Читать книгу www.buch-den-mord.de - Charlie Meyer - Страница 10
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Оглавление»Sehen Sie sich die Leiche doch wenigstens mal an«, forderte Polizeihauptkommissar Kaminski entnervt.« Sie können doch kein Profil erstellen, ohne die Leiche gesehen zu haben.«
»Warum nicht?«, konterte ich nicht weniger aggressiv. »Die Leiche hat niemanden ermordet. Ich analysiere Mörder, keine Toten, wobei ich noch einmal betonen möchte, dass ich KEIN PROFESSIONELLER PROFILER bin.«
»Ja, doch, um Himmels willen, das pfeift schon die letzte Taube vom Dach. Nur, wenn Sie kein professioneller Profiler sind, was wollen Sie denn hier?«
Gute Frage. Einen Moment lang verschlug es mir die Sprache. Was wollte ich eigentlich auf dem Polizeirevier von Nienburg? Helfen? Mein Gewissen beruhigen? Santos' Anrufen die Grundlage entziehen? Oder mich erneut als der große starke Held mit den braunen Augen in Szene setzen? Ein verlogener Moralist würde an dieser Stelle natürlich empört Helfen rufen, während der Heiligenschein über seinem Scheitel in der Sonne blitzt und blinkt. Meine Intention war nicht ganz so bewundernswert.
»Ich möchte endlich zufriedengelassen werden, und wenn das nur dadurch geht, dass ich helfe, den Mörder zu finden, dann biete ich meine Hilfe hiermit an. Ansonsten vergessen Sie einfach, dass ich existiere.«
Bevor Kaminski antworten konnte, kam der Frauenschwarm vom Anleger ins Büro gestapft und strafte den Polizeihauptkommissar mit bösem Blick ab.
»Was?«, fauchte dieser.
»Im Keller liegt eine Leiche.«
»Was?«
»Im Keller liegt eine Leiche.«
Kaminski stand fluchend von seinem Schreibtisch auf, schob sich an uns vorbei und verschwand auf dem Flur des Reviers.
»Was ist das? Ein Code für Verpiss dich, ich will den Kerl allein auseinandernehmen?«
Kilian starrte mich einen Moment lang an. »Nein«, entgegnete er dann langsam. »Eigentlich meinte ich die Worte in wörtlichem Sinne: In einer der Arrestzellen im Keller liegt eine Leiche. Eine mit viel zu viel Schnaps intus.«
Ich durchdachte die Situation einen Moment und entschied mich dazu, die Erklärung zu akzeptieren. »Okay. Warten wir auf Ihren Kollegen, oder bekomme ich die Fakten auch ohne ihn?«
Kilian nahm als Antwort eine dünne Akte von Kaminskis Schreibtisch und gab sie mir. Dann setzte er sich auf die Schreibtischkante und verschränkte die Arme vor der Brust. »Der Obdachlose vor sechs Monaten. Gleiches Schema. Gefunden wurde er in der Heide, mitten zwischen dem Heidekraut, starb aber woanders. Dort, wo er gestorben ist, war er aufrecht an irgendetwas festgebunden und wurde quasi als Zielscheibe benutzt.«
»Das haben Sie mir schon erzählt. Ein Profi?«
»Der Killer? Nein, glaube ich kaum, dann hätte er das Opfer höchstwahrscheinlich einfach erschossen.«
»Ich meine als Messerwerfer. Hat ein professioneller Messerwerfer den Obdachlosen getötet oder ein Laie? Jemand mit Übung oder jemand, der geübt hat?«
Kilian runzelte die Stirn und zuckte mit den Achseln. »Sie haben die Akte. Sehen Sie nach.«
Ich schlug seufzend die Akte auf. Die Tatortfotos überblätterte ich einfach, konnte aber nicht vermeiden, einen flüchtigen Blick darauf zu erhaschen.
»Er war nackt, als der Kerl die Messer geworfen hat?«
Kilian nickte. »Wie der Herrgott ihn erschaffen hat.«
»Und der Baron?«
»Angezogen.«
Kopfschüttelnd blätterte ich weiter zum Bericht des Pathologen. Mindestens zwei Dutzend Schnittwunden, einige tief und gerade, andere oberflächlich und schräg. Bei den tiefen geraden Wunden war das Messer höchstwahrscheinlich stecken geblieben, bei den oberflächlichen abgerutscht. Jede Menge blaue Flecken zeugten davon, dass ab und an nicht die Schneide, sondern der Knauf des Messers getroffen hatte.
Nach über fünfzig dokumentierten Würfen war der Täter an sein Opfer herangetreten und hatte auf ihn eingestochen. Aber auch hier hatte er offenbar darauf geachtet, möglichst langsam zu töten. Bevor er ihm das Messer in den Hals rammte, hatte er auf jeden Flecken Haut eingestochen, der noch unverletzt war. Insgesamt dreiunddreißig Mal.
»Der Täter war kein professioneller Messerwerfer, sondern jemand, der so gut wie keine Übung hatte. Jemand ohne jegliches Mitgefühl für das Opfer. Ein Soziopath, der nicht fähig ist, Mitleid zu empfinden. Während des Tötungsaktes hat er sich gesteigert. Fünfzig Versuche, den Mann aus der Entfernung zu töten, fünfzig Misserfolge. Dann beendet er das Töten in Handarbeit, und hier, einen halben Schritt vom Opfer entfernt, will er ihn plötzlich nicht mehr nur töten, sondern quälen. Er hat Geschmack daran gefunden. Seine sadistische Ader entdeckt, die er gnadenlos auslebt, bis es ihm zweiunddreißig Stiche später womöglich zu anstrengend wird oder einfach nur reicht. Erst jetzt bringt er das Opfer um. Was als Zielübung mit der Hoffnung auf einen Zufallstreffer begann, endet als bewusstes Quälen und Abschlachten. Wow, die rasante Entwicklung eines Soziopathen, der zu Beginn des Mordens noch nicht wusste, dass er einer ist.«
»Weiß, männlich, Mitte dreißig?«, fragte Kilian sarkastisch.
»Keine Ahnung. Könnte auch grün, transsexuell und über hundert gewesen sein.« Ich starrte herausfordernd zurück. »Ich bin kein Hellseher.«
»Können Sie wenigstens sagen, ob es derselbe Täter war?«
»Wenn ja, hat er seinen Trieb sehr plötzlich in den Griff bekommen. Das erste Opfer war nackt, und er scheint sich eine Stunde oder zwei daran aufgegeilt zu haben, den armen Kerl sterben zu sehen.« Ich überflog noch einmal den Bericht des Pathologen, aber ansonsten gab es nichts von Interesse. »Der Baron war angezogen und starb nach …?«
Ich sah zu Kilian hoch, der unbewegt zurückstarrte und dann zum Telefon griff.
»Viertelstunde«, sagte er, nachdem er aufgelegt hatte, und runzelte erneut die Stirn.
»Tja. Entweder ein Serienkiller, der sich nicht an die Konventionen für Serienkiller hält, oder ein Nachahmungstäter, dem ein paar Details des ersten Mordes entgangen sind. Oder zwei unabhängig voneinander agierende Mörder, die rein zufällig denselben Modus Operandi bevorzugen.«
Kilian verzog das Gesicht. »Na toll, darauf sind unsere Leute auch schon gekommen.«
»Welche Details vom Lüneburger Mord wurden über die Medien bekannt gegeben?«, fragte ich, ohne mich provozieren zu lassen.
»Eine Gruppe Jugendlicher auf Sauftour hat die Leiche gefunden. Fünf Minuten später tauchten das Handyfoto bei Facebook und ein Video bei YouTube auf. Bevor wir es bemerkten und beides löschen konnten, über sechshundert Likes für das Foto und knapp zweitausend Aufrufe für das Video.«
Ich starrte ihn konsterniert an.« Man könnte fast glauben, da wächst eine ganze Generation Soziopathen heran.«
Kilian nickte grimmig. »Der achtzehnjährige Sohn meiner Nachbarin rauschte vor ein paar Wochen in den Gegenverkehr und starb noch am Unfallort. Seine Mutter erfuhr es über Facebook. Die Polizistin, die es ihr schonend beibringen sollte, kam zehn Minuten zu spät. Sie konnte nur noch den Notarzt rufen. Überdosis.«
Er sagte es mit so viel persönlicher Verbitterung in der Stimme, dass sich mir unwillkürlich die Vermutung aufdrängte, er und seine Nachbarin seien mehr als nur gute Freunde.
»Ist sie wieder okay?«
»Wie okay kann man nach so einer Sache schon wieder werden?«
Eigentlich hatte ich die Überdosis gemeint, aber ich ließ es dabei bewenden und widmete mich wieder meinen Gedanken zu den Morden. Die wichtigsten Einzelheiten des ersten Mordes waren also bekannt gewesen. Ein Nachahmungstäter hätte versucht, die Handschrift des Killers eins zu eins zu kopieren. Das hatte er nicht ganz. Es gab ein paar Fakten, die übereinstimmten: Opfer als Schießscheibe verwendet, nicht dort getötet, wo die Leiche abgelegt wurde, beide Männer waren stehend ermordet worden, beide an Händen und Füßen gefesselt gewesen.
Bis auf die Sache mit der Nacktheit sprachen ein paar Fakten für denselben Mörder, sogar die räumliche Nähe beider Morde – Nienburg und Lüneburg lagen nicht allzu weit auseinander. Nur war für mich der sexuelle Aspekt des ersten Mordes ausschlaggebend. Beim Zweiten fehlte er. Der erste Mord war ein Niedermetzeln gewesen, der zweite ein Distanzmord. Wenn es anders herum gewesen wäre, hätte ich gemutmaßt, der Täter steigere sich, weil ihm die sexuelle Befriedigung, die er beim Killen des ersten Opfers empfunden haben mochte, beim zweiten Mord nicht mehr ausreichte.
Nur war es so herum nicht gewesen. Der Killer hatte bereits während des ersten Mordes alle Hemmungen über Bord geworfen und sich in einen Blutrausch hineingesteigert, während er beim zweiten Mal geduldig aus der Entfernung geschossen hatte.
Die Reihenfolge stimmte nicht, es sei denn, wir hatten es mit einem Psychopathen zu tun, der uns bewusst auf Abwege führen wollte und sich beherrschen konnte wie kein anderer vor ihm.
Als ich aufsah, blickte ich direkt in Kilians verächtliche Miene und musste mich zusammennehmen, nicht einfach aufzustehen und ihm eine reinzuhauen.
»Na, ist der große Profiler zu einem Resultat gekommen?«
»Ist er nicht, nein«, entgegnete ich betont selbstbewusst.« Dazu fehlen ihm noch ein paar Fakten. Oder haben Sie erwartet, dass ich Ihnen nach zehn Minuten den Mörder frei Haus liefere?«
Kilian zuckte die Schultern. »Unser Profiler der Kripo hat genau fünfundzwanzig Minuten gebraucht.«
»Zu welchem Ergebnis ist er gekommen?«
»Ihnen das zu verklickern, wäre wohl mehr als nur kontraproduktiv. Wenn wir schon zwei Profiler beauftragen, erwarten wir unabhängige Ergebnisse.«
»Beauftragen als was? Freundschaftsdienst oder bezahlte Dienstleistung?«
Der Kripobeamte starrte mich perplex an. »Ich dachte immer, Helfen sei oberste Bürgerpflicht.«
»Ach ja? Sie arbeiten also ehrenamtlich?«
Er antwortete nicht, konnte aber ein verhaltenes Zucken seines einen Mundwinkels nicht verhindern.
»Kann ich Kopien der Akten mitnehmen?«
»Leite ich per Mail weiter, sowie ich sie selbst bekommen habe. Bisher gibt es nur die paar Seiten über den Obdachlosen. Ich brauche ihre Mailadresse.«
»Darf ich fragen, ob Sie schon eine konkrete Spur verfolgen?« Ich fischte eine meiner Freelancer-Visitenkarten aus der Brieftasche und reichte sie ihm.
Er nahm sie mit spitzen Fingern entgegen. Ich wollte gerade eine nicht minder spitze Bemerkung über Ebolaviren auf Visitenkarten machen, verwarf es dann aber doch als albern und pubertär. Schließlich konnte ich niemanden zwingen, mich zu mögen, und wenn ich ehrlich war, mochte ich ihn auch nicht.
»Fragen dürfen Sie.«
In diesem Moment dudelte mein Handy. Ich warf einen Blick aufs Display und lächelte. Susann. Womöglich wurde mein Aufenthalt in Nienburg doch noch ganz erträglich. Ich würde sie zurückrufen, sobald ich hier fertig war. Also spätestens in dreißig Sekunden. Nachdem der Anrufbeantworter angesprungen war, stand ich auf und streckte mich.
»War nett mit Ihnen zu plaudern. Sie haben meine Karte. Wenn ich bis morgen keine Infos von ihnen bekomme, betrachte ich die Angelegenheit als erledigt.«
»Ich kann Sie nicht daran hindern.«
Vor der Tür lief ich Kaminski in die Arme, der mich leicht panisch anstarrte. Seine schwarzen blanken Schuhe zierten die Überreste von Erbrochenem. Offenbar war die Schnapsleiche im Keller erfolgreich reanimiert worden.
»Wo wollen Sie hin?«
»Frische Luft schnappen. In Ihrem Büro stinkt es ganz gewaltig nach Testosteron.«
»Was?«
Ich ließ ihn stehen und schob energisch die schwere Eingangstür auf. Draußen atmete ich tief durch, zog das Smartphone aus der Tasche und ließ Susanns Nummer wählen.
Es klingelte und klingelte, aber sie nahm das Gespräch nicht an. Nach dem zehnten Klingeln schaltete sich ihr Anrufbeantworter an.
»Hi, Susann, hier ist Dylan. Dylan Crispin. Ich konnte deinen Anruf eben nicht annehmen, weil ich in einer Besprechung war. Ruf mich zurück, wenn du Zeit und Lust hast.«