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Kapitel 1
ОглавлениеBescheidene Anfänge
Angesichts der Umstände, unter denen Nell Gwyn aufwuchs, ist es bemerkenswert, dass wir nicht nur das Datum ihrer Geburt kennen, sondern sogar den genauen Zeitpunkt. Diesen glücklichen Zufall verdanken wir dem Antiquar und Astrologen Elias Ashmole, der ein Horoskop auf ihren Namen gestellt hat, das sich heute in der Bodleian Library in Oxford befindet. Ashmole zufolge, der diese Auskünfte möglicherweise von der Dame persönlich erhalten hat, wurde Nell Gwyn am Samstag, dem 2. Februar 1650 um sechs Uhr in der Früh geboren. Die Angabe des Geburtsortes fehlt, und wir wissen auch nicht, in wessen Auftrag diese Geburtskonstellation errechnet wurde.
Die Astrologen, von denen zwei auch ihre Biographen waren, scheinen sich darin einig zu sein, dass die von Ashmole berechnete Konstellation ein wahrheitsgetreues Bild von Nell Gwyn zeichnet und dass deshalb die zugrunde gelegten Daten richtig waren. Es überrascht nicht, dass zum Zeitpunkt ihrer Geburt Venus am Horizont stand, was ihr Schönheit und Charme sowie die Liebe zum Vergnügen und zu materiellen Annehmlichkeiten mitgab. Im Zenit, im charismatischen Haus des Skorpions aber stand Jupiter, womit ihr die Aussicht in die Wiege gelegt wurde, eines Tages Berühmtheit zu erlangen und Schutz von ganz oben zu genießen sowie die Gewissheit, dass sich ihr auf dem Weg ins ersehnte Rampenlicht nur wenige Hindernisse in den Weg stellen würden. Das Element Erde, das doch so viele ganz natürlich mit Nell in Verbindung bringen, fehlt in der Konstellation fast gänzlich, stattdessen erscheinen Mutterwitz und Spontaneität als ihre herausragenden Eigenschaften.
Ihr Geburtstag fiel mit dem keltischen Ibolcfest zusammen, mit dem die Rückkehr der Sonne gefeiert wurde. Dieser Tag war der keltischen Göttin Brigid gewidmet, der Lichtbringerin, in deren Tempel in Kildare die ewige Flamme gehütet wurde. Unter der katholischen Kirche wurde aus Birgid dann die heilige Brigitte und das Imbolcfest wurde umgewandelt in das Fest von Mariä Reinigung, bei dem um Mitternacht Kerzen entzündet werden, um mit ihnen die allerersten Anzeichen des Frühlings zu begrüßen.
Auch wenn wir mit ihrem Namen und mit ihrem Geburtstag Licht und Helligkeit assoziieren, so kam Nell Gwyn doch zu einem der dunkelsten Zeitpunkte in der englischen Geschichte zur Welt. Fast genau ein Jahr zuvor war König Charles I. hingerichtet worden und hatte die Nation in einem Zustand des Schocks und der Verwirrung zurückgelassen. Die Theater waren geschlossen, die Maibäume gekappt, öffentliche Vergnügungen und Feiertage waren abgeschafft, Tanz, Gesang und das Spielen von Musikinstrumenten verboten. Sogar Ringkämpfe, Springen, Laufen und ›unnötiges Schreiten‹ (d.h. Spazierengehen) waren dem gemeinen Volk untersagt. Ehebruch galt nun als Kapitalverbrechen. Der eiserne Riese Puritanismus donnerte durch das Land und drohte, das gesamte gesellschaftliche Gefüge auseinanderzureißen.
Es herrschte die allgemeine Überzeugung vor, das Ende der Welt sei nahe und Christus werde zurückkehren und sein tausendjähriges Reich auf Erden antreten. Die Hinrichtung des Königs hatte diese Endzeitstimmung noch verstärkt. Vom Land strömten Messiasse, Propheten sowie Angehörige aller nur denkbaren Sekten, Männer wie Frauen, nach London, und ganz England erlebte so etwas wie einen Nervenzusammenbruch. Von allen Seiten hörte man Prophezeiungen, und die kamen der Regierung durchaus recht, konnte sie doch damit ein Meinungsklima schaffen, das ihren Zielen förderlich war. So gab es etwa Deutungen, die in der Hinrichtung des Königs eine notwendige Vorbedingung für die Herrschaft Christi sahen. Zur Zeit von Nells Kindheit wimmelte es in London nur so von besessenen Seelen.
Das Hauptziel für die blindwütigen Projektionen der Puritaner gaben natürlich die Frauen ab, denn in ihnen sahen sie die Verkörperung der dunklen Seite der Menschheit. Ihr Status in der neuen Gesellschaft war nur um ein weniges besser als der von Kindern. Vorbei waren die Tage von Shakespeares geistvollen Heldinnen. Die Puritaner strebten unaufhörlich nach dem Licht, und deshalb unterdrückten sie die eigenen Triebe und verdrängten diese gleich sich windenden Teufeln in die hintersten Winkel ihrer Seele. Stattdessen hielten sie außerhalb ihrer Selbst Ausschau nach den Objekten, die sie quälten. Die Frauen waren da ein geeigneter Sündenbock, und jene, die sich aufgrund ihres unabhängigen Geistes nicht fügen wollten, wurden entweder verrückt oder aber Prostituierte. Es ist übrigens nicht verwunderlich, dass die Prostitution im Commonwealth weiter verbreitet war als unter der Herrschaft von Charles I. Das ist nun einmal das Ergebnis von Verteufelungen.
Eines schönen Morgens jedoch widerfuhr ihnen in der St-Paul’s-Kathedrale die wohlverdiente Gerechtigkeit. Ein puritanischer Geistlicher predigte gerade über die Wiederauferstehung, als sich plötzlich eine Dame von ihrem Platz in der Kirchenbank erhob, all ihre Hüllen fallen ließ und mit dem begeisterten Ruf »Es lebe die Auferstehung!« auf ihn zustürmte. Wir wollen für den Mann Gottes nur hoffen, dass sich unter den Gliedern der Gemeinde, die sich daraufhin erhoben, nicht auch das seine befand. Das gute alte England mag zwar in den Untergrund gedrängt worden sein, tot war es aber beileibe nicht.
Vielleicht spiegelt nichts die Trostlosigkeit der Gottesherrschaft im puritanischen England besser wider als die Vornamen, die fromme Puritaner ihren Kinder aufbürdeten. Es sind dies Namen wie Abstinence (Enthaltsamkeit), Forsaken (Entsagung), Tribulation (Sorge, Qual), Ashes (Asche), Lamentation (Klage), Fear-not (Fürchte dich nicht), Weep-not (Weine nicht), Kill-sin (Töte die Sünde) und Fly-fornication (Fliehe die Unzucht). Wie wundervoll hell und einfach klingt doch »Nell Gwyn« neben einem Namen wie »Perseverance (Ausdauer) Middleton«! Es nimmt nicht Wunder, dass die Encyclopaedia Britannica sie als die »lebende Antithese zum Puritanismus« beschreibt. Auch die Kunst war in den Untergrund verbannt worden, desgleichen jegliche Äußerung von Freude, Schönheit oder Lebenslust. Wie sagte doch der Dichter: »Die Liebenden, die Tänzer zerstampft und unterjocht«.1
Genau an dem Tag, an dem Nell Gwyn das Licht der Welt erblickte, an jenem 2. Februar 1650, marschierte Cromwell durch das vom Regen aufgeweichte Tipperary. Er befand sich mitten in seinem blutigen Feldzug gegen Irland. Das Urteil Gottes kam über die verachtenswerten »Barbaren«, und das Vorrecht, Sein gerechtes Schwert führen zu dürfen, gebührte dem zukünftigen Lordprotector von England. Cromwells Stern war im steilen Aufstieg begriffen. Zur gleichen Zeit hielt sich der neunzehnjährige König Charles II. mit seinem zerlumpten Ad-hoc-Hofstaat auf der Kanalinsel Jersey auf, wo er sich an Segeltouren ergötzte und lange Spaziergänge unternahm, wenn er dem ewigen Gezänk seiner Gefolgsleute oder einfach der Langeweile seines auf Dauer improvisierten Daseins entfliehen wollte. Geld war knapp. Selbst für den König war Schmalhans Küchenmeister und seine Kleidung auffällig abgewetzt. Die Rückkehr auf den Thron erschien ihm wie ein unerfüllbarer Traum.
Bezeichnenderweise zeigt die Vorderseite des königlichen Siegels, das für die Thronbesteigung König Charles’ II. in Jersey angefertigt worden war, das Bild des heiligen Georg, denn der König sollte noch weitere zehn Jahre als fahrender Ritter im Exil zubringen müssen. Die Drachen allerdings, die er zu bezwingen hatte, waren solche, die er in sich selber herangezogen hatte. In den folgenden zehn Jahren lernte er, als Mann unter Männern zu leben. Er musste Enttäuschungen und Demütigungen hinnehmen, an denen manch ein anderer zerbrochen wäre. Er aber lernte dadurch sich selber so gut kennen, wie es nur wenigen Monarchen je vergönnt war. Wie sehr sich Charles’ Persönlichkeit im Exil veränderte, wurde jedoch kaum bemerkt, denn wahrscheinlich behielt er diesen neuen Menschen beharrlich für sich. Er hatte gelernt, sich um des Überlebens willen zu verbergen, und aus dieser Notwendigkeit machte er später ein Kunst.
Von allen, die im puritanischen England als personae non gratae herumvagabundieren mussten, hatte Charles Stuart den weitesten Weg zurückzulegen. Es schien gerade so, als habe das Schicksal geplant, dass der zukünftige König von England die Sorgen und Nöte des gemeinen Volkes kennenlernen sollte, denn eine bessere Vorbereitung auf das Leben als König, das ihn erwartete, hätte er gar nicht bekommen können. Nichts stellte ihn härter auf die Probe als jene vierzig Tage und Nächte nach der Schlacht von Worcester. Charles wurde als Holzfäller verkleidet und erhielt den Namen »Will Jones«, seine langen schwarzen Locken fielen kurzerhand der Schere zum Opfer und das Gesicht verschmierte man ihm mit Ruß. Zu seinem groben Bauernkittel und den Kniehosen trug er einen speckigen grauen, hohen und spitzen Hut sowie Schuhe, die so schlecht passten, dass seine Füße ganz erbärmlich bluteten. In einigen Berichten heißt es, er habe einen dornigen Knüppel mit sich geführt, in anderen ist die Rede von einer Sense. Falls Nell Gwyn jemals getauft worden sein sollte, dann wahrscheinlich kurz nach der Schlacht von Worcester, als ihr späterer Geliebter gerade seine zweite Taufe erlebte, die Feuertaufe.
Dieser herumvagabundierende, jugendliche König hatte schon Vaterfreuden erlebt, als Nell noch gar nicht das Licht der Welt erblickt hatte. Mit seiner ersten großen Liebe, Lucy Walter, ebenfalls einer Schönen mit walisischen Vorfahren, hatte er einen Sohn gezeugt. Königstreue Höflinge sorgten jedoch rasch dafür, dass sie aus der Umgebung des Königs verdrängt wurde. Den Knaben, den späteren Herzog von Monmouth, trennte man aber erst im Jahr 1658 von seiner Mutter. Später im selben Jahr, in jenem Jahr, in dem auch Cromwell verschied, verstarb Lucy an der Syphilis.
Charles’ Erfahrungen als Verbannter stellten in einem ganz konkreten Sinn eine Lehrzeit für seine Beziehung zu Nell Gwyn dar, denn in dieser Zeit des Umherirrens lernte er, sich mit den Unterdrückten und dem einfachen Volk zu identifizieren. Er hatte von der Wohltätigkeit anderer und in gesellschaftlicher Ungewissheit gelebt, war von den Mächtigen verachtet worden und wusste, was es bedeutet, schmutzige Kleidung zu tragen und von einer Mahlzeit am Tag zu überleben. Not und Elend hatten ihn gelehrt, die gewöhnlichen Freuden des Lebens mit einer geradezu feierlichen Lust zu genießen.
Auf den Plakaten, mit denen das Parlament dazu aufrief, Charles gefangen zu setzen, wird der König als ein »mehr als zwei Yard messender großer, dunkler Mann« beschrieben (seine außergewöhnliche Größe war ebenso wie sein dunkles Äußeres überraschend, waren doch schließlich seine Eltern beide recht zierlich gewesen). Die verwendeten Formulierungen sind aufschlussreich, denn psychologisch gesehen war Charles ja tatsächlich nicht nur der dunkle Schatten eines Oliver Cromwell, sondern der Schatten des gesamten puritanischen Englands. Wir haben es mit einer dunklen Gestalt zu tun, die sich schattengleich durch das Land bewegt, sich wie ein Tier in Bäumen und an finsteren Orten verbirgt, seinen Trieben folgt, sich von den Früchten der Natur ernährt und auf die Loyalität des Volkes angewiesen ist. Als Charles dann schließlich den Thron bestieg, machte er die Eiche, in der er im Wald von Boscobel Schutz gesucht hatte, zum Emblem seiner königlichen Herrschaft.2 Das war etwas ganz anderes als die dogmatische Krone seines Vaters, es war eine lebendige Krone, die mit der Zeit noch wachsen konnte. Der Chronist John Evelyn widmete sein Werk Sylva (1664) König Charles mit den Worten: »Ihr seid unser Gott der Bäume, der König des Waldes, denn einst stand Euer Tempel unter jener heiligen Eiche, die Ihr mit Eurer Gegenwart geweiht, und dort hieltet Ihr Hof ...«
Die vorrangige psychologische Aufgabe im England der Restaurationszeit bestand darin, der Nation das Gefühl für das Geistvolle und auch für die leiblichen Freuden zurückzugeben, mit anderen Worten, das gute alte England (im Spenser’schen Sinn von »fröhlich und unbeschwert«) wieder aufleben zu lassen und eine Gesellschaft zu fördern, in der sich der Genius der Nation entfalten konnte. Einen besseren Katalysator für diese Wiederherstellung als die ihrem Wesen nach so fröhlich unbeschwerte Nell Gwyn hätte es gar nicht geben können!
Drei Städte wurden als Nell Gwyns Geburtsort angeführt – London, Oxford und Hereford –, doch in allen drei Fällen stehen die Beweise auf schwachen Füßen. Außer Zweifel steht, dass die Gwyns walisischer Herkunft sind und dass im siebzehnten Jahrhundert Gwyns oder Gwynnes im Grenzland zwischen England und Wales gelebt haben. Die Familie, die angeblich auf das walisische Fürstengeschlecht zurückgeht, stammte ursprünglich aus Llansanor im Tal von Glamorgan. Und als Nell gegen Ende ihres Lebens noch ein Wappen zuerkannt wurde, hielt man sich bei dem Entwurf mit dem blauen Löwen auf einem goldenen und silbernen Schild tatsächlich eng an die Vorlage des Wappens der Gwyns von Llansanor. Angesichts ihres roten Haares, der grünen Augen und ihres wunderbar singenden Tonfalls fällt es auch nicht schwer zu erkennen, dass in Nells Adern zum großen Teil keltisches Blut floss.
Dennoch spielt die ursprüngliche Herkunft von Nells Familie bei der Bestimmung ihres Geburtsortes nur eine geringe Rolle, und für Hereford fehlen die Beweise aus damaliger Zeit. Es stimmt zwar, dass einer ihrer Enkel, Lord James Beauclerk, Bischof von Hereford wurde und dass Charles II. die Orgel der Kathedrale instand setzen ließ, doch was heißt das schon? Dem Dictionary of Biography zufolge sind sich die Historiker von Hereford stets darin einig gewesen, dass sie in der dortigen Pipe Well Lane zur Welt gekommen ist, die im neunzehnten Jahrhundert in Gwyn Street umbenannt wurde. Das Haus selber wurde 1859 abgerissen, um für die Erweiterung der bischöflichen Palastgärten Platz zu machen. Heute erinnert eine Gedenktafel an der Außenmauer des Parks an die Stelle. Bedauerlicherweise sind die Taufregister der Stadt aus dem siebzehnten Jahrhundert lückenhaft und geben uns keine Auskunft.
Es mag durchaus sein, dass Nells Vater in Hereford geboren wurde und dort aufwuchs, aber wir wissen es einfach nicht. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass sich Helena Smith (die spätere Mrs Gwyn), die in der Gemeinde von St. Martin-in-the-Fields in London auf die Welt gekommen war und anscheinend die meiste Zeit ihres Lebens dort verbracht hat, im Jahr 1650 in dieser Stadt aufgehalten haben soll. Londons Ansprüche stützen sich nämlich weitgehend darauf, dass Nells Mutter von dort stammte und dass Nell und ihre Schwester Rose mit sehr großer Wahrscheinlichkeit in einer der Seitengassen der Drury Lane aufwuchsen. In seinem Werk Lives of the Court Beauties (1715) gibt Captain Alexander Smith die Coal Yard Alley als ihren Geburtsort an, und die nachfolgenden Biographen neigten dazu, sich dieser Auffassung anzuschließen. Professor John Harold Wilson beginnt seine Biographie aus dem Jahr 1952 jedenfalls überzeugt mit einem Kapitel, das überschrieben ist »The Gwyns of Covent Garden« und stellt ohne jedes Bedenken fest, dass »Nell Gwyn irgendwo in oder in der Nähe des Covent-Garden-Viertels geboren wurde«. Das ist aber nur eine Vermutung.
Der Grund, warum Londons Ansprüche trotz der schwachen Beweislage weiterhin so zwingend bleiben, hat viel mit dem romantischen Bedürfnis der Öffentlichkeit zu tun, die sich anscheinend nicht beirren lassen will, sich Nell Gwyn als das quirlige kleine Mädchen aus dem Londoner East End vorzustellen, das zur Mätresse eines Königs aufgestiegen ist. Denken wir jedoch daran, dass sie dann zwangsläufig den Cockney-Dialekt gesprochen haben müsste, dann ist es praktisch unvorstellbar, dass Nell Gwyn mit diesem Dialekt am Hof Charles’ II. überlebt und Karriere gemacht haben soll, denn zu der Zeit galt der Cockney-Akzent als die Mundart der Händler und Krämer par excellence. H.C. Wyld schreibt in A Short History of English: »Sprach ein Gentleman den Dialekt einer ländlichen Region, so tat das seinem Wesen und seinem Ansehen selbst bei Hofe keinen Abbruch – nicht geduldet allerdings war die Sprechweise der Händler ...« Als Professor Higgins in Shaws Pygmalion zum ersten Mal den Cockney-Akzent von Eliza Doolittle vernimmt, spricht er von ihr nur als von »diesem Geschöpf mit seinem Gassenjargon, einer Sprache, die sie lebenslänglich in der Gosse festhalten wird«. Und das war 1916. Trotz ihrer Ausbildung zur Schauspielerin wäre der Cockney-Dialekt ein zu großes Hindernis für Nell Gwyn gewesen, denn man hätte sie schlichtweg nicht verstanden. Es gibt übrigens auch keine zeitgenössischen Berichte, in denen hochnäsige Höflinge sich über eine derartige Behinderung lustig machen.
Oxford, das üblicherweise von den drei Geburtsorten am wenigsten in Betracht gezogen wird, scheint mir jedoch die berechtigtsten Ansprüche erheben zu dürfen. Ob nun Nells Vater, den meisten Berichten zufolge ein gewisser Captain Thomas Gwyn, in Hereford geboren wurde oder nicht, ist unwichtig. Fest steht, dass er ganz gewiss in Oxford gelebt und dort möglicherweise auch seine Tage in einem Schuldgefängnis beschlossen hat. Und wenn, wie unter anderem der Oxforder Antiquar Anthony à Wood behauptete, Dr. Edward Gwyn, seines Zeichens Kanonikus an der Christ Church von Oxford, der Vater eben dieses Thomas war, dann haben wir eine sehr überzeugende Verbindung.
Nach seinem unbedeutenden Sieg in Edgehill vom Oktober 1642 hatte Charles I. Oxford zu seinem militärischen und politischen Hauptquartier gemacht, was es bis zum Sommer 1646 auch blieb. Platz war knapp, weil aus allen Ecken des Landes die Königstreuen in die Stadt strömten und die Kranken und Verwundeten von Edgehill ebenfalls dorthin gebracht wurden. Auch an Vorräten mangelte es, und schon bald erhitzten sich die Gemüter. Obwohl der König selber besonnen blieb und sich darum bemühte, einen würdevollen Hofstaat aufrechtzuerhalten, war Oxford während des Bürgerkrieges doch wie die meisten Garnisonsstädte in Kriegszeiten ein Ort des ungezügelten Lebens und sehr lockerer Sitten, wo man tanzte, sich duellierte, sich betrank und über die Stränge schlug. In diesen schnelllebigen Tagen im Schatten des Krieges vereinigten sich Männer und Frauen ganz spontan, und dabei machten sie sich nicht immer die Mühe, ihren Bund vor dem Altar absegnen zu lassen.
Interessanterweise scheint der Dramatiker George Etheredge in einem seiner spöttischen Stücke mit dem Titel »The Lady of Pleasure: a Satyr« den Gedanken aufzugreifen, dass Nell zumindest in einer Garnisonsstadt gezeugt wurde. Schreibt er doch:
Ihr Vater war nicht eine Mannsperson,
gezeugt hat sie das ganze Bataillon.
Und von Wood wissen wir, dass Mrs Gwyn »eine Zeit lang in Oxford gelebt hat«, nämlich in der Pfarrgemeinde von St. Thomas. Es ist also durchaus möglich, dass Nell und ihre Schwester dort geboren wurden. Leider gibt es kein Taufregister von St. Thomas aus dem siebzehnten Jahrhundert mehr.
Ob sich Nells Vater bei Ausbruch des Krieges schon in Oxford aufhielt oder ob er erst aus Hereford dorthin kam, werden wir wahrscheinlich niemals erfahren. Ebenso wenig werden wir wohl herausbekommen, was Helena Smith bewogen hat, ihr heimisches London zu verlassen und sich in die neue Hauptstadt des Königs aufzumachen. Obwohl ja eigentlich ihre Sympathie für die Royalisten und die Hoffnung, einen flotten Kavalier aufzugabeln, Grund genug gewesen sein mögen. Auf jeden Fall hat der Gedanke etwas Befriedigendes, dass sich Nells Eltern von verschiedenen Seiten des Landes, der eine von Osten, der andere von Westen, ins Zentrum des royalistischen England begeben haben, um dort jenes Kind zu zeugen, das zu gegebener Zeit zum Sinnbild einer neuen, integrierteren Gesellschaft werden sollte.
Auch darüber, ob Captain Gwyn Nells Mutter tatsächlich geehelicht hat, können wir nur Vermutungen anstellen, desgleichen wissen wir nicht, wie rasch nach dem Krieg er in die Verschuldung geriet und verarmte. Die zeitgenössischen Überlieferungen, denen zufolge er im Gefängnis starb, nachdem er seinen Lebensunterhalt nicht mehr im Dienst des Königs verdienen konnte, scheinen aber ausreichend authentisch zu sein. Der anonym bleibende Autor von A Panegyrick (1681) schrieb:
In Oxford, wo ihr Vater starb, hat Leben
und Freiheit vielen sie zurückgegeben,
aus Kerkern sie befreit; es war ihr Streben,
fromm seiner zu gedenken, und sie ehrte
sogar die Kette, die ihn einst beschwerte.
Außerdem hat Nells ältere Schwester Rose 1663 in einer Bittschrift aus dem Gefängnis, in der sie um ihre Freilassung gegen Zahlung einer Kaution ersuchte, erwähnt, dass ihr Vater »im Dienst für den verstorbenen König alles verloren hatte, was er besaß«. Wenn wir ihr Glauben schenken, ist es unwahrscheinlich, dass Thomas Gwyn jemals mit seiner Frau und den beiden kleinen Töchtern nach London gereist sein soll. Viel wahrscheinlicher ist es, dass sein Tod zu Beginn der 1650er Jahre Mrs Gwyn, wie sie inzwischen hieß, veranlasst hat, mit Rose und Nell im Schlepptau in ihre alten Gefilde nach Covent Garden zurückzukehren. Und es fällt auch nicht schwer sich vorzustellen, wie sie als alleinstehende Mutter, die für zwei kleine Töchter zu sorgen hat, schon sehr bald gezwungen war, das älteste Gewerbe der Welt (wieder) auszuüben: Prostitution.
Alle Wege scheinen also nach Oxford zu führen. Vielleicht hat Ashmole den Geburtsort auf dem Horoskop ja auch einfach deshalb leer gelassen, weil er es in seiner Heimatstadt Oxford stellte. Wir werden es wohl nie erfahren. Fest steht jedoch, dass Nells ältester Sohn Charles, als er im Jahr 1676 in den Adelsstand erhoben wurde, die Titel von Burford und Headington zuerkannt bekam – und beide liegen in Oxfordshire. Interessant ist auch, dass Nells spätere Schwiegertochter, Lady Diana de Vere, die Erbin des letzten Earl von Oxford war und dass ihr mutmaßlicher Onkel Henry Gwyn bei eben diesem Earl die Stellung eines Sekretärs bekleidete.
Nell selber hielt sich anscheinend mit Auskünften über ihre Herkunft sehr zurück, vielleicht empfand sie es ja als vorteilhafter, dieses Thema ein wenig in geheimnisvollem Dunkel zu belassen. Manch einer wird sich wohl gefragt haben, woher sie eigentlich stammte, und noch heute ist ihre Identität irgendwie geheimnisumwittert. In einer Liste mit den Namen wohltätiger Spender für die gemeinen Gefangenen im King’s Bench Gefängnis wird sie als »Mrs Margaret Symcott (i.e. Eleanor Gwyn)« geführt. Fairburn wiederum behauptet, sie habe nach dem Tod des Königs als »Lady Simcock« viele barmherzige Schenkungen getätigt.3 In jüngerer Zeit gelangte der Ahnenforscher Arnold Hawker zu dem Schluss, Nell sei eine geborene Elizabeth Fawconer, Tochter eines Gutsherrn aus Wiltshire. Ihr selbstsicheres Auftreten bei Hof und ihr Erfolg auf der Bühne haben ganz sicherlich zu der Vorstellung beigetragen, sie sei vornehmer Herkunft.
Wir wissen nichts über das Leben von Mrs Gwyn, bevor sie nach London kam (oder zurückkam). Die meisten Biographen Nell Gwyns haben angenommen, ihre Mutter sei niederer Herkunft gewesen, aber das ist reine Vermutung und beruht auf späteren Berichten über ihre erbärmlichen Lebensumstände und das erniedrigende Gewerbe, das sie ausübte, als Nell noch ein Kind oder junges Mädchen war. Angesichts der Tatsache, dass ihr Ehemann in einem Schuldturm starb, ist es zumindest ebenso wahrscheinlich, dass die Ursachen für ihr Absinken in die verruchte Londoner Unterwelt in Unglück und Armut zu suchen sind und nicht in ihrer niederen Herkunft und ihrer Verderbtheit. Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass sie früher nicht einmal ihrem Ehemann gesellschaftlich gleichgestellt war, und der war, wenn schon kein echter Gentleman, doch immerhin so etwas Ähnliches.
Auf dem Denkmal, das Nell für ihre Mutter in St. Martin-in-the-Fields errichten ließ, ist als Geburtsjahr das Jahr 1624 angegeben, das letzte Jahr der Herrschaft von König James I. Wenn das stimmt, dann hätte Madam Gwyn genau bei Ausbruch des Bürgerkriegs ihre Volljährigkeit erlangt. Selbst wenn wir die Übertreibungen der Satiriker berücksichtigen, lassen zeitgenössische Berichte keinen Zweifel daran, dass Nells Mutter eine Falstaff’sche Persönlichkeit war, die sich einen ebenso legendären Ruf erwarb wie ihre Mitheldinnen der Unterwelt, die als Kupplerinnen berühmten Damen Ross, Bennett und Cresswell, wie Mother Mosely und Orange Moll.4
Das Bild, das die Satiren von Nells Mutter zeichnen, ist das einer derb drallen, Schnaps kippenden und Pfeife rauchenden Puffmutter, die infolge einer allzu ausufernden Sauferei schließlich in einem Fluss oder Abwasserkanal ertrank. Bedauerlicherweise verfügen wir nicht über eine Beschreibung ihres Wesens, doch einige Bilder, die von den Satirikern immer wieder gern benutzt werden, werfen unabsichtlich ein Licht auf einen wesentlichen Zug ihres Charakters – auf ihre unterschwellig schwelende Wut. Als junge Frau mag sie durchaus viel von der Schönheit, dem Mutterwitz und dem Glanz ihrer jüngeren Tochter besessen haben, genug zumindest, um die Liebe eines Captains zu gewinnen. Doch dann kam der Krieg dazwischen, und nach einigen schwierigen Jahren fand sie sich schließlich in London wieder, als alleinstehende Mutter mit zwei kleinen Töchtern. Die Theater waren geschlossen, und es gab keine Möglichkeit für sie, ihre Talente zu entfalten. Die unweigerliche Folge war ein Leben als Prostituierte. Es dauerte nicht lang, und sie betrieb ihr eigenes Freudenhaus. Man kann sich leicht vorstellen, welchen Groll diese lebhafte Frau gehegt haben muss.
Aber man spürt, dass sie sich von den Enttäuschungen über ihr nicht gelebtes Leben keineswegs übermannen ließ. In einem Spottgedicht über »die unvergessene Matrone, Old Maddam Gwinn« wird Nells Mutter mit jenem monströsen Drachen Typhon verglichen, den Zeus tötete, indem er den Berg Ätna auf ihn schleuderte, und dessen Zorn sich selbst noch nach seinem Tod in den Ausbrüchen des Vulkans ein Ventil verschaffte. Das ist eine gute Metapher für Mrs Gwyns schäumende Wut, die durch den Alkohol noch angeheizt wurde und die höchstwahrscheinlich das Gefühlsleben ihrer Töchter stark beeinflusst hat.
Der fehlende Vater und die alles verschlingende Mutter sind also Schlüsselarchetypen in Nells frühem Leben, dieselben übrigens wie bei ihrem späteren Geliebten, dem jungen Charles Stuart. Ihre Suche nach dem verlorenen, ritterlichen Vater sollte schließlich bei Charles höchstpersönlich enden (er war immerhin zwanzig Jahre älter als sie), und der von der Mutter ererbte Zorn fand seinen kreativen Ausdruck in ihrem beißenden Humor sowohl auf der Bühne als auch bei Hofe, wo sie die Rolle des bittersüßen Narren übernahm.
Wie auch immer Nell es geschafft haben mag, aus diesen widrigen Umständen letztendlich zu Glanz und Ruhm aufzusteigen, es kann nicht einfach gewesen sein, im Schatten eines Vulkans heranzuwachsen. Sowohl sie als auch ihre Schwester waren völlig ungebildet – Nell hat nie gelernt, auch nur ihren Namen zu schreiben – und wurden schon in sehr jungen Jahren zur Mitarbeit im Etablissement ihrer Mutter herangezogen. Samuel Pepys zufolge hat Nell ihrer Schauspielerkollegin Beck Marshall einmal erzählt, sie sei »in einem Freudenhaus groß geworden, wo sie den Herren starke Getränke einzuschenken hatte«.
Ein Freudenhaus im siebzehnten Jahrhundert war kein Bordell. Es bot zwar dieselben Dienste an, war aber ein wenig diskreter. Das Kernstück des Etablissements war zumeist nichts weiter als ein Keller oder ein Raum im Dachgeschoss eines Privathauses, wo man etwas trinken konnte und über den eine Kupplerin die Aufsicht führte. Diese hielt eine ganze Schar junger Mädchen zur Unterhaltung der Gäste bereit. Die Mädchen wohnten nicht im Etablissement selber, sondern wurden je nach Bedarf herbeigerufen. Es gab separate Zimmer im Haus, in die sie sich mit ihren »Gästen« zurückziehen konnten, und deren Spektrum reichte vom Höfling bis zum Taschendieb.
Nells Äußerung, »sie sei in einem Freudenhaus groß geworden«, konnte bedeuten, dass ihre Mutter zu Hause ihrem Gewerbe nachging, aber auch, dass sie irgendwo Räumlichkeiten angemietet hatte. Letzteres erscheint wahrscheinlicher. Es konnte aber auch bedeuten, dass sie alle drei gemeinsam in einem fremden Etablissement arbeiteten, etwa im Haus von Madam Ross. Wie dem auch sei, die Unterwelt war Nells frühes Zuhause, und es fällt nicht schwer sich vorzustellen, wie sie den Gästen unter deren anzüglichen Blicken »Nantz« einschenkte, wie der Branntwein damals hieß, und sich schon in jenem Witz und der Schlagfertigkeit übte, mit der sie später den Hof Charles’ II. schockieren sollte. So wie es in ihrem Leben drei Charles gab, gab es auch drei verschiedene Bühnen: das Freudenhaus, das Theater und den königlichen Hof.
Schon im zarten Alter von neun oder zehn Jahren hat sich Nell wahrscheinlich gegen die Zudringlichkeit der lüsternen Kunden ihrer Mutter wehren müssen. Es ist auch nicht unvorstellbar, dass sie sich bereits als Kind prostituierte; sicher aber werden wir es nie wissen. Doch mit einer alkoholkranken Mutter als einzigem Schutz dürfte sie einer derartigen Ausbeutung durchaus ausgesetzt gewesen sein, und möglicherweise empfand sie die Aufmerksamkeit, die sie für ihre Reize und ihren Witz vonseiten der Freier erfuhr, sogar als einen Ersatz für die fehlende Wärme. Die wenigen, bruchstückhaften Anhaltspunkte, über die wir verfügen, legen die Vermutung nahe, dass Nells ältere Schwester Rose sich schon mit zehn, elf Jahren der Prostitution hingab, womit es für die Jüngere noch schwerer gemacht wurde, einen anderen Weg einzuschlagen. Dennoch wäre es irrig, zu glauben, ein Freudenhaus wäre für ein heranwachsendes junges Mädchen ein vollkommen unangenehmer Ort gewesen, herrschte dort doch stets ein lebendiges, menschliches Treiben. Dadurch bildete es zumindest einen fruchtbaren Nährboden für Nells aufkeimenden Humor und vermittelte ihr bereits früh Einsichten in das Leben. Außerdem hielt es den kalten Wind des Puritanismus fern.
Das Londoner Stadtviertel Covent Garden war eine lebhafte Gegend voller Gegensätze. Im Zentrum lag, beherrscht von der St.-Paul’s-Kathedrale und umgeben von stattlichen Bürgerhäusern, die Piazza selber. Dahinter erstreckte sich ein Labyrinth kleiner Straßen und Gässchen mit engen Wohnhäusern, Läden und Schankstuben und natürlich mit den berüchtigten Freudenhäusern und Elendsbaracken. Das war Nells vertrautes Revier, ein dichter, städtischer Wald, und sie das hübscheste Nymphchen mittendrin. Im Norden grenzte das Viertel ans offene Feld, und im Süden schlossen sich die Palais des Adels an mit ihren ausgedehnten Gärten, die sich bis hinunter zum Fluss zogen. Das Theater, das Nell einmal stadtbekannt machen sollte, war noch nicht gebaut.
Sollte Nell wirklich in der Coal Yard Alley in der Pfarrgemeinde von St. Giles aufgewachsen sein, dann grenzt es schon fast an ein Wunder, dass sie in diesen Slums von London überhaupt überlebt hat. Krankheiten und Ungeziefer waren an der Tagesordnung, von Hygiene kaum oder gar keine Spur, und selbst in den besseren Vierteln der Stadt starb jedes zweite Kind noch vor seinem zweiten Geburtstag. An heißen Sommertagen muss der Gestank von Unrat und Fäulnis schier unerträglich gewesen sein. Wenn Nell tatsächlich in einem der Mietshäuser in den Slums gelebt hat, dann gab es dort zu ebener Erde allenfalls einige schmuddelige, verrauchte und fensterlose Räume, deren aus Lehm gestampfter Boden mit Stroh ausgestreut war und in denen über einem offenen Kohlefeuer gekocht wurde. Sie wird schon froh gewesen sein, wenn sie sich des Nachts oben in ihr Holzkastenbett auf ihre Strohmatratze zurückziehen konnte. Von einem Bad oder einer eigenen Toilette konnte keine Rede sein.
Dennoch muss das Straßenleben in der Drury Lane und Umgebung eine aufregende Abwechslung zur Mühsal der Kinderarbeit gewesen sein. Mit seinem ausgesprochen bohèmehaften Flair war dies eines der buntesten und unterhaltsamsten Viertel Londons. Straßenkünstler jeder Couleur und Nationalität zogen das Volk mit ihren grotesken und waghalsigen Darbietungen an. Da Möglichkeiten für Spiel und Sport fehlten, mussten sich die zerlumpten Straßenkinder ihren Zeitvertreib selber ausdenken. Auch blieb ihnen oft nichts anderes übrig, als selbst dafür zu sorgen, dass sie genug zu essen bekamen, und so stahlen sie sich normalerweise das Nötige von den Marktständen zusammen. Ihrer Bewegungsfreiheit und auch ihrem Benehmen waren so gut wie keine Grenzen gesetzt, doch der Preis, den sie für diese Freiheit zahlten, war die Unsicherheit. Sie tanzten im Schatten des Todes und schliefen »among tygers wild«.5 Wen wundert es da, dass die Rangen einer Londoner Straße durch starke Bande der Kameradschaft miteinander verbunden waren.
Nell genoss es, dass sie in ihren Gefährten von der Straße ein so bereitwilliges und dankbares Publikum fand. In einer der menschenleeren Sackgassen von St. Giles hielt sie sich voller Begeisterung ihren kleinen Hofstaat und konnte, wie es ein anonymer Biograph ausdrückte, zumindest »in ihrer Fantasie Königin sein«. Im Freudenhaus hatten die Kunden ihr Geschichten über den Hof des guten alten Königs Charles erzählt, und so stelle ich mir vor, wie sie, dieser kleiner Schlingel, stets den Schalk im Nacken, daherschritt, ein altes Betttuch als juwelenbestickte Schärpe umgelegt, und sich so königlich gebärdete, dass ihre begeisterten, halbverhungerten Untertanen augenblicklich auf die Knie sanken und riefen: »Gott schütze unsere gute Königin Nell!« Wie der arme Tom Canty in Mark Twains Prinz und Bettelknabe hing auch sie den lieben langen Tag solchen Träumen nach, und genau wie bei Tom veränderten sich wahrscheinlich auch ihre Art zu reden und ihr Gebaren und wurden zur Bewunderung und zum Vergnügen ihrer Freunde auf seltsame Weise feierlich und höfisch.
Eine Anekdote aus John Downes Roscius Anglicanus (1708) vermittelt uns eine lebhafte Vorstellung davon, wie fürsorglich und treu die verlassenen Kinder der Drury Lane zueinanderhielten. Nells erste Liebe war ein »link-boy«, ein Fackelträger mit Namen Poor Dick, ein heimatloser Bursche, der überzeugt war, dass Nell die Tochter eines Lords sein musste, denn anders konnte er sich ihre außergewöhnliche Schönheit nicht erklären. Der Anblick ihrer nackten, mit Frostbeulen übersäten Füße tat ihm in der Seele weh, und so kaufte er ihr von seinem mageren Lohn ein Paar feine, wollene Strümpfe. Nell zufolge hat er sie ihr selber angezogen und gesagt, wobei seine Tränen auf ihre Frostbeulen fielen, er wäre der glücklichste Mensch auf Erden, wenn die Strümpfe ihr gut täten.
Natürlich ist diese Geschichte nicht belegt, doch sie zeigt uns, dass Nells Schönheit und ihr liebenswertes Wesen ihr bereits in jungen Jahren tiefe Freundschaft und Treue beschert haben. Im Laufe unserer Geschichte werden wir übrigens noch sehen, dass Nell vieles in ihrem Leben ihren zarten und überaus reizenden Füßen zu verdanken hatte. Interessant ist, dass in China, dem Land, aus dem die Geschichte vom Aschenputtel stammt, ein kleiner, wohlgeformter Fuß als Zeichen ungewöhnlicher Tugend und Schönheit galt.
In den Spottversen jener Zeit wird die junge Nell Gwyn als »Cinder-Nell«, d.h. »Aschen-Nell« bezeichnet, denn man nahm an, das Reinigen des Ofens habe ganz gewiss zu ihren Pflichten im Freudenhaus ihrer Mutter gezählt. Ob dem wirklich so war, spielt keine Rolle, doch der Vergleich zeigt, dass ihre Kritiker sie unbewusst mit der Figur der Cinderella assoziierten. In A Panegyrick hieß es:
In ihrer Brust, selbst wenn sie Asche fegte,
der Traum von stolzer Hurerei sich regte.
Und der Verfasser von »The Lady of Pleasure«, vermutlich Etheredge, vermittelt uns ein lebhaftes Bild von Nell, der Straßengöre:
Wer sie sich durch die Straßen mogeln sah,
pechschwarz die Wangen und die Füße bar,
umwölkt von Asche ... Wer hätt’ da gedacht,
wie gut sie sich im Bett des Königs macht?
Wahrscheinlich niemand. Gewiss ist jedoch, dass die kleine Nell Geschichten über den König auf der anderen Seite des Wassers gehört hatte (in London wimmelte es nur so von Gerüchten über sein abenteuerliches Leben) und dass sie in Gedanken dem Tag seiner Rückkehr entgegenfieberte.
Nach dem Tod Cromwells legte sich zwar zunächst noch eine unnatürliche Ruhe über das Land, doch es sollte nicht mehr lange dauern, bis der Prinz aus Aschen-Nells Träumen in sein Königreich heimkehrte. Unter der fast monarchischen Herrschaft des Lordprotectors hatte die republikanische Bewegung viel von ihrer Kraft eingebüßt, und obwohl es immer noch nicht ungefährlich war, in der Öffentlichkeit vom König jenseits des Meeres zu sprechen, hegten doch immer mehr Menschen insgeheim den Wunsch, er möge zurückkehren. Als dann im Mai 1659 Olivers Sohn Richard die Macht aus der Hand glitt und er sich über den Kanal davonmachte, wurde im Parlament unweigerlich der alte Ruf nach dem König wieder laut.