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ОглавлениеDer Reeder hieß Robert Hirschfeld, genannt Bobsie, wie ich aus dem Internet wusste. Warum auch immer. Von der Statur her sah er aus wie Danny de Vito. Klein und dick und irgendwie verschlagen. Nach unseren Telefonaten hatte ich ihn mir groß, schlank und integer vorgestellt. Gewissermaßen ein Inbegriff aufrechter Redlichkeit, was möglicherweise daran lag, dass ich nach der Sache mit dem Serienmörder von Hinterhältigkeiten einfach die Nase voll und mir das Wunschmodell eines Reeders zusammengeträumt hatte.
Wir trafen uns auf dem Schiff, das nahe der Nienburger Weserbrücke an einer Spundwand lag. Der Weg dorthin war unbefestigt, in den Schlaglöchern stand das Wasser bis zum Rand. Dazwischen Matsch, Matsch und noch mal Matsch. Ich stellte mir vor, wie bei Schiffstrauungen die Bräute ihre blütenweißen Kleider und Schleppen rafften, die High Heels auszogen und barfuß durch den Modder wateten. Keine große Sache. An Bord würde der Decksmann einen vorbereiteten Eimer mit warmem Wasser bereithalten. Und natürlich den Papst, damit er den Bräuten die Füße wusch.
Das Schiff war ein typisches Lux-Schiff mit klassischer Silhouette. Spitzer Bug, schlanke Form. Ein Schmuckstück zu seiner Zeit, jetzt allerdings nicht mehr als ein verrostetes Wrack, das wie ein Notfall für die SUK aussah. Die Sonderuntersuchungskommission ist eine Art TÜV für Schiffe und in Mainz eine Abteilung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Von der Dicke des Bodens, über die Funktionsfähigkeit des Davits bis hin zur Rutschfestigkeit der Decks kontrolliert sie einfach alles. Sie verlängert die Schiffsatteste für längstens fünf Jahre. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Attest dieses Schiffes erst kürzlich verlängert worden war, eher, dass es zur Vorbereitung der SUK noch vor der nächsten Saison auf die Werft musste.
Später sollte ich eher an die Schrottpresse in Duisburg denken.
Ich hoffte auf einen gut bestückten Werkzeugkasten und einen Hochdruckreiniger, als ich den Weg mit dem Mountainbike hinunterschlidderte, die abgespeckte Version eines Seesacks inklusive der Sommerversion eines Schlafsacks auf dem Rücken.
Das einzig Neue an dem Kahn war der aufgepinselte Name, und auch den hatte es bestimmt schon früher sowohl in der weißen Flotte als auch bei den Schwarzen, den Frachtschiffen, gegeben. Er hieß Weserlust.
Bobsie empfing mich mit einem Pott Kaffee in der Hand und sah mit seinem schlecht sitzenden Toupet sandfarbener Haare und dem verkniffenen Gesichtsausdruck zehn Jahre älter aus als Mitte zwanzig. Mindestens. Ich versuchte mir erst gar nicht vorzustellen, wie ihn die Crew der Meerjungfrau zu Hause verspotten würde, wenn er an Maxens Stelle wäre. Max ist mein Reeder.
Er tat mir leid, was natürlich nach hoher Warte und Arroganz klingt, aber das war es nicht. Einige Menschen sind einfach durch ihr Äußeres benachteiligt. Starke Charaktere, wie Max' Tochter mit ihrem von der Glasknochenkrankheit verformten kleinen Körper stecken es weg, während sich die Bobsies dieser Welt ihre Egos aufpeppen, in dem sie andere schikanieren.
Wir waren allein an Bord, da er, wie er sagte, Personalgespräche gern ungestört führte. Was auch Sinn macht, wenn es denn ein Personalgespräch zu führen gäbe. Unseres war aber bereits vor Tagen telefonisch über die Bühne gegangen, und ich war bestimmt nicht hier, um mich wieder nach Hause schicken zu lassen.
»Ich dachte, zwischen uns wäre alles klar«, erwiderte ich und zog von meiner optimistischen Fünfsternebewertung meines zukünftigen Arbeitgebers vier Sterne ab.
Er sah mich einen Moment lang perplex an. »Mein Partner und ich sehen uns die Kandidaten natürlich noch einmal persönlich an, bevor wir ihnen unser Schiff anvertrauen. Schließlich habe ich den Vertrag noch nicht unterschrieben. Haben Sie ein Problem damit?«
Hatte ich ja, aber andererseits brachte es mir nichts, jetzt den Klugscheißer raushängen zu lassen. Ich wollte etwas Neues erleben, und das Schiff hatte es mir angetan. Es brauchte jemanden, der ihm den Rost von den Rippen scheuerte, um es gleich darauf in frischem Weiß erstrahlen zu lassen. Manchmal liebe ich Herausforderungen wie diese. Man sieht, was man schafft.
Ich fuhr mir mit der Hand durch die braunen Locken und überlegte, während mein Zeigefinger unbewusst die Narbe entlangfuhr, die zackig von der Mitte meiner rechten Wange den Hals hinunter bis zum Schlüsselbein verlief. Andenken an meinen Autounfall mit Lucy. Ich hatte Hirschfeld den Vertrag zwar unterschrieben zurückgeschickt, aber, da der Arbeitgeber zuletzt unterschreibt, tatsächlich nichts in der Hand.
»Nein«, log ich und versuchte ganz entspannt zu klingen. »Ich sehe mir die Reeder, für die ich arbeite, auch gern im Vorfeld an. Vor allem, wenn ich zwischen zwei Angeboten wählen kann. Da ist noch ein Ablöserjob auf einem Bunkerboot auf dem Rhein frei. Ich würde Sie nur bitten, mir jetzt Bescheid zu geben, damit ich gegebenenfalls gleich nach Duisburg weiterfahren kann.« Das war im Großen und Ganzen nicht gelogen. Ich hatte mich tatsächlich zwischen Bunkerboot und Fahrgastschiff entscheiden müssen, wobei ich dem Bunkerboot allerdings schon abgesagt hatte.
»Bunkerboot«, echote er nachdenklich und ich sah ihm an, dass er mit dem Begriff wenig anfangen konnte.
»Tankboot. Fährt Gasöl zu den Schiffen und den Bunkerstellen.«
»Ja, natürlich. Ich weiß, was ein Bunkerboot ist.«
Schön für Sie, dachte ich, vermied es aber zu lächeln. »Wie sieht‘s aus? Prüfung bestanden oder soll ich weiterziehen?«
Am Liebsten hätte er weiterziehen gesagt, soviel stand fest. Er sah nicht glücklich aus, und ich war es ebenso wenig. Nur reizte mich die Herausforderung noch immer. Level 1 in einem dieser Aufbauspiele, die ich als Freelancer übersetze: Ein marodes Schiff, ein feindlicher Reeder eine Fahrgastschifffahrt, die bei null anfängt, ein Zeitlimit - mach was draus. Level 10: Das Schiff sieht wie neu aus, fährt in den schwarzen Zahlen, und du hast diesem Arsch von einem Eigner gezeigt, was du draufhast.
Mein Ego ist nicht so ausgeprägt, dass ich glaube, andere deckeln zu müssen, aber dieses charakterlich missratene Exemplar des Homo sapiens hier hätte ich gern ungespitzt in den Boden gerammt. Ich hasse Ego-Shooter, aber ich verstehe auch kleine Angestellte, die sich nach der Arbeit mit einem Laptop auf den Knien in ihren Fernsehsessel lümmeln und Horden von Camouflage-Kriegern killen, die, schon im Todeskampf, plötzlich die Gesichter ihrer Chefs annehmen.
Bobsie war einer dieser Kandidaten, und ich fragte mich mit einem Mal, ob ich nicht auf der Seite seines Vaters hätte stehen sollen. In meiner korrigierten Vorstellung wechselten die Mitwirkenden plötzlich die Rollen. Aus dem übermächtigen Papa wurde das gebeutelte Opfer, aus dem Sohn der beutelnde Schuft.
»Na gut, ich versuche es mit dir.«
Oh, wir waren bereits beim du angekommen.
»Okay«. Ich streckte die Hand aus. »Dylan. Und du?«
Bobsie kaute einen Moment lang an seiner Unterlippe. »Herr Hirschfeld«, sagte er dann und schlug ein. »Ich ziehe eine gewisse Distanz zu meinen Angestellten vor. Mein Partner Herr Eilers ebenfalls. Sie werden ihn zu einem späteren Zeitpunkt kennenlernen. Er ist gerade in Geschäften unterwegs.«
Er griff zum Stift, unterschrieb die beiden Ausführungen des Vertrags, die er vor sich liegen hatte, und schob eine zu mir hinüber.
Arschloch, dachte ich und lächelte. »Kein Problem, Herr Hirschfeld. Wie sieht's mit der versprochenen Unterkunft aus?«
Ich hatte für die nächsten vier Wochen das Rundumsorglospaket gebucht. Freie Verpflegung, freie Unterkunft, dafür nur zwei Drittel des Gehalts.
So wie's aussah, hatte ich das Kreuzfahrtprogramm erwischt. Eine sieben Quadratmeter große Kabine im Heck der Weserlust. Bett, Tisch, Stuhl, Spind und ein Waschbecken. Weserlust. Ich dachte an Max‘ Tochter, die die angedachte Stadt Hollerbeck, mein Fahrgastschiff zu Hause, in Meerjungfrau umbenannt hatte und überlegte, welcher Name zu diesem Schiff hier wirklich passte. Poseidon? Luchs, in Anlehnung an die Lux-Werft? Nein, passte alles nicht, aber ich blieb ja auch vier Wochen. Zeit genug für das Schiff, sich seinen Namen selbst auszusuchen.
»Was ist mit dem Rest der Besatzung?«
»Was soll damit sein?« Der Eigner starrte mich herausfordernd an.
Ich zuckte die Achseln und lächelte. »Ich frage mich, wann sie kommt, und ich frage mich, wie wir eine Kabine mit nur zwei Betten unter uns drei Nautikern aufteilen sollen.«
»Das ist geregelt. Wenn sonst nichts ansteht ...« Damit packte er seinen Papierkram zusammen und verließ ohne ein weiteres Wort sein Schiff.
Ich war nahe daran hinterherzulaufen. Sonst stand noch jede Menge an. Wann kam die Besatzung? Waren die Maschinen funktionstüchtig? Wo waren die Schiffspapiere? Wann war die erste Fahrt? Und, und, und. Die Wichtigste aber: Wie konnte ein Kerl, der mir am Telefon wie eine der sympathischsten Kreaturen auf Erden erschienen war, in so kurzer Zeit zu einem Stinkstiefel mutiert sein? Transformer Teil 3?
Als Bobsie Hirschfeld gegangen war und ich meinen Schlafsack in der Koje der Kabine ausgerollt hatte, begann ich das Schiff zu inspizieren. Die eine Sache ist, einer eingeschworenen Besatzung als Schiffsführer vor die Nase gesetzt zu werden, die andere, den plötzlichen Ehrgeiz zu entwickeln, das Schiff auf Vordermann bringen zu wollen. Die Definition des Begriffes Vordermann variiert stark, und Stammbesetzungen von Schiffen neigen bei der Definition zum Status quo, weil sie mit den Jahren betriebsblind geworden sind und die Mängel gar nicht mehr wahrnehmen.
Bei der Weserlust ergab sich dieses Problem erst gar nicht, da sie keine Stammbesatzung mehr hatte. Keine zehn Minuten nach seinem unhöflichen Abgang rief mich Bobsie auf Handy an, um mir in einem sehr arroganten Ton mitzuteilen, dass die ebenfalls neu angeheuerte Mannschaft - Matrose-Motorenwart und Decksmann - gleich eintrudeln würde, und das Schiff am Abend an einen Baron von Sowieso für ein Familientreffen verchartert sei. Fünf Stunden Fahrt mit Buffet und Getränkepauschale. Ausklang bis zwei Uhr morgens, der Caterer bringe zwei Servicekräfte mit.
Ich stand gerade auf Deck und sah mir den Dreckskahn etwas genauer an, als der Anruf kam.
»Wann kommt die Serviceleitung?«, stieß ich schließlich hervor, als ich meine Stimme wiederfand.
»Was für eine Serviceleitung?«
»Diejenige, die den Servicekräften sagt, wo's langgeht. Ihr Schiff hier hat schätzungsweise hundertfünfzig Sitzplätze im Innenbereich und achtzig auf dem Sonnendeck und im Bug. Sie brauchen eine Serviceleitung, sonst können Sie keine vernünftige Fahrgastschifffahrt aufbauen.«
»Ach ja? Was verstehen Sie denn schon davon? Sind Sie Geschäftsmann wie ich? Nein. Sie verstehen vielleicht ein Schiff zu fahren, aber von der Businesswelt da draußen haben Sie nicht den Schimmer einer Ahnung.« Er schnaufte. »Sie werden es mir kaum glauben, aber es gibt noch mehr auf der Welt als hinter dem Steuer eines Schiffes zu stehen.«
Ich schwieg perplex, hatte ich in meinem bisherigen Leben doch schon drei verschiedene Berufe ausgeübt, und zwar zwei davon meist gleichzeitig. In einem längst verglühten Paralleluniversum als Polizist, in meinem jetzigen Leben als Freelancer für die Übersetzung von Computerspielen und als Schiffsführer. Mein Freelancer-Honorar sicherte mir ein Grundeinkommen, und Schiffsführer war ich aus Leidenschaft, wenngleich ich auch damit Geld verdiente. Die Polizeiuniform hatte ich an den Nagel gehängt, nachdem ein gesuchter Bankräuber bei einer Führerscheinkontrolle den Jungen erschossen hatte, den mir mein Chef zum Anlernen anvertraut hatte.
»Was sind Sie von Beruf, wenn ich fragen darf?«
»Geschäftsmann, was sonst.« Damit drückte er das Gespräch weg.
Na toll. Wer blöd fragt, bekommt blöde Antworten. Ich starrte, das Handy am Ohr, auf die Silhouette der Stadt Nienburg, den Kirchturm, die Straßenbrücke und die Fußgängerbrücke ein Stück weiter und überlegte. Lohnte sich der Ärger überhaupt? Warum fragte ich nicht bei der Genossenschaft nach, ob die Springerstelle noch zu haben war, und übernahm für ein paar Wochen doch das Bunkerboot auf dem Rhein?
Ich sah mich auf Deck um und seufzte. Wenn ich ein wenig auf der Stelle hüpfte, brach ich wahrscheinlich durch die Roststellen ein, die Mannschaft fehlte noch immer, und in sechs Stunden tanzte dieser Baron mit seiner gesamten Sippschaft an. Hoffentlich verfügten sie über ein Mindestmaß an Galgenhumor.
Möglicherweise sollte man im Leben die eine oder andere Herausforderung auslassen, weil deren Realisierung so unrealistisch ist wie meine Teilnahme an der ersten Marsbesiedlung. Trotzdem konnte ich mich nicht aufraffen. Ich will nicht sagen, dass ich in der Kürze der Zeit eine persönliche Bindung zu dem Schiff aufgebaut hätte, aber ich mag nun mal Lux-Schiffe und dieses hier hatte es einfach nicht verdient, in der Schrottpresse zu enden.
Mein Verstand sagte mir, dass ich, trotz aller Mühen, über Level 3 meines imaginären Spiels nicht hinauszukommen würde. Die entscheidende Rolle spielte wohl der Zeitfaktor. Bis ich auch nur den Rost abgekratzt hatte, endete wahrscheinlich schon mein Job.
Zehn Minuten später bog ein klappriger Ford auf den unbefestigten Parkplatz der Schiffsanlegestelle, der einen nicht weniger klapprigen alten Campingwagen hinter sich herzog. Einen von diesen kleinen kugeligen Gebilden aus den Sechzigern. Der Ford spuckte eine dürre kahle Bohnenstange in T-Shirt und Jeans aus, dem ein zottiger Ziegenbart vom Kinn hing.
Während er sich noch aus der Fahrertür quälte, zu seiner vollen Länge entfaltete, und zu mir herüber starrte, rumpelte ein knallroter Sportwagen durch die Schlaglöcher den Weg hinunter, was den Kahlköpfigen und mich gleichermaßen von unserer gegenseitigen Begutachtung ablenkte.
Ungewöhnlich war allerdings weniger der Wagen, ein Mercedes Cabrio, als vielmehr seine Fahrerin.
Sie trug eine schwarze Latzhose, die maßgeschneidert aussah. Der rechte Hosenträger hing vorschriftsmäßig über der Schulter, der linke etwa auf Hüfthöhe. Die Hosenbeine waren bis zur Wadenmitte aufgekrempelt, die Füße steckten in Springerstiefeln mit Stahlkappen. Unter der Latzhose lugte ein ärmelloses schwarzes T-Shirt hervor. Ihre pechschwarzen Haare waren fransig geschnitten und standen in alle Richtungen ab. Selbst auf die Entfernung konnte ich die dicken Kajalstriche rund um ihre Augen erkennen.
Das in Verbindung mit dem weiß gepuderten Gesicht erinnerte mich an einen Waschbären, nur dass Waschbären selten schwarzen Lippenstift auftragen. In ihren knöchelhohen, schwarzen Stiefeln ohne Socken stapfte sie durch den Dreck auf den Anleger zu und starrte zu mir hoch.
Die haarlose Bohnenstange folgte ihr in respektvollem Abstand. Wenn ich seine Blickrichtung richtig deutete, starrte er auf den Hintern der jungen Frau, die forsch auf das Schiff zugestapft kam.
»Du meine Güte«, entfuhr es mir unwillkürlich, als ich realisierte, dass sich dort höchstwahrscheinlich meine Besatzung näherte. Halt suchend griff ich nach der Reling.
»Du bist der Schiffsführer?«
Die Waschbärin blieb vor dem Schiff stehen und starrte zu mir hoch. Bei näherem Hinsehen schätzte ich die junge Frau auf keine zwanzig Jahre alt, und wenn man die Schminke aus dem Gesicht wusch, kam möglicherweise ein hübsches Mädel zum Vorschein. So sah sie furchterregend nach Vampir aus, und ich nahm mir spontan vor, in den nächsten vier Wochen viel Knoblauch zu essen, damit ich nicht eines Morgens mit Bissspuren am Hals aufwachte.
»Ich bin Lilith, deine Matrosin. Bitte um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen.« Sie hörte sich verbissen an. Aggressiv, genauer gesagt, beziehungsweise beides in Kombination. Verbissen und aggressiv. Keine gute Taktik, um seinen neuen Chef für sich einzunehmen.
Mittlerweile hatte der lange Kahlköpfige das Gothicmädchen eingeholt und baute sich neben ihr auf. Der Größenunterschied zwischen beiden betrug etwa einen halben Meter.
»Kalle Ruppert«, rief er zu mir hoch und starrte mich mit den braunen Augen eines traurigen Spaniels an. »Decksmann.«
Wind und Wetter hatten sein Gesicht braun gegerbt und ihm Tausende kleinster Furchen in die Haut gegraben. Ich schätzte ihn auf Ende vierzig. Er sah aus, als würde er sich schon seit Urzeiten auf Schiffsplanken herumtreiben, war von seinem Dienstgrad her aber erst Decksmann, die unterste nautische Stufe, was mich irritierte.
»Immer rein in die gute Stube.« Ich versuchte ein wenig Begeisterung in meine Aufforderung zu legen, aber es gelang mir nicht recht. Stattdessen machte ich auf den Hacken kehrt und stiefelte ziemlich lustlos den Niedergang hinunter.
Einen Moment lang verhaarten wir dann im Eingangsbereich des Schiffes unschlüssig voreinander, dann ergriff ich die Initiative und deutete durch die Tür in den Salon. Hier gab es sechs Sechsertische an der Steuerbordseite, sechs an der Backbordseite und sechs in der Mitte. Alle kahl, ohne die übliche Mindestdeko wie Tischläufer oder Mitteldecker.
Keine Blumen, keine Speisekarten, nicht einmal Bierdeckel.
Wer immer dieses Schiff an Bobsie verkauft hatte, war geizig genug gewesen, es komplett abzuräumen.
Die Stuhlbezüge, blau mit weißen Punkten, waren verschlissen, teilweise sogar löchrig, die nackten Tischplatten zierten Glasringe von vor Unzeiten servierter Getränke. Ich registrierte, wie die Blicke meiner neuen Crew von der dreckigen Tischplatte über das ramponierte Mobiliar und die Spinnweben vor den schlierigen Fenstern durch den Salon wanderten. Begeisterung sah anders aus.
Ich gab Händchen, wies einladend auf den nächstbesten Tisch und stellte mich vor. Dylan Crispin. Der Aushilfsschiffsführer.
»Lilith«, wiederholte das Gothicmädchen und klang genervt. »Matrose-Motorenwart. Binnenschifferausbildung auf einem Frachter und auf dem Schulschiff Rhein.«
Lange konnte sie den Abschluss noch nicht in der Tasche haben. Außerdem Grufti, Designerklamotten, Mercedes Cabrio und Binnenschifferausbildung? Ungewöhnlich und erfragenswert.
»Kommst du aus einer Binnenschifferfamilie?«
»Warum? Habe ich kein Anrecht auf eine Privatsphäre?«
Ich starrte sie perplex an, und einen Moment lang verschlug mir ihre Angriffslust komplett die Sprache. Privatsphäre auf einem kleinen Schiff wie diesem ist eine knifflige Angelegenheit, aber davon abgesehen, schien mir meine Frage das Normalste von der Welt zu sein. Die Frage eines Chefs, um die Motivation und die Fähigkeiten eines außergewöhnlichen Mitarbeiters einschätzen zu können.
Sie war noch sehr jung und damit auch unerfahren, aber wenn sie einer Schifferfamilie entstammte, vielleicht sogar auf einem Frachtschiff aufgewachsen, war die Ausgangslage eine ganz andere. Ich wollte ganz einfach wissen, ob ich mich im nautischen Bereich auf sie verlassen konnte, trotz ihrer Jugend. Ein Schiffsführer ist auf seinen Matrosen angewiesen. Wenn er fährt, und es gibt ein Problem, muss er wissen, dass der nach ihm nächsthöhere Nautiker im Maschinenraum das Richtige tut.
Dementsprechend gereizt reagierte ich. »Du meine Güte, ich wollte dir bestimmt nicht zu nahe treten. Mich interessiert einfach, warum du Binnenschiffer werden willst. Ich hatte eben noch keinen Gruftimatrosen, der ein rotes Cabriolet fährt. Außerdem werden wir die nächsten vier Wochen auf engstem Raum zusammenleben.« Ich deutete auf die Tür zum Kabinentrakt. »Es gibt da hinten zwei winzige Kabinen und ein Duschklo. Naturgemäß werden sich unsere Privatsphären da schon an der einen oder anderen Stelle tangieren.«
Kalle räusperte sich und hob wie ein Schüler beim Unterricht die Hand. Selbst vornübergebeugt und im Sitzen wirkte er riesig. Dabei messe ich selbst schon ein Meter fünfundachtzig.
»Ja? Der Schüler da vorn in der ersten Reihe.«
Matrosin Lilith verzog nicht einen Mundwinkel bei meinem gekünstelten Versuch, die angespannte Stimmung mit einem Scherz zu entladen. Das konnten vier lange Wochen werden, wenn wir uns nach fünf Minuten schon gegenseitig an die Hälse gingen.
»Ich bin zwei Meter und fünf und passe in keins von diesen Puppenstubenbetten. Deshalb übernachte ich lieber im Wohnwagen. Da is‘ ein großes Bett drin, und ich störe keinen mit meinem Schnarchen.«
Er sah ehrlich betrübt aus mit seinem faltigen Gesicht und den traurigen Spanielaugen. »Deshalb nehme ich nur Ablöserjobs auf Tagesausflugsschiffen an. Da kann ich meine Bettkugel am Anleger parken.«
Er deutete vage aus dem Fenster Richtung Wohnwagen.
Ich überlegte einen Moment, ob ich das zweite Fettnäpfchen auslassen oder einfach weiter voranpreschen sollte. Da aber meine diplomatischen Fähigkeiten selbst von meinen besten Freunden wohlwollend mit mangelhaft zensiert werden, entschied ich mich für den Angriff. Mehr als abgeschossen werden konnte ich nicht.
»Also selbst auf die Gefahr hin, als Privatsphären-Rambo in die Geschichtsbücher einzugehen, Kalle, für einen Decksmann bist du gewissermaßen schon ein Methusalem. Liege ich daher falsch, wenn ich bei dir auf einen nautischen Quereinsteiger tippe?«
Lilith mischte sich empört ein, während ihre schwarzen fransigen Haare sich noch stärker zu sträuben schienen als zuvor: »Ich finde das absolut nicht okay, wenn wir hier nach unseren intimsten ...«
»Pluster dich bloß nicht so auf, Kleine.« Kalle grinste und entblößte zwei Zahnlücken oben und unten rechts. Er wandte sich mir zu. »Das nächste Mal biete mir wenigstens eine Wette an. Von wegen Quereinsteiger. Ich bin alles, was du brauchst und möglicherweise sogar mehr. Schiffsführer, Bootsmann, Steuermann, Matrose-Motorenwart, Matrose und Decksmann. Diesmal eben nur Decksmann, das nächste Mal vielleicht Steuermann. Alles eine Sache von Angebot und Nachfrage. Ich hab‘ sogar Hochseepatent.«
Ein Seebär, also doch. Ich war beeindruckt, betete aber gleichzeitig darum, es möge nicht zu Revierkämpfen kommen. Zwischen wem auch immer.
»Ich bin der Matrose-Motorenwart«, protestierte Lilith prompt und funkelte ihn erbost an.
Kalle klapperte mit den Augenlidern. »Du? Lütte, du bist höchstens ein Frosch, der meint fliegen zu können.« Er lachte meckernd. »Wie wär’s denn mit Kinderkriegen? Die Binnenschifffahrt braucht Nachwuchs.«
Lilith fuhr mit blitzenden Augen hoch wie von der Tarantel gestochen, doch ich war schneller und versperrte ihr den Weg.
»Regt euch wieder ab, ihr zwei, okay? Wir werden zu viel mit diesem Schrottkahn zu tun haben, um uns gegenseitig zu zerfleischen. Daher gleich ein paar Regeln. Wir sind ein Team, kein Chaoshaufen. Jeder an Bord nimmt die Position ein, die in seinem Arbeitsvertrag steht. Vier Wochen, dann trennen sich unsere Wege wieder, aber in den vier Wochen verlange ich Einsatz und Leistung. Ich sah Kalle an. »Deinen Sexismus kannst du dir in den Allerwertesten schieben. Wir leben im dritten Jahrtausend.«
»Man darf doch wohl noch von der guten alten Zeit träumen.«
»Halt einfach die Klappe«, fauchte Lilith und gab es auf, gegen die Barriere in Form meines ausgestreckten Armes ankämpfen zu wollen.
»Ruhe verdammt noch mal.«
Wir setzten uns alle wieder, und ich kratzte demonstrativ mit dem Fingernagel an einem der Dreckränder auf dem Tisch. »Charterfahrt. Heute Abend. Ein Familientreffen, bei dem sich die oberen Zehntausend die Türklinke in die Hand geben. Adelige. O ja, ehe ich es vergesse. Es gibt keine Serviceleitung, nur zwei Servicekräfte, die der Caterer mitbringt.«
Ich sah auf, lächelte meine Crewmitglieder grimmig an und erntete ungläubiges Schweigen. »Wir haben genau sechseinhalb Stunden, den Kahn so weit in Schuss zu bringen, dass uns die Charterkunden nicht über die eigene Planke springen lassen. Falls dieses Schiff überhaupt eine eigene Planke hat.«
Durch die dreckige Fensterscheibe hinter Liliths Kopf fiel mein Blick auf das seltsame Fahrzeugduo auf dem Parkplatz - Wohnwagenkugel mit Göttinger Kennzeichen neben Mercedes Cabrio aus Kassel - und ich fragte mich, was für Pläne Lilith verfolgte. Ein teurer Wagen, Designerklamotten, die Nerven zum Zerreißen gespannt und dann ein Job in untergeordneter Position in einer Männerdomäne? Da stimmte was nicht.
Kalles Wagen dagegen war eine Rostschleuder per se. Sie passte zum Schiff und zu dem, was er von sich erzählt hatte. Während für Lilith Äußerlichkeiten und Statussymbole offenbar eine große Rolle spielten, wozu auch ihr Auftreten als Gothic zählte, begnügte sich Kalle mit dem, was ihm das Leben freiwillig bot. Sich etwas erkämpfen zu wollen oder zu müssen, dazu war er nicht der Typ. Zumindest schätzte ich ihn so ein. Kein Ehrgeiz, nur die satte Zufriedenheit des Status quo. Ein fahrbarer Untersatz, ein Bett, ein Schiff.
Ich war mir nicht sicher, ob ich einen meiner vorübergehenden Nautikerkollegen mochte, aber das musste ich schließlich auch nicht. Wie gesagt, unsere Wege kreuzten sich nur vorübergehend.
»Seit wann gibt es keine Serviceleitung auf Fahrgastschiffen?«, fragte Lilith, von ihrem Streit mit Kalle kurzzeitig abgelenkt, aber unvermindert angriffslustig und riss die Waschbärenaugen empört auf.
»Seit wann gibt es eine Matrosin-Motorenwartin?«, höhnte Kalle.
»Sexistisches Arschloch.« Liliths schwarze Lippen verzogen sich verächtlich.
»Pfui. Daddys kleines Gruftimädchen nimmt aber böse Worte in den Mund.«
Ich brüllte nur kurz, aber es reichte. Mir, um mich abzuregen, den anderen, in Deckung zu gehen.
»So. Wir haben sechseinhalb Stunden. Kalle und ich …«. Ich stutzte. »Entschuldigung, Lilith und ich verziehen uns in den Maschinenraum und sehen uns das Elend da unten an. Kalle sieht zu, dass er die Küchengeräte zum Laufen kriegt. Spezialitätenmaschine, Kaffeemaschine, Geschirrspüler. Alles, was einen Stecker hat.«
Kalle verzog das Gesicht, nickte dann aber ergeben. »Eine Putze wird wohl auch nicht vorbeikommen?«
»Wozu? Wir haben doch so einen tollen Allrounder an Bord. Ich bin alles, was du brauchst und möglicherweise noch mehr.«
Nach dieser letzten höhnischen Attacke stapfte Lilith hoch erhobenen Kopfes hinter mir her, Springerstiefel auf Eisen, als gelte es, das Schiff niederzutrampeln und nicht zum Fahren zu bringen.
Der Maschinenraum der Weserlust entpuppte sich für mich als siebter Kreis der Hölle. Motoren, Generatoren, Filter und was sonst noch alles in die Maschinenräume von Schiffen gehört, war unter einer derart dicken und klebrigen Öl-/Dreckkruste verschunden, dass ich mich an eine dieser grauen Mondlandschaften erinnert fühlte.
»Ich bin begeistert«, murmelte ich.
Lilith kniff unter ihren schwarzen, strubbeligen Haare die Augen zusammen und murmelte etwas nicht jugendfreies. Ihr weiß gepudertes Gesicht wies hier und da dunkle Punkte auf. Wir hatten beim Eintreten schwarzen Staub aufgewirbelt, der ganz offensichtlich hervorragende Hafteigenschaften aufwies.
»Hochdruckreiniger?«, fragte Lilith schließlich knapp und sachlich.
»Bietet sich an. Allerdings sieht das Schiff nicht so aus, als wüsste es, was das ist. Ich frage mich, wer den Kahn hierher überführt hat und ob die Weserlust dabei tatsächlich aus eigener Kraft fuhr oder bei einem Kollegen längsseits gekoppelt war.«
Ich seufzte. Während Lilith die wenigen Stauräume der Weserlust nach einem Hochdruckreiniger durchforstete, verließ ich ebenfalls den Maschinenraum und machte mich auf die Suche nach den Schiffspapieren.
Ohne gültiges Schiffsattest würde ich den schrottreifen Kahn keinen Meter weit bewegen.
Kalle kämpfte derweil in der Küche mit den Tücken der Technik. Besser gesagt mit der nicht vorhandenen Technik. Es gab zwar einen Kaffeeautomaten, aber beim ersten Selbstversuch spuckte er etwas aus, das nach Bilgenwasser aussah und auch so schmeckte. Eine Spezialitätenmaschine fehlte. Eine Serviceleitung, die ihm jetzt hätte sagen können, wie Plan B für die Charterfahrt am Abend aussah, ebenfalls.
Dafür gab es ein altertümliches Faxgerät, das plötzlich zu rattern begann und eine halbe Seite Anweisung zur Durchführung unserer abendlichen Charter ausspuckte. Zustieg der Gäste: 18.30 Uhr. Sektempfang. Abfahrt Schiff: 19.00 Uhr. Eröffnung des Buffets. Rückkehr Schiff zum Anleger: 23.30 Uhr, Ausklang bis 1 Uhr nachts. Klar Schiff machen, schlafen gehen. Erste Rundfahrt Sonntagmorgen: 10 Uhr und dann im Stundentakt mit einer Viertelstunde Verzögerung. Meckern zwecklos. Klagen ebenfalls. Die letzten beiden Punkte standen nicht wörtlich da, ergaben sich jedoch aus dem Telegrammstil der vorhergehenden Anweisungen.
Wow! Entweder hatte ich Bobsie unterschätzt oder in seinem Büro regierte eine grauhaarige Matrone mit vierzigjähriger Erfahrung in der Fahrgastschifffahrt. Keine Gefangenen. Wer aufmuckt, wird standrechtlich erschossen.
Ich kannte diese Madams von einem Dutzend anderer Reedereien.
Wir Nautiker sind ein eigenwilliges Völkchen. Wir steuern lieber selbst, als dass wir uns steuern lassen, was vor allem die ehemaligen Eigner trifft, die ihr Schiff aus der Not verkaufen mussten und nun gezwungen sind, meckernde Fahrgäste unter der Flagge irgendeines Idioten durch die Gegend zu schippern, der die Achterpiek nicht vom Salon unterscheiden kann.
Reedern wie Bobsie eben.
Was für mich als Springer eine vorübergehende Herausforderung ist, wird für die Dauerjobber unter den Nautikern zur ewigen Qual. Ihr Gefühl fordert: Hau dem Alten einfach in die Fresse, ihr Verstand: Zähne zusammenbeißen, deine Familie braucht das Geld.
Doch auch ein so arrogantes Arschloch von Reeder wie Bobsie ist ohne Bürofuchtel vom ersten Tag an zum Scheitern verurteilt. Dachten wir zumindest und tauften seine spontan Mathilda, ohne, dass wir ihr je persönlich begegnen sollten, da es weder sie noch ein Büro gab. Das allerdings wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Lilith und ich wurden beide fündig. Mathilda hatte Putzmittel jeglicher Art gekauft, unter anderem auch einen Hochdruckreiniger, und ich fand das stockfleckige Original des Schiffsattestes in einem Ringordner hinter der Theke. Das Attest lief tatsächlich in drei Monaten aus, dann würden die Jungs von der SUK auf der Matte stehen und große Augen bekommen. Das allerdings war dann nicht mehr mein Problem.
Zehn Minuten später kämpfte sich der Laster des Getränkelieferanten durch die tiefen Pfützen, dann ging es Schlag auf Schlag. Wäscheservice, Großmarkt und mittendrin der Wagen der Entsorgungsfirma, die das Öl-Wasser-Gemisch in der Bilge abpumpen sollte. Chaos pur, während sich Kalle und Lilith, sobald sie einander begegneten, wie zwei Zündhölzer in einem Treibgastank aneinander rieben.
Die Funken flogen in alle Richtungen, die Explosion schien unvermeidlich.
Wir schufteten wie die Berserker. Während Lilith die Decks mit dem Kärcher bearbeitete und Kalle in der Küche und im Salon die Dreckkrusten eingeweicht hatte, vertrieb ich die Spinnen aus dem Steuerhaus und ließ die Maschinen an. Dreimal röhrten die Motoren wie liebeskranke Elche auf, starben jedoch nach zehn Sekunden mit sattem Rülpsen wieder ab.
Beim vierten Versuch knallte es gewaltig, und aus dem Auspuff quoll schwarzer Dampf, der sich über dem Schiff zu einer Wolke zusammenballte, aus der es Rußflocken zu schneien begann. Unmittelbar darauf gab es keinen mehr an Bord, der nicht lautstark fluchte und mir Prügel androhte.
Lilith begann die Säuberung der Decks von vorn, der Caterer versenkte versehentlich eine seiner silbernen Servierplatten im Fluss, als sie ihm beim Entsorgen der rußgeschwärzten Vorspeisenhäppchen aus den Fingern rutschte. Kalle, der mittlerweile außenbords die Fenster putzte, schimpfte wie ein Rohrspatz, während der Ruß an seiner Glatze haften blieb, und ihm das Aussehen eines langstieligen Fliegenpilzes verlieh.
Und bei jeder sich bietenden Gelegenheit gingen Lilith und Kalle weiterhin wie zwei aufgestachelte Kampfhähne aufeinander los. Noch zwar nur mit Worten, aber ich sah es förmlich vor mir, wie sie sich bei der abendlichen Charterfahrt mit Messern bewaffnet quer durch den Salon jagten. Vampir jagt Leuchtturm. Alles nur eine Frage der Zeit.
Drei Stunden vor Ankunft der Chartergäste nahm ich sie mir einzeln zur Brust, zwei Stunden vorher zwang ich sie zu einer gemeinsamen Kaffeepause in meiner Gegenwart. Keine Chance. Wir Schiffsleute sind nun mal ausgeprägte Individualisten, und wenn zwei solche verqueren Charaktere aufeinandertreffen, zucken gelegentlich auch Blitze durch die aufgeladene Atmosphäre.
Manchmal hilft da nur brüllen. Ich tat es erneut, eine Stunde vor Ankunft der Gäste und siehe da: Der Zorn beider wechselte ganz einfach ihr Ziel. Nun war ich der Arsch, aber da ich diese Spielchen wechselnder Allianzen schon von der Meerjungfrau kannte, überraschte es mich nur mäßig.
Dann raste ich mit dem Mountainbike in die Innenstadt, um Kerzen zu kaufen. Bei meinem verzweifelten Versuch, mich im Eiltempo durch die Touristenströme zu navigieren, fuhr ich beinahe eine elegant gekleidete Frau über den Haufen, die mir vage bekannt vorkam. Ich legte eine actionfilmreife Vollbremsung hin, bei der mein Hinterrad herumschleuderte, und wollte mich gerade entschuldigen, als sie mir zuvorkam.
»Dylan Mein Gott, was machst du denn hier?«
Ich starrte sie an und überlegte krampfhaft. »Susann?«, tastete ich mich vorsichtig vor. Wie hatte sie bloß mit Nachnamen geheißen?
»In eigener Person.« Sie lachte ihr breites Julia Roberts Lachen, und im Bruchteil einer Sekunde schüttete irgend ein Jemand über mir einen ganzen Sack voller Erinnerungen aus. Ich war wieder siebzehn, ein nimmersatter Matrose und Draufgänger, der bei seinen Landgängen jedes Mädel abschleppte, das sich nicht bei drei auf den nächstbesten Baum rettete. Die einen waren ähnlich locker eingestellt gewesen wie ich, den anderen hatte ich die ihre liebenden Teenagerherzen gebrochen, als ich sie für das nächste Mädel am nächsten Anleger fallen ließ.
Susann gehörte damals zur zweiten Gruppe. Ich konnte mich noch deutlich an ihre verzweifelten Versuche erinnern, die Trennung rückgängig zu machen. Briefe, Anrufe, die einsame Gestalt am Mittellandkanal, die dem Frachtschiff hinterherwinkte, auf dem ich damals arbeitete. Mein Blick aus dem Pantryfenster auf dieses chluchzende Häufchen Elend, das an unserer Liegestelle auf einem Poller hockte und verzweifelt darauf hoffte, mich abfangen zu können, sobald ich das Schiff verließ.
Kurze Zeit später hatte ich, nicht zuletzt deswegen, für ein Jahr auf einem Bunkerboot in Frankreich angeheuert und sie komplett aus den Augen verloren.
Einen Moment lang starrten wir uns verlegen an. Auch sie schienen die Erinnerungen plötzlich wie eine Dampfwalze zu überrollen. Auf ihren hohen Wangenknochen erblühten rote Flecken.
»Hi«, brachte ich schließlich über die Lippen, dann mussten wir beide lachen.
»Vergeben?«, ging ich endlich in die Offensive.
»Vergeben und vergessen«, lachte sie, aber ich hörte heraus, dass sie nicht ganz die Wahrheit sagte. Eine verschmähte erste Liebe wirkt manchmal das halbe Leben lang nach, das weiß keiner besser als ich, denn so wie ihr war es mir kein halbes Jahr später mit meiner großen Jugendliebe ergangen. Manchmal gibt es im Leben doch so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit.
Susann sah umwerfend aus, wie sie da vor mir stand, die Hände halb in die Taschen ihrer eleganten schwarzen Jeans geschoben. Groß, schlank, rothaarig und mit leicht verschatteten braunen Augen. Sogar ein paar Sommersprossen hatten sich in ihr Erwachsenenleben hinübergerettet.
Kein Ehering am Finger, soweit ich das erkennen konnte bei ihrem unruhigen Auf- und Abwippen auf den Zehenspitzen.
»Hast du Zeit für einen Kaffee?«
Beinahe hätte ich in dem unwiderstehlichen Bedürfnis, meine Jugendsünden wieder gutmachen zu wollen ja, klar doch gesagt, da fiel mir gerade noch rechtzeitig die vermaledeite Charter wieder ein.
»Geht leider nicht. Ich muss arbeiten.«
»Arbeitest du immer noch als Nautiker?«
»Ja. Das heißt eigentlich nein. Oder besser gesagt nicht nur. Ist schwierig zu erklären. Wohnst du hier, oder bist du nur auf der Durchreise?« Ich merkte selbst, wie verworren ich mich anhörte, und beeilte mich, den Schwachsinn, den ich von mir gab, zu einem versöhnlichen Ende zu bringen. »Sonst könnten wir morgen zusammen etwas trinken gehen?«
Sie wich kurz meinem fragenden Blick aus, und ich hörte förmlich ihre Gedanken kreisen.
»Ich ruf dich an, okay?«
Ein klares Vielleicht, aber mein Gott, hatte ich es anders verdient? War es nicht ein Wunder, dass sie überhaupt mit mir sprach? Trotzdem stockte auch ich kurz. Nicht, dass wir die alten Zeiten kopierten, und ich mir später eine neue Handynummer zulegen musste. Seit damals waren wir allerdings fünfzehn Jahre älter und reifer geworden. Hoffte ich zumindest, als ich ihr meine Nummer diktierte und sie mich von ihrem iPhone anrief, damit ich ihre Nummer abspeichern konnte.
Wir trennten uns mit der gegenseitigen Versicherung des gegenseitigen Anrufens, was sich in meiner Vorstellung irgendwie gegenseitig neutralisierte, und ich schwang mich wieder aufs Mountainbike. In der nächstbesten Drogerie kaufte ich Kerzen und eine Packung Kondome - nur für den Fall der Fälle - und raste zum Anleger zurück.
Auf dem Schiff herrschte große Aufregung. Die Servicekräfte waren nicht erschienen, der Caterer ein Nervenbündel, das wie wild auf seinem Smartphone herumtippte und nach Handynummern suchte, die es anrufen konnte. Kalle deckte noch immer die Tische mit Serviettenkreationen ein, die mich darüber grübeln ließen, ob er Fächer oder Pfaffenhüte hatte falten wollen. Derweil schenkte Lilith Sekt in Gläser und nahm, als sie sich unbeobachtet fühlte, einen kräftigen Schluck aus der Pulle.
Erst als oben schon die ersten Limousinen von der Straße abbogen, stoben wir panisch auseinander, um uns umzuziehen.
Als ich mich im Spiegel betrachtete, starrte mir ein großäugiges Gespenst mit wirren braunen Locken und einem schwarzstoppeligen Kinn entgegen. Die Narbe, die zackig von der rechten Wange zum Hals hinunter verlief, stach hell von der braunen Haut ab. Der Wäschedienst hatte uns mit den Tischdecken und Servietten auch frisch gebügelte Pilotenhemden geliefert, sodass wir wenigstens vom Hals abwärts wie reinliche Nautiker aussahen. Mit den Schulterklappen, vier Streifen, ein Stern, sollte ich auch als Schiffsführer erkannt werden.
Ein paar Wochen Erholung von Hollerbeck sah anders aus. Vielleicht konnte ich im Anschluss an diesen Springerjob eine Reha beantragen.