmöglich trösten, immerhin hatte sie sich selbst in solch eine gefährliche Situation gebracht. Aber als sie so weiter schluchzte, dachte ich daran, dass ihr Weinen vielleicht mehr galt, als der Tatsache, dass sie eben fast das Zeitliche gesegnet hatte.
Die Männer hatten sich nach unserer Rettung, wieder ihren eigentlichen Aufgaben zugewandt, und es tat gut, einfach ein bisschen Ruhe zu haben. Ich wickelte sie fest in eine der Decken ein, damit sie sich nicht noch eine Lungenentzündung holte. Unauffällig versuchte ich in ihr Gesicht zu schauen, doch das war weiterhin nach unten gerichtet.
Meine Gedanken kehrten zu Major Pepper zurück, der mir einmal, als wir zusammen einen Kaffee tranken, von den Dorners erzählte. Es war nicht sonderlich viel, was ich wusste, aber es war klar, dass unser Kommandant, Major Pattons, noch eine Rechnung mit Annemaries Vater offen hatte. Pepper meinte, dass Pattons wohl unglaublichen Hass gegen Dorner hegte. Von den Mädchen hat er nicht viel erzählt, warum auch? Niemals wäre mir in den Sinn gekommen, dass ich einmal im Leben dieser Mädchen, eine Rolle spielen würde, aber das Schicksal hat seine Strippen gezogen und so hielt ich Annemarie Dorner im Arm, während sie etwas ähnliches wie Beistand bei mir suchte. Dennoch, niemand in unserer Truppe wusste, was ich über Dorner wusste, und so sollte es auch bleiben.
Schließlich wurde mir klar, dass sie wohl gerade hunderte Gründe hatte zu weinen.
So strich ich ihr vorsichtig nasse Haar aus dem Gesicht und flüsterte: „Ich halte dich, … keine Angst. Ich halte dich fest.“