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Elftes Kapitel.

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Wie Mr. Fang die Gerechtigkeit handhabte.

Der Diebstahl war im Bezirke eines sehr bekannten Polizeiamtes begangen. Angelangt, wurde Oliver vorläufig in ein kellerartiges Gemach eingeschlossen, das über alle Beschreibung schmutzig war, denn sechs Betrunkene hatten es fast drei Tage inne gehabt. Doch das will nichts sagen. Sperrt man doch Tag für Tag und Nacht für Nacht Männer und Weiber um der geringfügigsten, leichtfertigsten Anschuldigungen willen in Spelunken ein, gegen welche die Zellen der schwersten und bereits verurtheilten Verbrecher im Newgategefängnisse für Prunkgemächer gelten könnten!

Der alte Herr sah Oliver mitleidig und wehmüthig nach.

„Es liegt ein Ausdruck in den Zügen des Knaben, der mich ja ganz wunderbar ergreift,“ sprach er bei sich selbst. „Sollte er nicht unschuldig sein? Er sah aus, als wenn er — hm! — ist mir’s doch in der That, als wenn ich dieses Gesicht oder ein ganz ähnliches schon gesehen hätte.“

Er sann und sann, rief sich die Züge seiner Freunde, Feinde und Bekannten, alter und neuer, längst vergessener, längst im Grabe ruhender vor die Seele, vermochte sich aber dennoch keines zu entsinnen, mit welchem Oliver Aehnlichkeit gehabt hätte. „Nein, es muss Einbildung sein,“ sagte er endlich seufzend und kopfschüttelnd.

Er wurde gerufen. Oliver sass schon da, Mr. Fang, der Polizeirichter, war in die Lectüre eines Zeitungsblattes vertieft. Mr. Fang’s Antlitz hatte den Ausdruck der Härte, und war sehr roth. Wenn er nicht mehr zu trinken pflegte, als ihm gut war, so hätte er gegen sein Gesicht eine Injurienklage anstellen können, und sicher würden ihm beträchtliche Entschädigungsgelder zuerkannt worden sein.

Der alte Herr verbeugte sich ehrerbietig.

„Hier ist mein Name und meine Adresse, Sir,“ sagte er, und reichte Mr. Fang seine Karte.

Mr. Fang war übler Laune und blickte verdriesslich auf.

„Wer sind Sie?“

Der alte Herr wies ein wenig erstaunt auf seine Karte.

Mr. Fang stiess sein Zeitungsblatt nebst der Karte verächtlich zur Seite.

„Gerichtsdiener! wer ist dieser Mensch?“

„Sir, ich heisse Brownlow,“ fiel der alte Herr mit dem Anstande eines Gentleman, und also in starkem Contrast zu Mr. Fang ein. „Erlauben Sie, dass sich um den Namen des Richters bitte, der einen anständigen Mann ohne alle Veranlassung im Gerichtslocale beleidigt.“

„Gerichtsdiener!“ herrschte Fang; „wessen ist dieser Mensch angeklagt?“

„Er ist nicht angeklagt, Ihr Edeln, sondern erscheint als Kläger des Knaben.“

Seine Edeln wussten das sehr wohl, konnten jedoch auf die Weise ganz sicher unangenehme Dinge sagen.

„Erscheint als Ankläger des Knaben — so!“ sagte Fang, Brownlow verächtlich von Kopf bis zu Füssen betrachtend. „Nehmen Sie ihm den Eid ab.“

„Bevor das geschieht, muss ich mir ein paar Worte erlauben,“ fiel Brownlow ein. „Ich würde nämlich, ohne dass es mir wirklich widerfahren wäre, niemals geglaubt haben —“

„Halten Sie den Mund, Sir,“ unterbrach ihn Fang.

„Ich will, und werde reden,“ sagte Brownlow eben so bestimmt.

„Sie halten augenblicklich den Mund, Sir, oder ich lasse sie hinausbringen. Sie sind ein unverschämter Mensch! Wie können Sie es wagen, einen Richter einschüchtern zu wollen?“

Dem alten Herrn stieg das Blut in die Wangen.

„Beeidigen Sie dieses Individuum!“ rief Fang dem Schreiber zu. „Ich will durchaus nichts mehr hören.“

Brownlow war höchst entrüstet, dachte aber, dass er dem Knaben schaden könne, wenn er seine Gefühle nicht unterdrückte, und legte daher den Eid ab.

„Wohin geht Ihre Anklage?“ fragte ihn Fang darauf. „Was haben Sie zu sagen, Sir?“

„Ich stand vor einem Bücherladen,“ begann Brownlow, allein Fang unterbrach ihn.

„Schweigen Sie, Sir. Wo ist der Polizeidiener? Beeidigen Sie ihn. Polizeidiener — reden Sie!“

Der Polizeidiener berichtete mit gebührender Unterwürfigkeit, wie er den Knaben gefunden, und wie er ihm die Taschen durchsucht und nichts gefunden habe; — mehr wisse er nicht.

„Sind Zeugen vorhanden?“ fragte Fang.

„Nein, Ihr Edeln.“

Fang sass ein paar Minuten schweigend da, wendete sich darauf zu Brownlow und sagte in grosser Hitze: „Denken Sie Ihre Anklage gegen den Knaben anzubringen oder nicht? Sie haben geschworen. Verweigern Sie Ihr Zeugniss, so werd’ ich Sie wegen Nichtachtung der Richterbank in Strafe nehmen; das werd’ ich, beim —“

Es ist und bleibt unbekannt, bei wem; denn der Schreiber hustete im rechten Augenblicke und liess ein Buch zur Erde fallen — natürlich nur zufällig.

Brownlow konnte, endlich vorbringen, was er zu sagen hatte, und fügte hinzu, dass er die Hoffnung hege, der Richter werde die Gesetze so mild als möglich anwenden, wenn er es als erwiesen annehmen sollte, dass der Knabe, wo nicht selbst ein Dieb, doch mit Dieben in Verbindung stehe.

„Er ist bereits hart beschädigt,“ schloss er, „und ich fürchte, dass ihm sehr unwohl ist.“

„Unwohl — so, so!“ sagte Fang mit einem höhnischen Lächeln. „Du spielst mir hier keine Comödie, du kleiner Landstreicher, das sag’ ich dir; kömmst mir damit nicht durch. Wie heissest du?“

Oliver wollte antworten, aber die Zunge versagte ihm den Dienst. Er war todtenblass, und Alles schien rund mit ihm zu gehen.

„Wie heissest du, du verhärteter Schlingel,“ donnerte ihn Fang wiederholt an. „Gerichtsdiener, wie heisst der Bube?

Der Gerichtsdiener beugte sich über Oliver und wiederholte die Frage, gewahrte aber, dass der Knabe wirklich nicht im Stande war, zu antworten, und sagte daher, weil er wusste, dass der Richter sonst nur noch wüthender werden und eine noch härtere Strafe dictiren würde:

„Er sagt, sein Name wäre Tom White, Ihr Edeln.“

„Wo wohnt er?“ fragte Fang weiter.

„Wo er eben kann,“ erwiderte der gutherzige Gerichtsdiener abermals für Oliver.

„Hat er Eltern?“

„Er sagt, sie wären in seiner Kindheit gestorben, Ihr Edeln,“ entgegnete der Gerichtsdiener. Es war die gewöhnliche Antwort in Fällen dieser Art.

Oliver hob bei der letzten Frage den Kopf empor, sah mit flehenden Blicken umher, und bat mit schwacher Stimme um ein Glas Wasser.

„Albernheiten!“ sagte Fang. „Hab’ mich ja nicht zum Narren, Bursch!“

„Ich glaube wirklich, dass ihm unwohl ist, Ihr Edeln,“ wendete der Gerichtsdiener ein.

„Ich weiss es besser,“ fuhr Fang auf.

„Gerichtsdiener, halten Sie ihn,“ rief der alte Herr, „oder er sinkt zu Boden.“

„Zurück da, Gerichtsdiener!“ tobte Fang; „mag er, wenn’s ihm beliebt.“

Oliver bediente sich der freundlichen Erlaubniss, und fiel ohnmächtig von seiner Bank herunter.

Der Richter befahl, ihn liegen zu lassen, bis er wieder zu sich käme; der Schreiber fragte leise, wie Mr. Fang zu verfahren gedächte.

„Summarisch,“ erwiderte Mr. Fang. „Er wird drei Monate eingesperrt — natürlich bei harter Arbeit.“

Zwei Schliesser schickten sich an, den ohnmächtigen Knaben in seine Zelle zu tragen, als plötzlich ein ältlicher, ärmlich, aber anständig gekleideter Mann athemlos hereintrat.

„Halt — halt!“ rief er; „um des Himmels willen noch einen Augenblick Geduld.“

Obgleich die Polizeibeamten die willkürlichste Gewalt über die Freiheit, den guten Ruf und Namen, ja fast das Leben der königlichen Unterthanen, besonders der ärmeren Klassen, zu üben pflegen, und obgleich in den Polizeigerichten genug Dinge vorgehen, um den Engeln blutige Thränen auszupressen, so erfährt das Publicum doch nichts davon, ausgenommen durch das Medium der Tagespresse. Mr. Fang war daher nicht wenig entrüstet, einen ungebetenen Gast eintreten und so ordnungswidrig auftreten zu sehen.

„Was ist das? Wer ist das? Werft den Menschen hinaus!“ rief er.

„Ich will und muss reden, Sir; ich lasse mich nicht hinauswerfen; hab’s Alles angesehen. Ich bin der Besitzer des Buchladens. Ich verlange, beeidigt zu werden. Mr. Fang, Sie müssen mich anhören — Sie können es nicht wagen, mein Zeugniss zurückzuweisen, Sir.“

Er war im Recht, und sah zu entschlossen aus, als dass der Richter es hätte wagen dürfen, ihn abzuweisen. Fang liess ihm daher den Eid abnehmen, und fragte darauf, was er zu sagen habe.

„Ich sah drei Knaben — zwei andere und diesen hier — um den Herrn da herumschleichen, der vor meinem Laden stand und las. Der Diebstahl wurde von einem anderen Knaben begangen, und dieser war ganz erstaunt darüber, — sah aus, als wenn ihn der Schlag gerührt hätte.“

„Warum kamen Sie nicht schon früher her?“

„Ich hatte Niemand, nach meinem Laden zu sehen, und bin hergelaufen, sobald ich Jemand auftreiben konnte.“

„Also der Ankläger las?“

„Ja, Sir — in dem Buche, das er in diesem Augenblicke in der Hand hat.“

„Ah — ist es bezahlt?“

„Nein,“ erwiderte der Bücherhändler lächelnd.

„Mein Himmel, das hab’ ich ganz vergessen!“ rief der zerstreute alte Herr ganz unbefangen aus.

„Vortrefflich! — und Sie werfen sich zum Ankläger eines unglücklichen armen Knaben auf!“ bemerkte Fang mit komisch aussehender Anstrengung, eine menschenfreundliche Miene anzunehmen. „Es scheint mir, Sir, dass Sie unter sehr verdächtigen und unehrenhaften Umständen zu dem Buche gelangt, und Sie mögen sich sehr glücklich schätzen, wenn der Eigenthümer nicht als Ankläger gegen Sie auftreten will. Nehmen Sie sich dies zur Lehre, mein Freund, oder Sie verfallen noch einmal dem Gesetze. Der Knabe ist freizulassen. Räumen Sie das Gerichtszimmer!“

Der alte Herr wurde unter Au brüchen der Entrüstung, die er nicht länger mehr zurückzuhalten vermochte, hinausgeführt. Er stand im Hofraume, und sein Zorn verschwand. Oliver lag auf dem Steinpflaster; man hatte ihm die Schläfe mit Wasser gewaschen; er war weiss wie eine Leiche, und zitterte krampfhaft am ganzen Leibe. „Armes Kind, armes Kind!“ sagte Mr. Brownlow, sich über ihn hinunterbeugend. „Leute, ich bitte, schaff’ mir doch Jemand sogleich einen Miethwagen.“

Gleich darauf fuhr ein leerer Wagen vorüber, Oliver wurde sorgfältig hineingehoben und auf einen Sitz gelegt, während der alte Herr auf dem anderen Platz nahm.

„Darf ich Sie begleiten?“ sagte der Bücherhändler.

„Ja, ja, mein werther Herr,“ erwiderte Brownlow. „Ich habe Sie vergessen; verzeihen Sie. Und da hab’ ich auch das unglückliche Buch noch. Steigen Sie geschwind ein, es ist keine Zeit zu verlieren.“

Der Bücherhändler setzte sich zu Brownlow, und sie fuhren ab.

Oliver Twist

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