Читать книгу Nell Gwyn - Charles Beauclerk - Страница 11

Kapitel 6

Оглавление

Sterne in ihren Augen

Im Schauspiel hat man sie dann graduiert,

wie’s an der Universität passiert.

Dort wird erst Doktor, wer Magister war,

hier steht vor Bühnenglanz das Hurenjahr.

»A Satyr« (1677)

Nell kann nicht länger als ein Jahr als Orangenmaid gearbeitet haben, denn bereits im November 1664 war sie für die Rolle in Tom Killigrews verwickeltem Zweiteiler Thomaso, or The Wanderer vorgesehen, einem Stück, das später von Nells Freundin Aphra Behn zu einer spritzigen Komödie umgeschrieben wurde. In der Liste der Schauspieler und ihrer Rollen hatte Killigrew den Namen »Nelly« neben den Part der »Paulina, eine hochkarätige Kurtisane« gesetzt. Letztendlich wurde das Stück aber wohl gar nicht aufgeführt, und das mögliche Bühnendebüt der vierzehnjährigen Nell Gwyn musste verschoben werden.

Doch bereits im April des folgenden Jahres war der Name Nell, zumindest bei den Theaterbesuchern, ein Begriff. Pepys hatte sich Lord Orrerys Stück Mustapha im Duke’s House angesehen, doch es hatte ihn nicht sonderlich begeistert. Aber zum Glück gab es noch andere Dinge, die ihn für die Enttäuschung entschädigten. »Das ganze Vergnügen des Stückes lag darin«, berichtet er, »dass der König und Lady Castlemaine ebenfalls anwesend waren; außerdem saßen die hübsche und gewitzte Nell vom King’s House sowie die junge Marshall [d.h. Beck] neben uns, was mich höchst erfreute.«

Nell muss wirklich eine begabte Komödiantin gewesen sein, um so rasch voranzukommen; andernfalls hätte sich Charles Hart vermutlich auch gar nicht mit ihr abgegeben, denn er war ein ausgesprochener Profi und bekannt als sehr anspruchsvoll. Ihr Mutterwitz und die Schlagfertigkeit, die sie sich in ihrem früheren Leben erworben hatte, verschufen ihr einen natürlichen Vorteil, denn in einer Ära, in der nur so wenig Zeit für Proben blieb, war die Kunst des Improvisierens eine wichtige Gabe. Außer der Fähigkeit, aus dem Stegreif zu deklamieren, war noch etwas anderes bemerkenswert an Nell, nämlich ihr Aussehen. Die berühmten Schauspielerinnen von damals werden fast ausnahmslos als schwarzhaarige Schönheiten gepriesen mit glühenden – den Betrachter zum Schmelzen bringenden – dunklen Augen, die man gerne mit reifen Schlehen oder Kohlen verglich. Nell bildete eine Ausnahme, denn ihr Haar war rot und ihre Augen braungrün. Zu einer Zeit, in der so viel Wert auf die äußere Erscheinung und die Persönlichkeit der Schauspielerin gelegt wurde, stach sie mit ihrem Aussehen von den anderen sofort ab.

Nells Beziehung zu Charles Hart war für sie in zweifacher Hinsicht von Vorteil. Nicht nur genoss sie eine Art von Privatunterricht, für den andere aufstrebende Schauspieler ihr Leben hingegeben hätten, sondern ihr blieben auch all die Schuldenmacherei und die Unannehmlichkeiten erspart, die das Los der meisten ihrer Kollegen bestimmten. (Wenn wir den Memoirs of the Life of Eleanor Gwinn [1752] glauben, dann hat Hart Nell angeboten, seinen Verdienst mit ihr zu teilen, ganz so, als wären sie Mann und Frau.) Sie wurde wahrscheinlich ebenfalls davor bewahrt, sich den üblichen Ausschweifungen hinzugeben. Das Schauspielergewerbe war ein schlecht bezahlter Beruf, der harte Arbeit erforderte, und nur allzu oft setzten die Schauspieler ihren Lohn in Alkohol um. Und da Nell weder lesen noch schreiben konnte, musste Hart ihr die Rollen entweder vorsprechen oder aber ihr das Lesen beibringen.

Die Spielzeit dauerte von September bis Juni, und in diesen neun Monaten konnten mehr als fünfzig verschiedene Stücke auf dem Spielplan stehen. Die Schauspieler arbeiteten sechs Tage in der Woche, von Montag bis Samstag, und der Sonntag war wahrscheinlich dem Einstudieren neuer Rollen vorbehalten. Die Proben begannen gewöhnlich um zehn Uhr morgens und dauerten, mit einer mittäglichen Unterbrechung, manchmal bis zum Beginn der Aufführung um drei Uhr nachmittags. Nach dem letzten Vorhang wurden die Darsteller und Darstellerinnen von ihren Bewunderern zum Abendessen mit anschließendem Vergnügungsprogramm ausgeführt, und diejenigen, die weniger im Rampenlicht standen, trafen sich abends in einer der nahe gelegenen Schenken und betranken sich. (Das »Rose« in der Russell Street war eine der Lieblingsadressen für Schriftsteller und Schauspieler.) Autoren, Theaterleiter und auch ältere Mimen beschwerten sich häufig darüber, dass Mitglieder der Truppe völlig verkatert zur morgendlichen Probe erschienen. Tauchten sie überhaupt nicht auf, konnte ihnen als Strafe ein Wochenlohn gestrichen werden. Gelegentlich waren auch noch abends nach der Aufführung Proben angesetzt, doch diese dienten eher der Einstudierung von Liedern und Tänzen; sie boten dem Theaterleiter außerdem die Gelegenheit, technische Probleme, etwa mit den Kulissen oder den Bühnenapparaten, zu beheben. An einem hektischen Tag folgte auf die Nachmittagsvorstellung auch schon noch einmal eine Aufführung in Whitehall.

Ebenso wichtig wie die gemeinsamen Proben in der Gruppe, wenn nicht sogar noch wichtiger, war das private Rollenstudium, bei dem der Schauspieler allein oder mithilfe eines Lehrers an der Ausgestaltung seines Parts arbeitete. Richtige Ensembleproben, so wie wir sie heutzutage kennen, gab es, abgesehen von der anfängliche Vorstellung des Stückes durch den Autor und der letzten bzw. der Kostümprobe, eigentlich nur wenige. Das Hauptgewicht lag auf den einzelnen Rollen, das Stück als Ganzes war nicht so wichtig. Deshalb wurden die Darsteller und Darstellerinnen auch sehr rasch mit bestimmten Rollen identifiziert, und das Publikum forderte von ihnen, diese Rollen in allen Nuancen auszuspielen, unabhängig davon, ob eine solche Art der Darstellung zum Charakter des Stückes passte oder nicht. Diese Haltung machte die Hauptdarsteller sehr schnell zu Stars, und von denen erwartete man dann, dass sie sich auf der Bühne auch als solche gebärdeten und dem Ruf, in dem sie standen, gerecht wurden. Mrs Pepys, die ihren Hund nach dem berühmten Mimen »Betterton« genannt hatte, besuchte das Theater nicht etwa um eines bestimmen Stückes willen, nein, sie wollte einzig und allein ihren Lieblingsschauspieler sehen.

Bedenkt man, dass bis zu drei Stücke innerhalb einer einzigen Woche aufgeführt werden konnten, fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, wie sehr der Schauspieler vom persönlichen Rollenstudium in Anspruch genommen wurde und welch eine Gedächtnisleistung das von ihm erforderte. Wen wundert es da noch, dass man in den Straßen von Covent Garden Schauspielern und Schauspielerinnen begegnen konnte, die ganz versunken vor sich hin murmelten oder gestikulierten. Über den Schauspieler Jack Verbruggen erzählt man sich folgende Anekdote: Er ging eines Morgens hinaus auf die Felder am Londoner Stadtrand, um eine Tragödie einzustudieren. Drei Straßenräuber fanden ihn, wie er wild um sich schlug, mit den Augen rollte, den Blick gen Himmel gewandt, und irgendeinem imaginären Gegner entgegenschrie: »Ich mache Euch keinen Vorwurf!« Sie hielten ihn für geistesgestört, er tat ihnen leid und sie baten ihn inständig, sich nichts anzutun. Als der tobsüchtige Mime ihnen allerdings offenbarte, er sei doch nur dabei, seine Rolle zu lernen, änderten sie ihre Meinung und beraubten ihn seiner ganzen Barschaft.1

Verbruggen war damals eine Berühmtheit, und bei ihm gab es etwas zu holen. Die meisten Schauspieler allerdings lebten von der Hand in den Mund, durften aber wenigstens, da sie in den Diensten des Königs oder des Herzogs von York standen, nicht verhaftet werden, wenn sie sich verschuldeten. Sie führten ein Leben am Rande der Londoner Unterwelt. Neulinge mussten eine dreimonatige Probezeit absolvieren, während der sie überhaupt keinen Lohn erhielten. Wurde eine Schauspielerin danach angenommen, bekam sei ein Anfangssalär von zehn bis fünfzehn Schilling wöchentlich und damit erheblich weniger als ein männlicher Kollege. Fünfzehn Schilling, so viel musste man zur Zeit der Restauration in London für ein Paar seidene Strümpfe bezahlen. Eine erfahrene Schauspielerin verdiente dreißig Schilling in der Woche – der Preis für ein Paar Stiefel, und die Topstars, wie Elizabeth Barry und Susanna Verbruggen, brachten am Ende der Woche fünfzig Schilling nach Hause, das entspricht ungefähr 200£ heute. Die attraktiven Schauspielerinnen konnten jedoch noch mit Aufbesserungen rechnen, denn ihre Bewunderer schenkten ihnen prachtvolle Kleider, auf der Bühne und danach zu tragen, beehrten sie mit Schmuck und Spitzen und führten sie zum Abendessen aus.

Für die Inszenierungen in der Drury Lane waren zu Nells Zeiten Tom Killigrew, John Dryden sowie dessen Schwager Sir Robert Howard zuständig. Howard und Killigrew waren die wichtigsten Anteilseigner am Theatre Royal, ihnen gehörten zusammen fünfzig Prozent, wohingegen Howard und Dryden die wichtigsten Dramenautoren waren. Beide schrieben sie wundervolle Rollen für Nell, insbesondere Dryden, der ihr komisches Talent ganz besonders schätzte. Alle drei wurden ihre Freunde und Bewunderer. Sir Robert fungierte später als ihr Treuhänder und half ihr bei der Regelung ihrer finanziellen Verhältnisse.

Howard war ein begabter, humorvoller Stückeschreiber, ein Mann von außergewöhnlich vielseitigem Interesse, der von der Nachwelt ungerechterweise schlechtgemacht und verleumdet wurde. Schuld daran war zum großen Teil Shadwell, der ihn in seinem Stück The Süllen Lovers (1668) in der Figur des Sir Positive At-All karikiert hatte. Es ist dies das lächerliche Porträt eines sein umfassendes Wissen herauskehrenden Besserwissers, mit dem er Howard über Nacht zur Zielscheibe des Spotts in der literarischen Welt machte. Noch 1685, also siebzehn Jahre nach dem Erscheinen des Stückes, schrieb Evelyn in sein Tagebuch: »Bei Sir Robert Howard, Prüfer im Schatzamt, zu Abend gegessen, ein Mann der vorgibt, sich in allen Künsten und Wissenschaften auszukennen, weshalb er ja auch als Sir Positive zum Gegenstand der Komödie wurde; kein übler Bursche, aber ein unerträglicher Aufschneider.« An anderer Stelle nennt er ihn einen »universalen Prahlhans«.

Howard hatte eine Affäre mit der Schauspielerin Susanna Uphill, die, wie man sich erzählte, sein ganzes Geld ausgab und ihn dann doch nicht heiraten wollte. In einer Satire aus der Zeit wird sie als »Sir Pos’ gemeines Weibsbild« bezeichnet, und Shadwell verhöhnt sie als Lady Vaine, »eine Hure, die sich Lady nennt«. Zu guter Letzt ehelichte Howard statt Ihrer ihre Verwandte Mary Uphill. Zwei seiner Brüder schrieben ebenfalls Theaterstücke, James Howard, der Autor von All Mistaken, or The Mad Couple, einem Stück, in dem Nell einen ihrer ersten Triumphe feierte, und Edward Howard. Ein vierter Bruder, Oberst Thomas Howard, der spätere Earl von Berkshire, soll der Vater der Schauspielerin Moll Davis gewesen sein, die es bis zur Mätresse des Königs brachte. Wie die Killigrews waren auch die Howards eine große, exzentrische Familie von Schriftstellern.

John Dryden dagegen war Schriftsteller von Beruf und angestellt, um der King’s Company gegen Zahlung eines Honorars drei Stücke jährlich zu liefern. Sein wirkliches Genie bestand eigentlich im Verfassen satirischer Verse (1668 wurde er Poeta laureatus), aber dennoch zog ihn das Theater unwiderstehlich an, und er schuf eine neue Form des englischen Dramas, die sogenannten »Heldendramen«. Das Theater verhalf Dryden auch dazu, seinen Wunsch nach literarischem Ruhm und gesellschaftlichem Aufstieg zu erfüllen, allerdings zu einem sehr hohen Preis: Er wurde zur Zielscheibe unerbittlichen Spotts, ganz besonders in der Figur des Mr Bayes in der Komödie des Herzogs von Buckingham The Rehearsal. Dennoch genoss er wirkliche Berühmtheit. Er war unumstritten der literarische Mittelpunkt in Will’s Coffee House, wo er von seinem ihm vorbehaltenen Sessel am Kamin aus aufstrebenden Autoren geistreiche Ratschläge gab.

Drydens Achillesferse war sein Neid auf die Höflinge und die Gentlemen, die nur zu ihrem Zeitvertreib schrieben. Zu gerne wäre er selber einer dieser Höflinge gewesen, und er sehnte sich danach, bei Hofe akzeptiert zu werden; doch obwohl er immer wieder einmal mit Leuten vom Hof befreundet war und obwohl mit Lady Elizabeth Howard verheiratet, wurde er dennoch nie in diesen illustren Kreis aufgenommen. In mancherlei Hinsicht stand er zwischen den beiden Welten der professionellen Schriftsteller und der vornehmen Laienpoeten. Natürlich versuchte er, sich ständig selber zu beweisen, indem er seine Rolle und seine Stellung in der Literatur immer wieder aufs Neue definierte. Doch so eitel, verdrießlich und dogmatisch, wie er war, war er vielleicht zu sehr auf seinen Ruf bedacht, um wahrhaft groß zu sein.

Er und Sir Howard verfassten gemeinsam ein Stück mit dem Titel The Indian Queen, das im Januar 1664 uraufgeführt wurde und mit dem die Zeit des neuen Heldendramas eingeläutet wurde. Diese neuen Stücke waren stark beeinflusst durch die klassischen französischen Tragödien von Corneille (1606–1684) und hatten den Konflikt von Ehre und Leidenschaft zum Thema, allerdings in völlig übertriebener Form. Der Rahmen für die Dramen war exotisch, und auf der Bühne stolzierten die Helden – Indianerfürsten und -fürstinnen –, in knallig bunten Kostümen und mit Federschmuck auf dem Kopf einher, wie Gockelhähne, die mit ihrem Krähen den Anbruch eines neuen Tages ankündigen. Und es brach ja wirklich ein neues Zeitalter an, eine Ära, in der das Individuum immer mehr in den Mittelpunkt rückte. Dieser Bewusstseinswandel zeigte sich im Drama darin, dass die Sonne, vor allem in Gestalt der Sonnenkönige und Sonnengötter Nord- und Südamerikas, auf vielfältige Weise personifiziert wurde. In The Indian Queen ist der Inka von Peru der große Sohn der Sonne auf Erden, und in The Indian Emperor nennt Montezuma die Sonne »meinen Vater«, der ihm das Leben geschenkt hat und ihn im Tod auf seinen Strahlen heimholen wird.

Eigentlich nimmt es nicht wunder, dass in einer so auffallend unheroischen Epoche, einer Zeit, in der Zynismus und Realpolitik angesagt waren, solch extravagantes Heldentum auf der Bühne Triumphe feierte. Samuel Butler schrieb, dass »kein Zeitalter jemals mehr an derartigen Bildern (wie man sie nennt) für Moral und Heldentum besaß und doch dabei in seiner ganzen Lebensart und seinen Sitten selber das genaue Gegenteil darstellte«. Mit ihrer nicht gerade überzeugenden Definition von Ehre demaskiert die Indianerkönigin Zempoalla selber diese Art von Heldentum, und ihre Worte wurden von den Galanen am Hofe Charles’ II. sehr wohl verstanden:

Ehre ist nichts als Juckreiz jungen Blutes:

»Kommt, tun wir etwas extravagant Gutes!«

Wenn es zutrifft, dass die Seele des Menschen stets nach Ausgewogenheit und Ausgleich strebt, dann bildete die Vorliebe der Restaurationszeit für dieses süßlich exaltierte Heldentum das passende Gegengewicht zu den in der Gesellschaft herrschenden zynischen und merkantilen Tendenzen. Im Vorwort zu seinem Stück Juliana (1671) lobt John Crowne den Verfasser von Heldendramen Roger Boyle, Earl von Orrery, mit folgenden Worten: »Letztendlich ist es Eure Lordschaft, die den Geist so vieler edler Helden wieder heraufbeschworen hat, die sonst unbetrauert in ihren Gräbern ruhen würden; aber auf der Bühne erschienen sie strahlender als jemals zuvor zu ihren Lebzeiten ...« Auf der Bühne mögen die feinen Herren Gefallen an der Ehre gefunden haben, im wirklichen Leben aber machten sie sich wenig daraus. Prinz Rupert und seine Mithelden aus dem Bürgerkrieg waren für die neue Generation intelligenter, zynischer junger Männer nur noch Witzfiguren.

Die neue Begeisterung für das Heldenhafte auf der Bühne führte dazu, dass es nur noch wenige Rollen für die niederen Stände gab, denn die waren ja vom Begriff der Ehre ausgeschlossen. Das Theater war nichts weiter als ein kuscheliger Ort, an dem sich die oberen Klassen der Nostalgie hingeben konnten, es war der letzte Traum vom untergegangenen Rittertum, das sich hier im Glanz grellbunter Farben noch ein allerletztes Mal erhob. Das Exotische war zu neun Zehnteln falsche Leidenschaft, hatte man es doch mit nichts anderem zu tun als mit einem zynischen, wollüstigen Klüngel, der selber nur in geringem Maße über wahre eigene Gefühle verfügte. Das war ganz sicher auch der Grund, weshalb Nell Gwyn das Heldendrama nicht ausstehen konnte, obwohl auch sie um ihrer Karriere willen gezwungenermaßen dabei mitwirkte. Pepys brachte sie an den Rand der Verzweiflung, wenn sie ihre tragischen Rollen verhunzte, doch Nell selber sagt im Epilog zu Robert Howards Duke of Lerma:

Der Dichter heute hat uns schlimm behandelt.

Wir zieh’n an einem Strick. Ich weiß, Sie wollen

kein ernstes Stück; ich hasse ernste Rollen!

Die Darstellung tragischer Rollen verlangte die Einhaltung einer ganzen Reihe von Regeln. Für die unterschiedlichen Gefühlslagen waren Tonfall, Gestik und Gesichtsausdruck genau vorgeschrieben, alles war äußerst stilisiert, und dadurch wirkte das Ganze viel bedeutungsvoller – und gekünstelter – als in der Komödie, in der man sich meistens an die Sprache und die Gesten des ganz normalen Alltagslebens hielt. In der Tragödie war nicht das Gefühl an sich wichtig, sondern dass es entsprechend einer allgemeingültigen und professionellen Art zum Ausdruck gebracht wurde, und deshalb gab es auf der Bühne viel Getöse, verzerrte Gesichter und Händeringen. Wie John Crowne es so treffend in der Widmung zu seinem Stück Henry the Sixth (1681) formuliert: »Benimmt sich ein Schauspieler vernünftig, schläft das Publikum ein, bringt ihn eine unnatürliche Leidenschaft jedoch dazu, Grimassen zu schneiden und zu schreien, als erleide er gerade einen Anfall, dann wacht es sofort auf, hört zu und ist gebannt.« Hamlet wäre in seinem Innersten verletzt gewesen (»Oh, es ärgert mich in der Seele, wenn solch ein handfester haarbuschiger Geselle eine Leidenschaft in Fetzen, in rechte Lumpen zerreißt, um den Gründlingen im Parterre in die Ohren zu donnern ...« Hamlet, III, 2), Nell hingegen hat vermutlich nur mit Mühe ihr Kichern unterdrücken können.

In der Komödie durfte Nell sich viel freier ausdrücken, nicht nur, weil der Stil ein sehr natürliches Spiel verlangte, sondern auch weil ein großes Maß an Improvisation und Geplänkel mit dem Publikum dazugehörte. Wie viele berühmte Schauspieler und Schauspielerinnen ihrer Tage spielte Nell auf der Bühne weit mehr als nur ihre Rolle – sie spielte sich selber. Vor allem die Pro- und Epiloge boten Gelegenheit, die Zuschauer ins Vertrauen zu ziehen und ein Stück weit ihr eigenes Wesen zu offenbaren. Im Nachwort zu Drydens Tyrannick Love z.B., einem Stück, in dem sie sich von eigener Hand erdolcht, erinnerte Nell ihre Bewunderer daran, dass sie alles andere war als eine tugendhafte römische Prinzessin, sondern vielmehr der Inbegriff des Schalks. Mit anderen Worten, sie versicherte ihnen, dass die Person, die sie gerade auf der Bühne gesehen hatten, in Wirklichkeit immer noch quicklebendig und quietschvergnügt war. Der Epilog verdient es, in voller Länge zitiert zu werden:

Geneigte Gentlemen, ’s ist offiziell:

Ich bin der Geist der armen toten Nell.

Ein Teufelchen, ganz harmlos; denn so schnell

bekehrt der Tod mich nicht. Das Nachtgespenst

ist ganz dieselbe, die du lebend kennst.

Auf Erden spielte ich auf dem Theater,

jetzt komödiere ich im Höllenkrater.

Gespenster gibt es nicht, ihr Kavaliere?

Wartet, bis ich Euch nachts im Bett vexiere!

Oh, meiner Treu, Ihr glaubt an manche Sachen,

wenn ich erscheine, zwischen Schlaf und Wachen ...

Doch Hand aufs Herz: Ich spuke nur so viel,

weil man mich umgebracht im Trauerspiel.

Ein Liebestod, du dümmlicher Skribent?

Welch blöde Rolle, wenn man Nelly kennt!

Und das dann grad an Ostern zu versuchen,

wenn’s Törtchen gibt und schöne Käsekuchen?

Ich nehm’ ihn nicht in Schutz, den Galgenstrick,

für sein verfluchtes obsoletes Stück.

Wer das nur zweimal anzuschauen schafft,

ist unten durch und gilt als tugendhaft.

Lebt wohl nun, Gentlemen, besucht mich dann,

wenn man sich in Gesellschaft treffen kann –

Ich schreib’ nur schnell ein Epitaph für mich,

Dichtern misstrau’ ich nämlich fürchterlich:

»Hier liegt Nell Gwyn, die große Heroine,

Im Leben Schlampe – im Tod Sankt Katherine.«2

Mit ihrer Persönlichkeit und ihrer Herkunft, ihrer Spontaneität, ihren tiefen Emotionen und mit ihrem natürlichen Drang, aus ihrer Rolle herauszutreten, hat Nell auf der Bühne sicherlich viel dazu beigetragen, den Spiegel der Eitelkeiten zu zerbrechen, zu dem sich das Theater für die feinen Herren in den 1660er Jahren entwickelt hatte. Ihre bemerkenswerte Unbefangenheit auf der Bühne, die so wenig zur Tragödie passte, erlaubte es ihr, das Bild einer neuen Art von Frau zu vermitteln: unabhängig, selbstbewusst und ausdrucksstark, einer Frau, die es genoss, kraftvoll sie selbst zu sein. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie für einen Schauspieler, dass, wie sie bewies, es weniger darauf ankam, in eine Rolle zu schlüpfen, als vielmehr sich selber darzustellen.

Dryden schrieb The Indian Emperor (auch bekannt unter dem Titel The Conquest of Mexico) als eine Art Fortsetzung von The Indian Queen, nur dass dieses Mal die Alte Welt in die Neue eindringt, denn die spanischen Kolonialisten unter Cortez kommen als die Eroberer. Wie er im Prolog schreibt: »Das Bühnenbild ist alt, auch die Kostüme sind Euch schon bekannt; wir trugen sie im vor’gen Jahr, bevor der Spanier ging an Land.« In diesem Stück vom März 1665 bekam Nell ihre erste schriftlich belegte Rolle, die der Cydaria, der Tochter des Kaisers. Dasent vermutet, diese Rolle sei sogar extra für sie geschaffen worden, weil es darin Anklänge an Herefordshire, das Land des Apfelweines, gäbe, doch meiner Meinung nach war sie noch viel zu unerfahren für eine solche Auszeichnung, und außerdem passte der Part überhaupt nicht zu ihr. Als das Stück zweieinhalb Jahre später im August 1667 wieder aufgenommen wurde, ist Pepys mit Nells Darstellung immer noch unzufrieden. »Ging nach dem Abendessen mit Lord Bruncker und seiner Frau ins Theatre Royal und sah The Indian Emperor; Nell war wieder dabei, was mich sehr erfreute; war aber höchst unzufrieden darüber, dass man sie erneut als Tochter des Kaisers besetzt hatte; das ist eine große und ernste Rolle, der sie in keiner Weise gerecht wird.« Mit anderen Worten, sie war einfach nicht dazu geeignet, heldenhafte Gefühle zu mimen.

Im Hinblick auf Nells späteren Eintritt in die Welt des Hofes ist es interessant, dass in The Indian Emperor das Aufeinanderprallen zweier Kulturen thematisiert wird, der Neuen und der Alten Welt, die eine verkörpert durch die Indianer Mexikos, die andere durch die spanischen Eroberer. Doch der spanische General Cortez, gespielt von Charles Hart, muss sich selber geschlagen geben, als ihn seine ungeheure Liebe zu Cydaria, der Tochter des Kaisers Montezuma, übermannt. Diese Rolle spielte Nell. Und genauso, wie er sich der Reize der indianischen Prinzessin nicht erwehren kann, erlag auch das London der Restauration der Fröhlichkeit und Natürlichkeit von Nell Gwyn. Der folgende Dialog zwischen Cortez und Cydaria verdeutlicht den Hauptgegensatz zwischen den beiden Kulturen.

Cort: Gut zu lieben: Darin liegt uns’re Ehre.

Cyd: Seltsamer Weg, ein Herz sich zu gewinnen! Liebe ist hier Natur; bei Euch ist Kunst darinnen.

Cort: Bei uns ist Liebe, so wie hier, Natur – Von Etikette streng gefesselt nur. In zähem Werben ewig wird geschmachtet, eh man erhört wird, wird man lang verachtet.

Diese Natürlichkeit ist das Eigentliche, was Nell mit an den Hof brachte. Unabhängigkeit ist ein weiterer Wesenszug der Cydaria, denn sie verwehrt sich dagegen, dass ihr Vater ihr denjenigen aussucht, den sie lieben soll. Auch Nell ließ sich von ihrer Liebe leiten und sprengte die Fesseln ihrer Geburt. Das Liebesthema im Stück erhielt für das Publikum noch einen zusätzlichen, besonders prickelnden Reiz, wusste doch jedermann, dass die Liebenden auf der Bühne, also Charles Hart und Nell Gwyn, auch im wirklichen Leben ein Paar waren. Kein Blick und keine Geste zwischen den beiden entging dem Zuschauer, denn das lieferte den Stoff für das Tagesgespräch.

Die Bewunderer von The Indian Emperor hielten das Stück für ein Kronjuwel des Heldendramas, und es wurde auch fünfundzwanzig Jahre lang immer wieder aufgeführt. Kritiker gab es aber ebenfalls, vor allem in den Reihen der Höflinge. Die schärfsten Angriffe gingen von John Wilmot, Earl von Rochester, aus, der darin vom Jugendfreund des Königs, George Villiers, Herzog von Buckingham, unterstützt wurde. Das Heldendrama bot diesen scharfzüngigen Satirikern ein leichtes Ziel, und so wie Hunde über einen Hasen herfallen, verrissen sie mit ihren Spottversen ganze Passagen daraus. Es spielte dabei auch eine gewisse Portion Neid mit, denn Rochester, den das Theater eigentlich faszinierte, war es selber nie gelungen, ein erfolgreiches Stück zu schreiben. Zudem besaß er eine Schwäche für Schauspielerinnen, wobei er sich keinen Deut um deren soziale Herkunft scherte. Vielleicht hat Wycherley ja Rochester vor Augen gehabt, wenn er die Mrs Squeamish aus seinem Stück The Country Wife über die feinen Herren herziehen lässt, die sich und ihr Vermögen verschwenden, nur um »kleine Theaterkreaturen auszuhalten«.

Es ist durchaus möglich, dass Nell seine erste Bühneneroberung war. Im Victoria and Albert Museum befindet sich ein langes, skurriles Gedicht, das überschrieben ist: »Ein Brief in Versen vom Earl von Rochester an Nell Gwyn« (es stammt aus einer Broschüre mit dem Titel Ein echter Brief des Earl von Rochester an Nell Gwyn, eine Abschrift des Originalmanuskripts aus der Bibliothek des französischen Königs). Die erste Zeile lautet: »Nelly, mein Leben, obwohl Ihr nun schon fünfzehn Jahre alt ...« Das Ganze ist ein lüsternes Loblied auf die noch kindliche Sexualität der Adressatin. Nell sei, so der Verfasser, obschon fünfzehn Jahre alt, noch nicht in die Pubertät gekommen, und er bietet ihr an, ihr ein ganz besonderes Rezept zukommen zu lassen, damit sie sich diesen Zustand der Unschuld noch lange bewahren könne. »Dieses Rezept«, so sagt er, habe er »auf den Inseln der Paphia gefunden, die Aphrodite sich erwählt«. Rochester verhehlt allerdings keineswegs, dass ihre Unschuld mit sexueller Unberührtheit nicht das Geringste zu tun hatte:

Das Lot versenkte ich neunmal pro Nacht

in schwarzer Tiefsee; gleich Leander lacht’

mir Wonne neuer Meere. Eng umschlungen

haben wir Lust um Lust, nie satt, errungen.

Auch wenn die Echtheit dieses Gedichts von mancher Seite angezweifelt wurde, trägt es doch die charakteristischen Züge von Rochesters Stil. Es wurde offensichtlich erst viele Jahre nach 1665 verfasst, zu einer Zeit, als die Beziehung zwischen Nell und dem König schon begonnen hatte, denn er vergleicht sie darin mit Kleopatra. Doch sollten die in diesem Gedicht geäußerten Behauptungen tatsächlich wahr sein, dann war Rochester einer von Nells ersten Liebhabern, und wenn dem so ist, hat sein Einfluss wohl auch dazu beigetragen, sie für die Bühne vorzubereiten, so wie er zehn Jahre später auch seiner langjährigen Geliebten Elizabeth Barry dabei behilflich war. In den 1752 erschienenen Memoirs of the Life of Eleanor Gwinn wird Nell von einem Galan namens Deveil weggeschnappt, und lange Zeit meinte man, das sei eine verdeckte Anspielung auf ihren ersten Liebhaber Duncan gewesen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Rochester gemeint war und nicht der eher unbedeutende Kaufmann. Dorimant, Etheredges Abbild von Rochester in The Man of Mode (1676), wird in einer bekannt gewordenen Passage von Mrs Loveit als »ein Teufel [devil]« beschrieben, dem »immer noch etwas von dem nicht gefallenen Engel anhaftet«. Die Methode der Verführung jedenfalls weist eindeutig auf Rochester hin: »Eines Tages, als sie [Nell] sich ihren Geliebten [Hart] in seiner erfolgreichsten Rolle auf der Bühne ansah, in der des Creon in Drydens Oedipus, trat ein Herr in ihre Loge und flüsterte ihr, ganz der vollendete Beau, leise Komplimente ins Ohr; es dauerte nicht lange, und sie entsann sich ihres alten Bekannten Deveil ...«

Als Nell seine Angebote ablehnt, lässt er sie beim Verlassen des Theaters in seiner Kutsche entführen. Wieder eine Vorgehensweise, wie sie für Rochester typisch ist, denn im Frühjahr des Jahres 1665 sorgte er mit der Entführung seiner späteren Ehefrau Elizabeth Mallet für einen Skandal. Durch Rochester ist Nell wahrscheinlich auch in die Welt der Höflinge eingeführt worden, und ihre Affäre mit ihm darf man getrost als ein Vorspiel zu ihrer Liaison mit Rochesters Gefährten Lord Buckhurst von 1667 ansehen, die so viel Stoff für Gerede bot. Und er hat ihr vermutlich auch beigebracht, wie sie sich als ungebundene Geliebte oder femme d’esprit zu gebärden hatte, eine Rolle, in der sie zum Bühnenstar avancierte. Sehen wir Nell als Eliza Doolittle, so war er sicherlich eher ihr Professor Higgins als Charles Hart. Im Fall von Elizabeth Barry hat Rochester doch wirklich mit den Leitern der Duke’s Company gewettet, dass er innerhalb von sechs Monaten eine großartige Schauspielerin aus ihr machen könne. Und er hat die Wette gewonnen.

Etwa zu dieser Zeit war es auch, dass sich Barbara Castlemaine, die ihr fünftes Kind vom König erwartete, mit der jungen Schauspielerin anfreundete. Barbara fand Gefallen daran, junge Mädchen für ihr eigenes Vergnügen und für das des Königs ausfindig zu machen, und außerdem gehörte das Fördern von Künstlern zum wesentlichen Zeitvertreib einer maîtresse en titre: es steigerte ihr Ansehen. In Barbaras Fall war es auch ihrem Liebesleben förderlich, denn sie angelte sich dabei etliche Liebhaber sowohl aus den Reihen der Schauspieler als auch der Stückeschreiber. Nells Partner Charles Hart zählte ebenfalls dazu. Sogar Dryden gab sie Schützenhilfe, nachdem sein erstes Stück durchgefallen war. Für Nell machten so einflussreiche Gönner wie Rochester und Castlemaine die lange Unterbrechung ihrer Karriere, die bald einsetzen sollte, mehr als wett.

Der Zufall wollte es, dass Nells Theaterdebüt mit dem Ausbruch des Ersten Holländischen Krieges zusammenfiel, einer Seeschlacht, in der sich Rochester unerwartet als Held erwies. Das Donnern der Schiffskanonen war bis nach London zu hören. Killigrew klagte darüber, dass die Reihen im Parkett leer blieben, weil so viele junge Herren draußen auf See waren, doch als London dann unmittelbar nach dem Krieg von der Beulenpest heimgesucht wurde, mussten am 5. Juni 1665 die Theater ihre Tore ganz schließen. Alle Theateraufführungen, ja eigentlich sämtliche Vergnügungen, bei denen Menschen zusammenkamen, waren auf Anordnung des Bürgermeisters und des Rates der Stadt London streng untersagt worden. Die siegreichen Kommandanten und ihre Matrosen kehrten »alle fett, lüstern und sonnenverbrannt« heim aus der Schlacht, aber das London, das sie vorfanden, erwies sich als bedrückend still. Viele Häuser waren verrammelt, und die Menschen flohen mit voll beladenen Karren aufs Land. In seinem Tagebucheintrag vom 7. Juni schreibt Pepys:

Heute habe ich, sehr gegen meinen Willen, in Drury Lane zwei oder drei Häuser mit einem roten Kreuz an der Tür gesehen, und »Gott erbarme sich unser« stand dazugeschrieben – ein trauriger Anblick, das erste Mal, dass ich so etwas gesehen habe. Mir wurde richtig übel, und ich bildete mir ein, dass ein sonderbarer Geruch von mir ausgehe; war gezwungen, mir etwas Tabak zum Riechen und Kauen zu kaufen; danach war mir gleich besser.

Es war dies das letzte Mal, dass eine der mittelalterlichen Plagen über England hereinbrach, und eingeschleppt hatten sie die mit Flöhen verseuchten Ratten, die mit den Schiffen in die Stadt gelangt waren. Als die wöchentliche Zahl der Opfer anstieg, begann ein Exodus aus der Hauptstadt in die außerhalb Londons und entfernter gelegenen Dörfer. Am Stadtrand entstanden Zeltstädte, aber auch dort blieb man nicht vor Ansteckung gefeit. Männer und Frauen krümmten sich unter Schmerzen, wenn die grauenhaften Schwellungen unter der Haut aufbrachen, und verendeten schließlich wie die Tiere am Straßenrand, auf dem Feld, in den Gräben, Wäldern und Flüssen. Mit dieser furchtbaren Seuche ging ein kurzes Wiederaufflackern der Endzeitstimmung einher, und in ihrem Entsetzen machten die Leute den Hof und sein lasterhaftes Treiben für das Elend verantwortlich. Am nächtlichen Himmel tauchte ein leuchtender Komet auf, in den Straßen wimmelte es nur so von falschen Astrologen und »üblen Gestalten, die sich als magiekundig ausgaben«. Die raue Stimme des apokalyptischen Predigers Solomon Eagle hallte durch die menschenleeren Straßen und warnte: »Noch vierzig Tage, und London wird zerstört werden!« Und Defoe schrieb in seinem Journal of the Plague Year (1722): »Ein anderer [Prophet] rannte nackt bis auf die Unterhosen herum und schrie Tag und Nacht, gleich jenem Mann, den Josephus erwähnt, welcher ›Wehe Jerusalem!‹ rief, kurz bevor jene Stadt der Zerstörung anheim fiel.«

In kürzester Zeit glich London einer Geisterstadt. In den Straßen spross das Unkraut, und die Häuser, die man hermetisch abgeriegelt hatte, um ein Umsichgreifen der Seuche zu verhindern, wurden zu leibhaftigen Gräbern, in denen sich Kranke und noch nicht Angesteckte gemeinsam verschanzten. In Behelfshospitälern machten Ärzte in makabren, vogelähnlichen Pestmasken die Runde. Pepys musste in der Stadt bleiben und in der Admiralität die Stellung halten (schließlich befand sich England im Krieg mit Holland), und das war ein Segen für die Nachwelt, hat er uns doch in seinem Tagebuch ein eindringliches Bild von der Stadt gezeichnet. Die Zahl der Toten in der Woche vom 11. September 1665 betrug 8297, von denen waren 7165 der Pest zum Opfer gefallen. Mittwoch, den 20. September schrieb Pepys: »Eine traurige Zeit, keine Schiffe auf dem Fluss, das Gras wächst in Whitehall, und nur ein paar elende Figuren auf den Straßen.« Auf dem Höhepunkt der Seuche stieg die Zahl der Opfer bis auf 10000 in der Woche an, und als der Winter mit seinem heilsamen Frost endlich Erleichterung brachte, musste man feststellen, dass allein in London hunderttausend Menschen umgekommen waren. Das bedeutet ein Fünftel der Bevölkerung. Die meisten wurden in Massengräbern außerhalb der Stadtgrenze verscharrt. Der Gestank dort und in den Straßen war so unerträglich, dass er den Menschen schier die Sinne raubte.

Mit der Hilfe von John Pritchard, dem Sohn ihres Londoner Wirtes im Cock and Pie, floh Nell zusammen mit ihrer Mutter nach Oxford, doch nicht, wie einige vermutet haben, um dort bei ihrem Großvater, dem Kanonikus Edward Gwyn, unterzukommen (denn der war schon 1624 gestorben), sondern um dem König und seinem Hof nachzufolgen. Oxford war zur Zeit des Bürgerkriegs das Hauptquartier Charles’ I. gewesen, und sein Sohn hat die Stadt immer als eine zweite Kapitale betrachtet. Dass während eines länger währenden Asyls der Wunsch nach Theaterunterhaltung laut werden würde, stand außer Frage, und wer war wohl besser geeignet, diese zu liefern, als des Königs eigene Schauspieltruppe? Am 29. Juni beobachtete Pepys, wie sich die königliche Familie und der Hof zur Abreise rüsteten. Ganz Whitehall war voller Wagen. Am darauffolgenden Tag erging die königliche Order, dass den elf »weiblichen Mitgliedern des Theaters Seiner Majestät«, darunter auch einer gewissen »Ellen Gwyn«, je vier Yard scharlachroten Tuchs sowie ein Viertel Yard Samt geliefert werden sollten. Jetzt durfte Nell von sich behaupten, sie gehöre zur Dienerschaft des Königs und trage seine Livree.

Der Hof hielt sich einige Zeit in Hampton Court auf, danach in Salisbury und Wilton, bevor er sich nach Oxford begab; die nächste Station nach Oxford war Tunbridge Wells, dessen eisenhaltige Quellen zum Trinken einluden. Ob Nell ihm bei diesem Hin und Her überallhin folgte oder in Oxford blieb, entzieht sich schlichtweg unserer Kenntnis. Es gibt auch keine Berichte darüber, was sie während der Zeit tat. Wenn sie damals Rochesters Geliebte war, ist es durchaus möglich, dass sie ihn im nahe gelegenen Adderbury oder aber in Ditchley Park besucht hat, wo er seine Kindheit verbracht hatte. Nachdem er sich in Bergen durch Tapferkeit ausgezeichnet hatte,3 stand Rochester beim König hoch in der Gunst. Allerdings nutzte ihm das nicht viel, solange London verriegelt war und die Regierung fern des Machtzentrums weilte. Das ganze Land war irgendwie zum Stillstand gekommen, und Nachrichten vom Kontinent trafen, wenn überhaupt, nur tröpfelnd ein. Der Tod Philipps IV. von Spanien blieb unbemerkt, und das kam Ludwig XIV. nur recht. Er ergriff die Gelegenheit und erhob im Namen seiner Frau, der Infantin Marie-Thérèse, Anspruch auf die Spanischen Niederlande.4

Am 1. Februar 1666 kehrte der König nach London zurück. Drei Tage später erlitt seine Frau, die in Oxford geblieben war, im Merton College eine Fehlgeburt. Es wäre ein Junge gewesen. In eben diesem College hatte nur wenige Monate zuvor Barbara ihrem fünften Kind vom König das Leben geschenkt. Jetzt war jedem klar, dass die Königin keine Kinder bekommen konnte, sie selber jedoch schien nicht sonderlich betroffen, denn ihr Herz fand Trost in der Religion. Pepys war regelrecht schwindelig geworden, als er einmal einen Blick in das mit Dutzenden von Uhren, Bildern und sonstigem Tand vollgestopfte Privatgemach des Königs hatte werfen dürfen; der Raum der Königin dagegen war ein Beispiel an Schlichtheit gewesen, denn dort, so schreibt er, »bewahrte sie nichts weiter auf als einige hübsche fromme Bilder sowie Gebetsbücher; und am Kopfende ihres Bettes Weihwasser ...«.

Der Glaube der Königin und der des ganzen Landes sollte noch einmal einer schweren Prüfung unterzogen werden, als London in der Nacht zum 2. September 1666 in Flammen aufging. Die Almanache und Pestpropheten hatten das Unglück vorausgesagt, als Strafe und Erlösung gleichermaßen. War denn nicht ein zweiter Komet über London gesichtet worden? Doch dieses Mal nicht ein kalter, behäbiger wie der erste, sondern einer, der in der Form eines flammenden Schwertes hell leuchtend mit Brausen herniedergestürzt war. Es gab keinen Zweifel mehr, das Jüngste Gericht stand kurz bevor. Das bestätigten auch das unvorstellbare Ausmaß und das Wüten des Brandes. »Der ganze Himmel war feuerrot«, schrieb Evelyn, »wie ein glühender Ofen, und der Schein war noch nächtelang in einem Umkreis von vierzig Meilen zu sehen. Möge Gott meinen Augen einen solchen Anblick ein zweites Mal ersparen, die jetzt mehr als zehntausend Häuser in Flammen stehen sahen. Das laute Bersten und das Getöse der unbändigen Flammen, das Schreien von Frauen und Kindern und die fliehenden Menschen, die einstürzenden Türme, Häuser und Kirchen, das alles glich einem grausamen Sturm ...« Vögel verbrannten mitten im Flug, vom Dach der guten, alten St.-Paul’s-Kathedrale floss das Blei, und die Häuser weinten Glas; der Himmel selber schien in Flammen aufgegangen zu sein. Sogar noch im fernen Oxford hielt Anthony à Wood fest, dass »der Mond von Rauchwolken verdüstert wurde und rötlich erschien«, so als sei das sechste Siegel des Buchs der Offenbarung aufgebrochen worden. Man machte die Franzosen und auch die Holländer für den Brand verantwortlich; beide Mächte hätten Truppen an Land gebracht und stünden bereit, London einzunehmen – so oder ähnlich lauteten die Gerüchte. Nicht viele Menschen glaubten an die Geschichte vom Ofen des Bäckers in der Pudding Lane.

Der König und der Herzog von York bewiesen großen Mut und Ausdauer bei der Leitung der Löscharbeiten, doch als der König am 6. September zu den obdachlos gewordenen Londonern sprach, die sich auf dem Anger von Moorfields versammelt hatten, war ein ganzes Drittel der Stadt zerstört, darunter 13 000 Häuser, 81 Kirchen und auch der eigentliche Mittelpunkt der Stadt, die St.-Paul’s-Kathedrale. Die mittelalterliche Stadt, die der Nährboden für die Pest gewesen war, war ein für alle Mal dahin. Die Geschwindigkeit, mit der Evelyn und Wren sowie ihre Kollegen in der Royal Society ihre Pläne für eine neue, aus Ziegeln und Stein errichtete Metropole mit breiten Boulevards und großräumigen Plätzen unterbreiteten, gab Anlass für Gerede, das Feuer sei absichtlich gelegt worden.

Wie auch immer die Wahrheit ausgesehen haben mag, das neue London, in dessen Mitte sich ein Denkmal zur Erinnerung an den Brand erhob, wurde jedenfalls von Männern errichtet, die ganz vom Gedankengut des Freimaurertums durchdrungen waren, die wussten, auf welchen Bauprinzipien der Tempel Salomons in Jerusalem beruht hatte, und die mit der neu erstandenen Hauptstadt eine ganz besondere Botschaft über das Schicksal Englands verknüpfen wollten. Wenn sich das königliche Geschlecht der Stuarts tatsächlich, wie James I. überzeugt gewesen war, über die Könige der Merowinger bis hin zu Christus zurückführen ließ, dann war der englische Thron der Thron Davids und damit London das Neue Jerusalem.

Die psychologische und symbolische Bedeutung des Feuers war so groß, dass man den wahren Beginn der Restauration eigentlich auf das Jahr 1666 datieren könnte. Es war, als hätten alle Sonnenkönige und Sonnengötter des Heldendramas plötzlich die von ihnen ausgehende glühende Hitze vereinigt, um die Nation in einer Feuertaufe zu reinigen. Der individuelle Geist, der sich so lange den Forderungen der Gemeinschaft hatte unterordnen müssen, brach sich nun in all seiner Glut strahlend Bahn. Und am allerhellsten leuchtete der lang unter Verschluss gehaltene Geist der Frauen, der sich zum ersten Mal in dem bemerkenswerten Werk einer bemerkenswerten Persönlichkeit jener Zeit offenbarte, in Margaret Cavendishs Roman The Description of a New World, Called the Blazing World (1666).

Sie war als Margaret Lucas im Jahr 1623 in der Nähe von Colchester zur Welt gekommen. Zu Beginn des Bürgerkrieges war ihre Familie nach Oxford gezogen, um dem König nahe zu sein. Sie gehörte zu den Brautjungfern von Henrietta Maria und begleitete die Königin, als diese 1644 nach Paris floh. Margaret, die sich tölpelhaft fand und sich nicht imstande sah, sich den Gepflogenheiten bei Hofe anzupassen, beschrieb sich selber als die »natürliche Närrin« im königlichen Gefolge. Das verbindet sie unmittelbar mit Nell Gwyn, die sich ja ebenfalls als »natürliche Närrin« bei Hofe empfand. Beide Frauen besaßen die Gabe, sie selber zu bleiben, und in der gekünstelten Umgebung des Hofes bedeutete das, zum Symbol der Natur und somit zum Narren abgestempelt zu werden. Margaret galt im Hinblick auf ihre Kleidung und ihr Benehmen als exzentrisch. Außerdem zeigte sich ihre »Verrücktheit« darin, dass sie sich lebhaft für Naturwissenschaften, Erziehung und Philosophie interessierte und sich nicht scheute, mutig über derartige Themen unter ihrem eigenen Namen und von einem ganz eindeutig weiblichen Standpunkt aus zu schreiben.

Doch ihr Glaube an die Frauen und deren Fähigkeit zu denken, zu lehren, schöpferisch tätig zu sein und Macht wirksam und zum Wohle aller auszuüben, war im Grunde der Glaube an die Souveränität des Individuums, ungeachtet des Geschlechts. Im Vorwort zu Blazing World schreibt sie:

Ich bin nicht begehrlich, doch bin ich so ehrgeizig, wie jede meiner Geschlechtsgenossinnen je war, ist oder sein kann; d.h., auch wenn es mir unmöglich ist, jemals Henry der Fünfte oder Charles der Zweite zu sein, so erkühne ich mich doch, Margaret die Erste zu sein; und obwohl es mir an Macht, Zeit und Gelegenheit mangelt, die Welt zu erobern, wie dies Alexander und Cäsar taten, so habe ich doch, anstatt eine Welt zu beherrschen, die mir weder Fortuna noch die Parzen schenken wollten, meine eigene Welt geschaffen, und dafür wird mich, so will ich hoffen, niemand tadeln, denn es steht jedermann frei, es mir gleichzutun.

In Blazing World geht es um eine Dame, die zunächst von einem begehrlichen Kaufmann entführt und auf ein Schiff verfrachtet wird, dann aber durch einen von der Vorsehung geschickten Sturm gerettet wird, welcher das Schiff durch Eisschollen hindurch und an Gletschern vorbei bis zum Nordpol treibt. Dort erfriert der Entführer, die Dame jedoch setzt, geschützt durch ihre strahlende Schönheit, die Reise über den Pol hinaus fort, bis sie in eine neue Parallelwelt (»zu einem anderen Pol in einer anderen Welt«) gelangt, wo sie von allen möglichen eigenartigen, doch aufrecht wie Menschen gehenden Geschöpfen begrüßt wird. Dort gibt es Bärenmenschen, Wurmmenschen, Vogelmenschen, Fuchsmenschen, Spinnenmenschen, Papageienmenschen, Satyrn und Riesen, um nur einige zu nennen, und sie alle ängstigen und verwundern die Dame sehr. Da man sie für eine Göttin hält, führt man sie vor den Kaiser, der sie zu seiner Frau und somit zur Kaiserin über diese ganze Welt macht. Wie Pallas Athene erhält sie Speer und Schild als Zeichen ihrer Macht. Im Rest des Romans wird geschildert, wie sich die neue Kaiserin diese Welt, über die sie nun herrscht, mit ihrem Verstand zu eigen macht, sie organisiert und regiert. Damit einher gehen langatmige philosophische Diskurse mit ihren Beratern über die Beschaffenheit dieses Kosmos.

Die grundlegende Bedeutung dieser Allegorie ist nicht schwer zu erraten. Der Kaufmann und seine Leute stehen für die Macht der Männer und ihre sexuelle Begierde. Die Dame verwehrt sich dagegen und tritt lieber die Reise zum Nordpol an, der die Welt ihres Intellekts und ihrer Vorstellungskraft symbolisiert. Dorthin können ihr die Männer nicht folgen, denn dies ist ihre eigene, private Welt, über die nur sie alleine herrscht. Die fantastischen Geschöpfe, denen sie begegnet, verkörpern ihre bisher ungenutzten Fähigkeiten – des Wissens, der Fantasie, des Geistes und auch der weltlichen Macht. Deshalb ist es nur natürlich, dass sie ihr zunächst Furcht einflößen, hatte sie doch von all diesen Fähigkeiten so lange keine Ahnung gehabt. Sie hatten verborgen in einer dunklen Ecke der weiblichen Psyche geschlummert. In der Geschichte geht es also um eine Frau, die zu sich selber findet. Sie spiegelt Cavendishs Grundüberzeugung wider, dass der Weg der Frauen zur Emanzipation über das eigenständige Denken und die Schaffung einer eigenen geistigen Welt führt (oder über »Lebensillusionen«, wie John Cowper Powy es so knapp und prägnant formuliert).

Noch eine weitere Frau wirkte in jenem Jahr des Großen Brandes bahnbrechend, die Dramatikerin und Romanautorin Aphra Behn, die im Vorwort zu ihrer Komödie The Lucky Chance schrieb: »Ich gebe mich nicht damit zufrieden, ein Stück zu schreiben, das nur dreimal aufgeführt wird. Ich schätze den Ruhm genauso sehr, als wäre ich als Held geboren.« In jenem Sommer 1666 reiste Aphra Behn nach Antwerpen, um dort als königliche Spionin zu wirken. Durch ihr unabhängiges Handeln und unter großen persönlichen Risiken gelang es ihr, wichtige Informationen für ihren König zusammenzutragen, eine Aufgabe, die in früheren Zeiten für eine Frau undenkbar gewesen wäre. Alle drei, Nell Gwyn auf der Bühne, Margaret Cavendish mit ihrer Schreibfeder und Aphra Behn durch ihre politische Tatkraft, wurden sich also ihrer individuellen Stärke als wertvolle Mitglieder der Gesellschaft und als Frauen gleichermaßen bewusst.

Als die Theater im Oktober 1666 ihre Tore endlich wieder öffneten, war deshalb die Bühne bereitet für ein neues Drama der Geschlechter. Der Geist war aus der Flasche gefahren, und Margaret Cavendish erklärte: »Lieber käme ich im abenteuerlichen Ringen nach edlen Heldentaten um, als ein Leben in unbedeutender, träger Sicherheit ... zu führen.«5

Nell Gwyn

Подняться наверх