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Fünfzehntes Kapitel.
ОглавлениеWas Oliver auf dem Wege zum Bücherhändler begegnete.
Oliver’s Rückkehr wurde beiden Herren immer zweifelhafter, zu Grimwig’s Triumph und Brownlow’s tiefer Betrübniss. Ich hatte nun hier in meinem Epos in Prosa die kostbarste Veranlassung, die Leser mit vielen weisen Betrachtungen über die offenbare Unklugheit zu unterhalten, seinen Mitmenschen Gutes zu erweisen ohne Aussicht auf irdischen Lohn, oder vielmehr darüber, wie sehr es die Klugheit erfordere, in einem besonders hoffnungslosen Falle einige Liebe und Menschenfreundlichkeit an den Tag zu legen, und sodann dergleichen Schwachheiten für immer abzulegen. Die Vortheile liegen auf der Hand. Hält sich Der, dem ihr unter die Arme gegriffen, gut, und dient ihm euer geleisteter Beistand zum Wohlergehen, so erhebt er euch bis in den Himmel, ihr werdet sehr geachtete Leute, und gelangt in den Ruf, unendlich viel Gutes im Verborgenen zu thun, wovon nur der zwanzigste Theil bekannt werde; zeigt er sich als ein Undankbarer und Nichtswürdiger, so habt ihr euch in die vortreffliche Stellung gebracht, dass man euch nachsagt, ihr hättet euch höchst uneigennützig, mildthätig und dienstfertig erwiesen, wäret nur durch erfahrenen Undank und Verrath menschenfeindlich geworden, und man könne euch euer Gelübde nicht verdenken, nie wieder einem Menschenkinde beizuspringen, um nicht durch abermalige Täuschungen verletzt zu werden. Ich kenne eine Menge Personen, welche die angegebene Klugheitsregel befolgt haben, und kann versichern, dass sie in der allgemeinsten und natürlich verdientesten Achtung stehen.
Brownlow gehörte indess zu ihrer Zahl nicht, denn er blieb hartnäckig dabei, Gutes zu thun um des Guten selbst und um der Herzensberuhigung und Freude willen, die es ihm gewährte. Täuschungen raubten ihm sein Vertrauen und seine Milde und seine Menschenfreundlichkeit nicht, und Undankbarkeit von Seiten Einzelner führte ihn nicht zu dem Entschlusse, sich dafür an der ganzen leidenden Menschheit zu rächen. Ich werde daher die fraglichen vielen weisen Betrachtungen unangestellt lassen; und sollte dieser Grund ungenügend erscheinen, so kann ich noch hinzufügen, dass es obenein gänzlich ausser meiner ursprünglichen Absicht liegt.
Im finsteren Gastzimmer einer kläglichen Winkelschenke, gelegen in der schmutzigsten Gasse von Little Saffron Hill, sass bei einem Bierkruge und Branntweinglase ein Mann, in welchem trotz dem herrschenden Halbdunkel kein irgend erfahrener Polizeiagent Bill Sikes verkannt haben würde. Zu seinen Füssen lag sein weisser, rothäugiger Hund, und sei es, dass Bill seine Zeit nicht besser anzuwenden wusste, oder dass er seine üble Laune an irgend einem Gegenstande auszulassen wünschte, genug, er versetzte dem Thiere einen derben Fusstritt. Dem Hunde missfiel der offenbare Muthwille dieser Behandlung so sehr, dass er nach seines Herrn Beine schnappte, Bill ergriff wüthend das Schüreisen und sein Messer, als die Thür sich aufthat und der Hund hinausschoss. Zu einem Streite gehören dem Sprichworte gemäss Zwei, und Bill setzte daher den einmal begonnenen sogleich mit dem Eintretenden fort.
„Verdammter Jude, was trittst du zwischen mich und meinen Hund?“ schrie er ihm entgegen.
„Ich wusst’s ja nicht, mein Lieber, wusst’s ja nicht, dass Ihr wolltet dem Hunde zu Leibe,“ erwiderte Fagin demüthig.
„Spitzbube, hast du den Lärm nicht gehört?“
„So wahr mir Gott gnädig ist, nein, Bill, nicht ’nen einzigen Laut.“
„Ja freilich, du hörst nichts, gar nichts,“ entgegnete Sikes höhnisch; „ebenso wie du selbst ein- und ausschleichst, ohne dass man dich hört. Ich wollte nur, dass du jetzt der Hund wärst.“
„Warum denn?“ fragte Fagin mit einem erzwungenen Lächeln.
„Weil die Regierung, die das Leben solcher Halunken schützt, wie du einer bist, und die nicht halb so viel Muth haben, als die schlechtesten Hunde, Jedermann erlaubt, seinen Hund abzuschlachten, wenn’s ihm beliebt — darum!“ erwiderte Sikes, sein Messer mit einem sehr bedeutungsvollen Blicke wieder einsteckend.
Der Jude rieb sich die Hände, setzte sich an den Tisch, und zwang sich, über die Spasshaftigkeit des Freundes zu lachen, war jedoch offenbar nicht eben guten Muthes dabei.
„Greine nur, ja greine nur,“ sagte Sikes, ihn mit verächtlichem Trotze anblickend; „über mich sollst du doch nicht lachen, es müsste denn unter der Nachtmütze sein am Galgen. Ich habe die Hand oben, Fagin, und will verdammt sein, wenn ich dir den Daum nicht auf’m Auge halte. Baumele ich, baumelst du auch; also hüte dich vor mir und trag’ hübsch Sorge für mich.“
„Schon gut, mein Lieber,“ fiel der Jude ein; „ich weiss das Alles; Gewinn und Gefahr ist gemeinschaftlich bei uns.“
„Hm!“ murrte Sikes, als wenn er dächte, der Gewinn möchte wol zumeist auf des Juden Seite sein. „Was hast du mir denn aber zu sagen?“
„’S ist Alles in den Schmelztiegel gewandert und glücklich wieder heraus — da ist Euer Antheil. Ihr erhaltet eigentlich mehr, als Ihr solltet, mein Lieber; doch da ich weiss, dass Ihr mir schon ’mal wieder sein werdet gefällig, und —“
„Halt ein mit dem Schwätzen,“ unterbrach ihn Sikes ungeduldig. „Wo ist’s? Her damit!“
„Ja, ja doch, Bill; gönnt mir nur Zeit. Da ist’s,“ versetzte Fagin, zog ein altes baumwollenes Taschentuch, hervor, knöpfte einen Knoten auf, und reichte Sikes ein Päckchen, der es öffnete und die Goldstücke hastig zu zählen anfing.
„Ist das Alles?“ fragte Sikes.
„Ja, Alles.“
„Hast du auch das Päckchen nicht aufgemacht auf dem Wege und ein paar Stück verschluckt? Stell’ dich nur nicht beleidigt — hast’s ja schon oft gethan. Greif’ an Bimbam.“
Fagin klingelte, und es erschien ein anderer Jude, der jünger war, aber nicht weniger zurücksossend und spitzbübisch aussah. Sikes wies stumm nach dem leeren Kruge hin, Jener verstand den Wink und ging wieder hinaus, jedoch nicht ohne Fagin vorher einen Blick zugeworfen zu haben, den dieser durch ein kaum bemerkbares Kopfschütteln beantwortete. Sikes hatte sich zufällig gebückt; hätte er den Blick des einen und das Kopfschütteln des andern Juden gewahrt, so möchte er der Meinung gewesen sein, dass ihm diese Pantomimen nichts Gutes bedeuteten.
„Ist Niemand hier, Barney?“ fragte Fagin den wieder eintretenden Juden.
„Blos Miss Nancy.“
„Schick sie herein,“ sagte Sikes.
Barney blickte Fagin fragend an, ging und kehrte gleich darauf mit Nancy zurück.
„Du bist auf der Spur, Nancy, nicht wahr, mein Engel?“ fragte Bill, und reichte ihr ein gefülltes Glas.
„Ja, Bill,“ erwiderte die junge Dame, nachdem sie das Glas geleert hatte; „hab’ aber Mühe genug gehabt. Er ist krank gewesen, und —“
Nancy bemerkte ein Augenzwinkern Fagin’s, das eine Warnung vor übergrosser Mittheilsamkeit zu bedeuten schien. Sie brach ab, und fing an von anderen Gegenständen zu reden. Nach zehn Minuten bekam Fagin einen Husten, worauf Nancy erklärte, dass es Zeit sei, zu gehen. Sikes sagte, dass er sie eine Strecke begleiten wolle, da er denselben Weg habe. Sie entfernten sich daher mit einander. Der Hund folgte in einiger Entfernung. Fagin sah Sikes durch das Fenster nach, schüttelte die geballte Faust hinter ihm, murmelte eine grimmige Verwünschung, setzte sich mit einem schauerlichen Greinen wieder an den Tisch, und war bald darauf in das Londoner Polizeiblatt vertieft.
Oliver befand sich unterdess auf dem Wege zum Bücherhändler, ohne zu ahnen, dass er dem lustigen alten Juden so nahe wäre. Er gerieth in eine Nebengasse unweit Clerkenwall, bemerkte seinen Irrthum erst, als er sie bereits über die Hälfte durchwandert hatte, und hielt es für das Beste, um keine Zeit zu verlieren, ihr zu folgen, da sie ihn, wie er meinte, auch an sein Ziel führen müsse. Er trabte munter vorwärts, und dachte an sein Glück, und was er darum geben würde, wenn er den armen kleinen Dick daran Theil nehmen lassen könnte, als er durch den lauten Ruf: „O mein lieber kleiner Bruder!“ aus seinen Träumereien aufgeschreckt wurde. Als er aufblickte, umschlossen ihn schon die Arme eines Frauenzimmers. Er sträubte sich und suchte sich loszumachen, allein das Frauenzimmer hielt ihn nur um so fester, und rief und frohlockte laut:
„O gütiger Himmel! Endlich hab’ ich dich gefunden. Ach, Oliver, o du böser Junge, was hab’ ich um deinetwillen ausgestanden! Gott sei Dank, dass ich dich endlich gefunden habe!“
Das junge Frauenzimmer brach in eine Thränenflut aus, und schien so heftige Krämpfe zu bekommen, dass ein paar mitleidige Frauen einen dastehenden Fleischerburschen fragten, ob er nicht meinte, dass er zu einem Doctor laufen müsse, worauf der Fleischerbursche, der eine sehr grosse Ruhe, wo nicht ein beträchtliches Phlegma zu besitzen schien, erwiderte, dass seine Meinung nicht dahin ginge.
„Nein, nein, lasst mich nur,“ rief jetzt auch das junge Frauenzimmer mit dem Körbchen und Hausschlüssel; „ich fühle mich schon besser. Und nun komm, mein Junge, geh’ sogleich mit mir, mein böser kleiner Liebling.“
„Was gibt’s denn?“ fragte eine der umstehenden Frauen.
,,Ach, er ist vor vier Wochen seinen Eltern entlaufen, guten Leuten, die sich redlich von ihrer Hände Arbeit nähren, und hat sich unter Gauner und Landstreicher begeben, dass seine Mutter fast vor Kummer gestorben wäre.“
„O du kleiner Bösewicht! — Mach’, dass du nach Hause kömmst, du ungerathene Creatur!“ riefen die Weiber.
„Ich bin meinen Eltern nicht entlaufen!“ rief Oliver in grosser Angst. „Ich habe weder Schwester, noch Eltern. Ich wohne in Pentonville.“
„Ach du gütiger Himmel, wie trotzig er schon geworden ist!“ schluchzte das junge Frauenzimmer.
„Ei, Nancy!“ rief Oliver, der jetzt erst ihr Gesicht sah, im höchsten Erstaunen aus.
„Seht ihr wol, dass er mich kennt,“ sagte Nancy. „Helft mir ihn nach Hause bringen, lieben Leute; seine Eltern und wir Alle sterben sonst noch vor Kummer über ihn.“
„Zu allen Teufeln, was ist das hier?“ schrie ein aus einem Bierladen hervorstürzender Mann. „Oliver, Satansbrut, komm augenblicklich mit nach Hause!“
Er fasste Oliver beim Kragen; der Knabe rief und jammerte nach Hilfe.
„Hilfe!“ polterte Sikes. „Ich will dir gleich helfen. Was sind das für Bücher? Ohne Zweifel gestohlen — her damit!“
Er entriss ihm das Päckchen, und versetzte ihm damit einen heftigen Schlag auf den Kopf.
„So ist’s schön — das wird ihm den Trotzkopf schon zurecht setzen,“ riefen die Weiber.
„Sollt’s auch meinen,“ sagte Sikes, wiederholte die Schläge, forderte Oliver auf, sofort ohne Sträuben mitzugehen, und machte ihn auf den bissigen Hund an seinen Fersen aufmerksam.
Noch schwach von seiner Krankheit, betäubt durch die Schläge und das Ueberraschende des ganzen Vorgangs, in Schrecken gesetzt durch das Knurren des Hundes und die Brutalität des baumstarken Mannes, und überwältigt durch den Beifall, den die Umstehenden seinen Angreifern gaben — was konnte das geängstete Kind thun? Es war dunkel geworden, die Gasse sah an sich selbst schon verdächtig aus, Hilfe war nirgends zu erblicken, Widerstand nutzlos. Ohne recht zu wissen, wie ihm geschah; fühlte sich Oliver durch ein Labyrinth von engen Strassen geschleppt, und sein jeweiliges Rufen verhalte um so mehr, da er so schnell fortgerissen wurde, dass er keinen Augenblick zu Athem kommen konnte; doch würde es auch von Niemand beachtet worden sein.
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Die Gaslampen waren angezündet: Frau Bedwin erwartete mit Herzpochender Ungeduld, dass die Hausthür sich aufthun würde; die Magd war zwanzig Mal die Strasse hinuntergelaufen, um nach Oliver auszusehen; die beiden alten Herren sassen beharrlich im Dunkeln neben der zwischen ihnen liegenden Uhr.