Читать книгу Oliver Twist - Charles Dickens, Чарльз Диккенс, Geoffrey Palmer - Страница 19
Sechzehntes Kapitel.
ОглавлениеWas sich mit dem entführten Oliver begab.
Es wurde immer finsterer, der Nebel immer dichter, und bald fing es auch an zu regnen. Nancy vermochte selbst kaum Schritt zu halten mit Sikes, der Oliver halb trug und ihn halb gehen oder laufen liess. Sie hatten Smithfield erreicht, als tiefe Glockenklänge die Stunde verkündeten. Sikes und Nancy standen bei den ersten Schlägen still, und wendeten sich um nach der Richtung, aus welcher die Töne erschallten.
„Acht Uhr, Bill,“ sagte Nancy.
„Ich habe selbst Ohren,“ erwiderte Sikes mürrisch.
„Ich möchte wol wissen, ob sie es schlagen hören können?“ fuhr Nancy fort.
„Natürlich können sie’s,“ sagte Sikes. „Es war um Bartholmäi, als ich in Dobes 11 gesteckt wurde, und auf dem ganzen Markt schnarrte keine Pfennigtrompete, die ich nicht gehört hätte. Nachdem ich für die Nacht eingeschlossen war, machte der Lärm und das Getöse draussen das vermaledeite alte Gefängniss so still und einsam, dass ich mir den Kopf hätte einrennen mögen an den Basteln.“ 12
„Die armen Bursche! Ach, Bill, was sie für schmucke junge Leute sind!“
„Ja, ja, so sprecht ihr Weibsbilder alle! Schmucke junge Leute! Doch sie sind so gut wie todt, also mag’s gleichviel sein.“
Er fasste den Knaben wieder fester und trieb zur Eile an.
„Noch einen Augenblick,“ sagte das Mädchen; „ich würde nicht vorbeilaufen, wenn Ihr’s wär’t, der zum Galgen herausgeführt würde, wenn’s wieder acht schlägt. Ich würde auf und nieder travallen, bis ich niedersänke, und wenn fusshoher Schnee läge, und ich hätte kein warmes Tuch, mich einzuhüllen.“
„Das sollte mir wol viel helfen,“ bemerkte der nichtsentimentale Sikes. „Könnt’st du mir nicht ä Kulm 13 und ä zwanzig Ellen Kabot 14 ’neinpracticiren, so möcht’st du funfzig Meilen laufen, oder ganz zu Hause bleiben, es wäre mir Alles nichts nütze. Vorwärts, steh’ hier und paternelle 15 nicht!“
Das Mädchen brach in ein Gelächter aus, ergriff Oliver’s Hand, und sie eilten weiter. Oliver fühlte, dass ihre Finger zitterten, und als sie an einer Gaslampe vorüberkamen, sah er, dass ihr Gesicht todtenblass war.
Sie lenkten nach einer halben Stunde in eine enge, schmutzige Gasse ein, die fast ganz von Trödlern bewohnt zu sein schien, und standen vor einem verschlossenen Laden still. Das Haus schien unbewohnt zu sein, und sah halb verfallen aus. Ueber der Thür war eine Tafel angenagelt, auf welcher zu lesen war, dass das Haus zu vermiethen sei; sie schien jedoch dort schon Jahre lang befestigt gewesen zu sein.
„Alles gut; sagte Sikes, vorsichtig umherlugend. Er klopfte auf eine besondere Weise, die Thür wurde leise geöffnet, und im Augenblick befanden sich alle Drei auf der Hausflur. Ein Licht zeigte den Weg. Sie stiegen einige Treppenstufen hinunter, gingen durch eine leere Küche, und traten in ein niedriges, dumpfiges Gemach ein. Ein lautes Gelächter schallte ihnen entgegen. Charley Bates wälzte sich im eigentlichen Sinne vor Vergnügen über den gar zu kostbaren Spass auf dem Boden, riss sodann Jack Dawkins das Licht aus der Hand, hielt es Oliver dicht vor das Gesicht, und beschanete ihn von allen Seiten, während ihm Fagin scherzhafterweise tiefe Verbeugungen machte, und der gepfefferte Baldoberer, der von ernsterem Wesen war, und sich nicht leicht der Heiterkeit überliess, wenn es Geschäfte zu verrichten galt, sorgfältig seine Taschen durchsuchte.
„Ich freue mich unendlich, Sie so wohl zu sehen, mein Lieber,“ sagte der Jude. „Der Gepfefferte soll Ihnen geben einen andern Anzug, damit Sie den sonntäglichen nicht verderben gleich. Warum schrieben Sie’s nicht, dass Sie kommen wollten — wir hätten dann treffen können noch bessere Vorbereitungen — aber Sie sollen dennoch etwas Warmes bekommen zum Abendbrod.“
Jetzt lächelte sogar der Baldoberer; da er jedoch in diesem Augenblicke die Fünfpfundnote hervorzog, so ist es zweifelhaft, ob der Witz Fagin’s, oder die erfreuliche Entdeckung seine Heiterkeit erregte.
„Holla, was ist das?“ rief Sikes, und trat auf den Juden zu, als derselbe die Banknote hinnahm. „Diese ist mein, Fagin!“
„Nein, nein, mein Lieber,“ entgegnete der Jude. „Mein, Bill, mein; Ihr sollt die Bücher haben.“
„Bekomm’ ich und Nancy sie nicht,“ sagte Sikes, mit entschlossener Miene den Hut aufsetzend, „so bring’ ich den Buben wieder zurück.“
Der Jude fuhr empor, und. Oliver gleichfalls, obgleich aus einem ganz anderen Grunde; er hoffte der Streit würde damit enden, dass man ihn wieder nach Pentonville zurückbrächte. Allein Sikes entriss dem Juden unter Schelten und Drohen die Banknote, faltete sie kaltblütig zusammen und knüpfte sie in den Zipfel seines Halstuchs.
„’S ist für unsere Mühe, und noch nicht halb genug,“ sagte er. „Behaltet Ihr die Bücher, wenn Ihr gern lest, und wo nicht, schlagt sie los!“
„Es sind prächtige Bücher; nicht wahr, Oliver?“ fiel Charley Bates ein, als er die klägliche Miene gewahrte, womit Oliver zu seinen Peinigern emporblickte.
„Sie gehören dem alten Herrn,“ sagte Oliver händeringend, „dem lieben, guten alten Herrn, der mich in sein Haus nahm und mich pflegen liess, als ich todtkrank lag. O bitte, schickt sie zurück, schickt ihm die Bücher und das Geld zurück! Behaltet mich hier mein Leben lang, aber bitte, bitte, schickt sie nur zurück. Er wird glauben, dass ich sie gestohlen hätte — und die alte Dame und Alle, die so freundlich gegen mich waren, werden es denken. O, habt Erbarmen, und schickt die Bücher und das Geld zurück!“
Oliver fiel vor dem Juden auf die Knie nieder und hob flehend und ganz in Berzweiflung die Hände zu ihm empor.
„Der Bube hat Recht,“ sagte Fagin, listig umherblickend und die buschigen Augenbrauen zusammenkneifend. „Du hast Recht, Oliver, hast ganz Recht; sie werden allerdings glauben, dass du sie gestohlen hast. Ha, ha, ha!“ kicherte er und rieb sich die Hände; „es hätte sich ganz unmöglich treffen können besser, und wenn wir noch so gut gewählt hätten die Zeit.“
„Versteht sich,“ fiel Sikes ein; „ich wusst’s gleich im selbigen Augenblick, als ich ihn durch Clerkenwall mit den Büchern unterm Arme daherkommen sah. ’S ist nun Alles gut. Es müssen schwachköpfige Bethrüder sein — hätten ihn sonst gar nicht eingenommen; und sie werden auch keine Nachfrage anstellen, aus Furcht, dass sie ihn anklagen müssten und ihn gerumpelt 16 zu sehen. Wir haben ihn jetzt fest genug.“
Oliver hatte unterdess bald Sikes, bald Fagin angesehen, als wenn er ganz betäubt wäre und kaum verstände, was gesprochen wurde; allein bei Bill’s letzten Worten sprang er plötzlich empor, und stürzte unter einem Geschrei nach Hilfe aus der Thür hinaus, dass die nackten Wände des Hauses davon wiederhallten.
„Halt’ den Hund zurück, Bill,“ schrie Nancy, und eilte vor die Thür und verschloss sie, als der Jude mit seinen beiden Zöglingen Oliver nachgestürzt war; „halt’ den Hund zurück; er reisst ihn in Stücke!“
„Ist ihm gerade recht!“ rief Sikes, und suchte sich von dem Mädchen loszumachen. „Lass mich los, oder ich renn’ dir den Kopf gegen die Wand!“
„Ist mir Alles gleichviel, Bill, ist mir Alles gleichviel,“ schrie das Mädchen, sich heftig gegen ihn sträubend; „er soll nicht von dem Hunde zerrissen werden, und wenn es mein Tod ist!“
„So!“ tobte Sikes; „sollst nicht lange warten auf deinen Tod, wenn du nicht im Augenblick ablässest!“
Er schleuderte sie in die fernste Ecke des Gemachs, gerade als der Jude, Jack und Charley den Flüchtling wieder hereinschleppten.
„Was gibt’s hier?“ fragte Fagin.
„Ich glaube, die Dirne ist tot geworden,“ erwiderte Sikes in Wuth.
„Nein, ich bin nicht toll,“ rief Nancy blass und athemlos dazwischen; „nein, Fagin, glaubt’s nicht!“
„Dann sei ruhig — willst du wol?“ sagte der Jude mit drohender Geberde.
„Das will ich auch nicht!“ erwiderte Nancy mehr schreiend, als redend. „Was willst du nun?“
Mr. Fagin war mit den Sitten und Gebräuchen der Species des Menschheitsgenus hinlänglich bekannt, welcher Miss Nancy angehörte, um sich ziemlich überzeugt zu fühlen, dass es einigermassen gefährlich sein würde, die Unterhaltung mit ihr für den Augenblick fortzusetzen. Er wendete sich daher, um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft abzulenken, zu Oliver.
„Du wolltest also fortlaufen, mein Lieber?“ sagte er, einen Knotenstock aufhebend, der am Kamine lag; „wolltest rufen die Polizei — nicht wahr, mein Schatz? Ich will dich von der Krankheit curiren, lieber Engel!“
Er hatte bei diesen Worten Oliver beim Arme gefasst, versetzte ihm einen Schlag über den Rücken und hob den Knotenstock wieder empor, als Nancy auf ihn zustürzte, ihm den Stock aus der Hand riss und in das Feuer schleuderte.
„Ich leid’s nimmermehr, Fagin!“ schrie sie. „Ihr habt den Knaben, und was wollt Ihr mehr?“ Lasst ihn — lasst ihn zufrieden, oder ich thue etwas an Euch, das mich vor meiner Zeit an den Galgen bringt!“ Sie stampfte bei dieser Drohung heftig mit den Füssen, und blickte mit verbissenen Lippen, geballten Fäusten und blass vor Zorn und Wuth wechselweis den Juden und Sikes an.
„Ah, Nancy!“ sagte der Jude nach einer kurzen verlegenen Pause beschwichtigend; „du — du übertriffst dich wirklich heute Abend selbst — ha, ha, ha! — spielst ganz prachtvoll deine Rolle, liebes Kind!“
„So!“ entgegnete Nancy; „nehmt Euch nur in Acht, dass ich sie nicht zu gut für Euch spiele. Ich sag’ es Euch vorher, Ihr werdet Euch sehr schlecht dabei stehen!“
Es gibt wenige Männer, die sich nicht gern enthielten, ein in Wuth gerathenes und obenein von nichtsachtender Verzweiflung beseeltes Frauenzimmer noch mehr zu reizen. Der Jude sah ein, dass es ihm nichts helfen könne, sich noch länger zu stellen, als wenn er Nancy’s Zorn für blos erkünstelt hielte, fuhr unwillkürlich einige Schritte zurück, und blickte Halb zitternd, halb verzagend nach Sikes. Dieser mochte glauben, sein persönliches Ansehen fordere es, Nancy baldigst wieder zur Vernunft zu bringen, und begann daher seine Operationen mit zahlreichen und kräftigen Drohungen und Verwünschungen, wobei er den Beweis lieferte, dass er es in diesem Genre in der That zur Meisterschaft gebracht hatte. Als sie keinen sichtbaren Eindruck machten, ging er zu noch überzeugenderen Argumenten über. „Was soll das bedeuten, Dirne?“ tobte er unter Hinzufügung einer Verwünschung, die die Blindheit so gewöhnlich als die Masern machen würde, wenn der Himmel sie nur halb mal so oft wahr machte, als man sie auf Erden hört. „Was willst du damit bezwecken? Weisst du, zum Geier, wer du bist — was du bist?“
„O ja, ja, ich weiss es nur zu gut!“ erwiderte Nancy unter krampfhaftem Lachen, und den Kopf hin- und herwiegend, um gleichgültig zu erscheinen, was ihr jedoch schlecht gelang.
„Dann sei ruhig, oder ich werde dich auf ’ne lange Zeit zum Stillschweigen bringen.“
Sie lachte abermals, blickte flüchtig nach Sikes, wendete das Gesicht ab und biss sich die Lippen blutig.
„Du bist mir die Rechte, dich auf die menschenfreundliche und honette Seite zu legen!“ fuhr er verächtlich fort. „Der Bursch’ würde ’ne saubere Freundin an dir haben, wozu du dich aufwirfst!“
„Und beim allmächtigen Gott, ich bin es!“ rief sie mit leidenschaftlicher Heftigkeit; „und ich wollte lieber, dass ich auf der Strasse todt niedergefallen oder in das Gefängniss geworfen wäre, statt derer, denen wir so nahe waren, als dass ich mich dazu hergegeben hätte, ihn hierher zu bringen. Er ist von heut’ Abend an ein Dieb, ein Lügner, ein Mörder, ein Teufel und Alles, was nur schlecht und verworfen heissen mag; — ist das nicht genug für den alten Halunken — muss er ihn obenein schlagen?“
„Hört, Bill,“ fiel der Jude dringend und nach dem mit gespanntem Ohr zuhörenden Knaben hindeutend ein; „wir müssen freundliche Worte gebrauchen, freundliche Worte, Bill.“
„Freundliche Worte!“ schrie das in seiner Wuth schrecklich aussehende Mädchen; „freundliche Worte, Ihr Schuft? Ja, die verdient Ihr auch von mir! Ich habe gestohlen für Euch, als ich noch nicht halb so alt war, als dies Kind hier, und bin im selbigen. Geschäft und im selbigen Dienst seit zwölf Jahren gewesen; wisst Ihr das nicht? Sprecht, wisst Ihr es nicht?“
„Ja, ja doch,“ erwiderte der Jude besänftigend; „du hast ja aber auch davon dein Brod.“
„Freilich, ich habe mein Bettelbrod davon,“ schrie sie immer heftiger, „und die kalten, nassen, schmutzigen Strassen sind meine Wohnung; und Ihr seid der ruchlose Mann, der mich Tag und Nacht hinaustreibt, und mich Tag und Nacht hinaustreiben wird, bis ich im Grabe liege.“
Die Galle des Juden wurde erregt, er drohete ihr, sie zerraufte ihr Haar, stürzte auf ihn zu, und auf seinem Gesichte würden ohne Zweifel sichtliche Spuren ihrer Rache zurückgeblieben sein, hätte nicht Sikes eben noch zur rechten Zeit ihre Arme festgehalten. Sie bemühete sich vergeblich, sich von ihm loszureissen, und sank in Ohnmacht. Sikes legte sie auf eine Art Lager nieder, und bemerkte ruhig, es sei nun Alles gut, da sie im Zorn grosse Armstärke besässe. Der Jude wischte sich die Stirn und lächelte; und sowol er, als Sikes und die Knaben schienen den ganzen Vorfall als einen gewöhnlichen, im Geschäft häufig vorkommenden zu betrachten.
„Nicht wahr, Fagin, er soll morgen seine besten Kleider nicht tragen?“ fragte Charley Bates greinend, und der Jude verneinte, Charley’s liebliches Greinen erwidernd. Master Bates schien sich seines Auftrags höchlich zu freuen, führte Oliver in das anstossende Gemach, in welchem einige Betten der Art standen, wie er sie bereits kennen gelernt, und zog mit unbezwinglichem Gelächter die alten Kleidungsstücke hervor, die sich Oliver so viel Glück gewünscht, ablegen zu dürfen, und die Fagin auf die erste Spur seines Aufenthalts bei Mr. Brownlow gebracht hatten.
„Zieh’ die Sonntägischen aus,“ sagte. Charley, „ich will sie Fagin zum Aufheben geben. Welch’ ein prächtiger Spass!“
Der arme Oliver gehorchte widerstrebend, und wurde darauf von Charley im Dunkeln gelassen und eingeschlossen. Master Bates’ Gelächter und die Stimme Betsy’s, die nach einiger Zeit erschien und ihre Freundin zum Bewusstsein zurückzurufen sich bemühete, wären gar wohl geeignet gewesen, ihn unter anderen Umständen wach zu erhalten; allein er war erschöpft und unwohl, und schlief daher bald ein.