Читать книгу Jane Eyre. Eine Autobiografie - Charlotte Bronte - Страница 11

Kapitel 7

Оглавление

Mein erstes Vierteljahr in Lowood kam mir vor wie ein ganzes Zeitalter, und zwar keineswegs wie das Goldene. Ich führte einen beschwerlichen Kampf gegen die Schwierigkeiten, die es mir bereitete, mich an die neuen Regeln und ungewohnten Aufgaben zu gewöhnen. Die Angst, etwas falsch zu machen, quälte mich mehr als die körperlichen Entbehrungen und Härten, denen ich ausgesetzt war, obwohl auch diese nicht gerade gering waren.

Während des Januars, Februars und eines Teils des März hinderten uns zunächst der hohe Schnee und, als dieser weggetaut war, die nahezu unpassierbaren Wege daran, uns – vom Kirchgang abgesehen – außerhalb der Gartenmauern aufzuhalten; innerhalb dieser Grenzen aber mussten wir täglich eine Stunde im Freien zubringen. Unsere Kleidung vermochte uns nicht ausreichend gegen die strenge Kälte zu schützen. Wir hatten keine Stiefel, der Schnee drang in unsere Schuhe und schmolz dort; unsere bloßen Hände wurden starr und bekamen ebenso Frostbeulen wie unsere Füße. Ich erinnere mich noch gut an die fast unerträglichen Schmerzen, die ich deshalb allabendlich ertragen musste, wenn meine Füße sich entzündeten, und an die Tortur, meine geschwollenen, wunden und steifen Zehen am Morgen wieder in die Schuhe zu zwängen. Auch die karge Kost machte uns sehr zu schaffen: Wir hatten den gesunden Appetit heranwachsender Kinder und bekamen doch so wenig zu essen, dass man damit kaum einen schwächlichen Kranken hätte am Leben erhalten können. Die ungenügende Verpflegung führte zu einem Missstand, unter dem besonders die jüngeren Schülerinnen zu leiden hatten, denn die großen Mädchen nahmen jede Gelegenheit wahr, die Kleinen durch Schmeicheleien oder Drohungen dazu zu bringen, ihnen ihre Portionen zu überlassen. So manches Mal habe ich das kostbare Stückchen Schwarzbrot, das es zur Teezeit gab, an zwei ältere Schülerinnen abgetreten, und wenn ich dann noch einer dritten die Hälfte des Kaffees aus meinem Becher abgeben musste, trank ich den Rest unter verstohlen fortgewischten Tränen, die mir der quälende Hunger in die Augen trieb.

Die Sonntage waren in dieser winterlichen Jahreszeit besonders trübselig. Wir mussten zwei Meilen bis zur Kirche von Brocklebridge gehen, wo unser Gönner den Gottesdienst hielt. Uns war schon kalt, wenn wir uns auf den Weg machten, und noch kälter, wenn wir bei der Kirche ankamen; während des Morgengottesdienstes erstarrten wir dann beinahe vollends vor Kälte. Da es zu weit war, um zum Mittagessen zurückzukehren, wurde zwischen den Gottesdiensten ein Imbiss aus kaltem Fleisch und Brot ausgeteilt, und dies in ebenso kärglichen Portionen, wie wir sie von unseren übrigen Mahlzeiten her gewohnt waren.

Sobald der Nachmittagsgottesdienst vorüber war, gingen wir auf einer hügeligen, ungeschützten Straße zurück, wo uns der bitterkalte Winterwind, der über die schneebedeckten Bergkuppen im Norden blies, fast die Haut vom Gesicht riss.

Ich erinnere mich noch, wie Miss Temple, ihren im eisigen Wind flatternden Wollumhang fest um sich geschlungen, leichten und raschen Schritts an unseren matt sich dahinschleppenden Reihen entlangging und uns durch ihr Beispiel und aufmunternde Worte anspornte, nicht zu verzagen und – wie sie sich ausdrückte – »wie tapfere Soldaten« weiterzumarschieren. Die übrigen Lehrerinnen, die armen Dinger, waren meist selbst viel zu niedergeschlagen, um auch nur zu versuchen, andere aufzuheitern.

Wie sehr sehnten wir uns nach dem Licht und der Wärme eines helllodernden Kaminfeuers, wenn wir dann endlich angekommen waren! Doch zumindest den Kleinen blieb auch dies versagt, denn die beiden Kamine im Schulzimmer waren im Nu von zwei Reihen größerer Mädchen umlagert, und hinter ihnen kauerten sich die jüngeren Kinder in Gruppen zusammen und wickelten ihre erfrorenen Arme in die Schürzen.

Einen kleinen Trost gab es dann zur Teezeit in Form einer doppelten Ration Brot – einer ganzen Scheibe anstelle einer halben, die als köstliche Zugabe hauchdünn mit Butter bestrichen war. Dies war das wöchentliche Festmahl, auf das wir uns alle von Sonntag zu Sonntag freuten. Meistens gelang es mir, die Hälfte dieses üppigen Mahles für mich zu behalten, den Rest musste ich jedoch unweigerlich abgeben.

Der Sonntagabend wurde damit zugebracht, den Katechismus und das fünfte, sechste und siebte Kapitel aus dem Matthäusevangelium auswendig aufzusagen und anschließend einer langen Predigt zuzuhören, die Miss Miller vorlas. Ihr wiederholtes Gähnen, das sie nicht unterdrücken konnte, verriet ihre Müdigkeit. Häufig wurden diese Pflichtübungen dadurch unterbrochen, dass etwa ein halbes Dutzend kleiner Mädchen die Rolle des Eutychus spielte: Vom Schlaf übermannt, fielen sie zu Boden – zwar nicht aus dem dritten Stock, aber immerhin von den Bänken der vierten Klasse – und wurden halbtot aufgehoben. Um Abhilfe zu schaffen, stieß man sie in die Mitte des Klassenzimmers, wo sie bis zum Ende der Predigt stehen bleiben mussten. Manchmal versagten ihnen die Beine den Dienst, und sie sanken auf ein Häufchen zusammen; dann wurden sie gegen die hohen Hocker der Klassenaufseherinnen gelehnt.

Ich habe Mr. Brocklehursts Besuche noch nicht erwähnt, und tatsächlich war dieser Herr während des größten Teils des ersten Monats nach meiner Ankunft verreist. Vielleicht hatte er seinen Besuch bei seinem Freund, dem Archidiakon, ausgedehnt; jedenfalls empfand ich über seine Abwesenheit Erleichterung. Ich brauche wohl nicht zu sagen, dass ich meine Gründe hatte, sein Erscheinen zu fürchten; aber schließlich kam er doch.

Als ich eines Nachmittags (ich war nun schon drei Wochen in Lowood) mit meiner Schiefertafel in der Hand dasaß und mir über das Ergebnis einer ungekürzten Division den Kopf zerbrach, schweifte mein Blick geistesabwesend zum Fenster und fiel auf eine Gestalt, die draußen gerade vorüberging. Nahezu instinktiv erkannte ich die hagere Silhouette; und als sich zwei Minuten später alle, auch die Lehrerinnen, geschlossen erhoben, brauchte ich nicht aufzusehen, um zu wissen, wem diese Begrüßung galt. Lange Schritte durchmaßen das Klassenzimmer, und gleich darauf ragte neben Miss Temple, die ebenfalls aufgestanden war, dieselbe schwarze Säule empor, die mich in Gateshead vom Kaminteppich aus so unheilvoll und finster gemustert hatte. Verstohlen warf ich einen Blick auf dieses architektonische Gebilde. Ich hatte mich nicht geirrt: es war Mr. Brocklehurst, bis oben hin zugeknöpft in seinem einreihigen Überzieher, und er sah noch länger, hagerer und strenger aus als je zuvor.

Ich hatte allen Grund, über diese Erscheinung bestürzt zu sein. Nur zu gut erinnerte ich mich an die hinterhältigen Anspielungen Mrs. Reeds hinsichtlich meines Charakters etc. und die von Mr. Brocklehurst gegebene Zusage, Miss Temple und die Lehrerinnen über meine verwerfliche Veranlagung zu unterrichten. Die ganze Zeit über hatte ich schon voller Angst auf die Einlösung dieses Versprechens gewartet – täglich hatte ich nach dem zurückkehrenden Mann Ausschau gehalten, dessen Enthüllungen über meine Vergangenheit und meinen bisherigen Lebenswandel mich für immer und ewig als böses Kind brandmarken würden. Nun war er da. Er stand neben Miss Temple und sprach leise auf sie ein. Ich zweifelte nicht daran, dass er ihr meine ganze Niederträchtigkeit offenbarte. Von quälender Angst erfüllt, beobachtete ich ihre Miene und erwartete, dass sie im nächsten Moment ihre dunklen Augen auf mich richten und mich voller Abscheu und Verachtung ansehen würde. Ich lauschte auch aufmerksam, und da ich zufällig ziemlich weit vorne saß, konnte ich fast alles verstehen. Was ich hörte, zerstreute zumindest vorläufig meine Besorgnis.

»Ich nehme an, Miss Temple, der Zwirn, den ich in Lowton gekauft habe, wird genügen. Mir schien die Qualität gerade richtig für die Kattunhemden, und ich habe auch die passenden Nadeln dazu besorgt. Sie können Miss Smith sagen, dass ich vergessen habe, mir wegen der Stopfnadeln eine entsprechende Notiz zu machen; sie wird aber nächste Woche einige Briefchen zugeschickt bekommen. Und keinesfalls soll sie mehr als eine Nadel pro Schülerin ausgeben – wenn sie mehrere haben, werden sie nur nachlässig und verlieren sie. Und, ach ja, Miss Temple, ich wünsche, dass besser auf die Wollstrümpfe geachtet wird. Als ich das letzte Mal hier war, ging ich in den Küchengarten und sah mir die Wäsche an, die zum Trocknen auf der Leine hing. Eine ganze Menge schwarzer Strümpfe befand sich in einem äußerst schlechten Zustand; die Größe der Löcher ließ keinen Zweifel daran, dass sie nicht regelmäßig ausgebessert wurden.«

Er hielt inne.

»Ihre Anordnungen sollen befolgt werden, Sir«, sagte Miss Temple.

»Außerdem, Madame«, fuhr er fort, »berichtet mir die Waschfrau, einige der Mädchen bekämen zwei saubere Kragen pro Woche. Das ist zu viel; die Hausordnung sieht nur einen vor.«

»Ich glaube, das kann ich erklären, Sir. Agnes und Catherine Johnstone waren vergangenen Donnerstag bei Freunden in Lowton zum Tee eingeladen, und da habe ich ihnen erlaubt, saubere Kragen anzulegen.«

Mr. Brocklehurst nickte.

»Nun, dieses eine Mal mag es durchgehen, aber bitte sorgen Sie dafür, dass es nicht zu oft vorkommt. Und da ist noch etwas, das mich sehr erstaunt hat: Bei der Abrechnung mit der Wirtschafterin stelle ich fest, dass innerhalb der letzten vierzehn Tage an die Mädchen zweimal ein Imbiss, bestehend aus Brot und Käse, ausgegeben wurde. ›Was bedeutet das?‹, frage ich mich. Ich sehe die Hausordnung durch und finde darin eine solche Mahlzeit nicht erwähnt. Wer hat diese Neuerung eingeführt? Und mit welcher Befugnis?«

»Dafür bin ich verantwortlich, Sir«, erwiderte Miss Temple. »Das Frühstück war so schlecht zubereitet, dass die Schülerinnen es unmöglich essen konnten, und ich wagte es nicht, sie bis zum Mittagessen fasten zu lassen.«

»Gestatten Sie einen Augenblick, Madame. Sie wissen doch, dass mein Erziehungskonzept nicht darin besteht, diese Mädchen an ein Leben in Luxus und Überfluss zu gewöhnen, sondern sie zu abgehärteten, geduldigen, sich selbst verleugnenden Geschöpfen zu machen. Sollte gelegentlich einmal ihr Appetit nicht befriedigt werden, weil etwa eine Mahlzeit verdorben, ein Gericht zu wenig oder zu stark gewürzt ist, so darf dies nicht dadurch ausgeglichen werden, dass für die entgangene Erquickung etwas Schmackhafteres nachgereicht wird. Dies führt nur zu einer Verweichlichung des Körpers und untergräbt die Ziele dieser Anstalt. Ein derartiger Vorfall sollte vielmehr zur geistigen Erbauung der Schülerinnen genützt werden, indem man sie ermuntert, angesichts zeitweiliger Entbehrung Seelenstärke zu beweisen. Bei solchen Gelegenheiten wäre eine kurze Ansprache nicht unangebracht, in der ein umsichtiger Lehrer an die Leiden der ersten Christen erinnern sollte – an die Qualen der Märtyrer, an die Aufforderung unseres Gelobten Herrn Jesus Christus, der Seine Jünger aufrief, ihr Kreuz auf sich zu nehmen und Ihm zu folgen, an Seine Mahnung, dass der Mensch nicht von Brot allein lebt, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt, und an Seinen göttlichen Trost: ›Selig seid ihr, die ihr um Meinetwillen Hunger und Durst leidet.‹ Ach, Madame, wenn Sie die Münder dieser Kinder mit Brot und Käse stopfen anstatt mit angebranntem Haferbrei, dann stärken Sie zwar wahrlich ihren schnöden Leib, aber Sie bedenken nicht, wie sehr Sie ihre unsterblichen Seelen darben lassen!«

Wieder hielt Mr. Brocklehurst inne – vielleicht von seinen eigenen Gefühlen überwältigt. Miss Temple, die anfangs den Blick gesenkt hatte, als er mit ihr sprach, schaute nun geradeaus, und ihr Gesicht, ohnehin so bleich wie Marmor, schien nun auch ebenso kalt und reglos. Vor allem ihre Lippen waren so fest zusammengepresst, dass wohl der Meißel eines Bildhauers vonnöten gewesen wäre, um sie zu öffnen. Ihr Antlitz wurde zunehmend ernster und wirkte schließlich wie versteinert.

Unterdessen musterte Mr. Brocklehurst, der mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor dem Kamin stand, majestätisch die versammelte Schulgemeinde. Plötzlich zuckte sein Auge, als sei es von etwas geblendet oder beleidigt worden. Er drehte sich um und wandte sich in weitaus weniger gemessenem Ton als bisher an die Schulleiterin:

»Miss Temple, Miss Temple, was – was ist das für ein Mädchen mit gelocktem Haar? Rotem Haar, Miss Temple, und Locken – den ganzen Kopf voller Locken?« Seine Hand zitterte, als er mit ausgestrecktem Stock auf das entsetzliche Ding wies.

»Das ist Julia Severn«, erwiderte Miss Temple völlig ruhig.

»So, Julia Severn! Und warum hat sie oder sonst eines der Mädchen Locken? Wie kommt sie dazu, sämtliche Gebote und Grundsätze dieses Hauses zu missachten und so offen dem sündhaften Leben und Treiben der Welt zu huldigen – hier, in einem Hort des Evangeliums, einer wohltätigen Einrichtung –, dass sie es wagt, ihr Haar in einer Fülle von Locken zu tragen?«

»Julias Haar ist von Natur aus lockig«, entgegnete Miss Temple noch ruhiger.

»Von Natur aus! Ja, aber wir dürfen uns der Natur nicht unterwerfen. Diese Mädchen sollen Kinder der Gnade sein! Weshalb diese Haarfülle? Ich habe doch wieder und immer wieder deutlich zu verstehen gegeben, dass das Haar schlicht, züchtig und straff nach hinten gekämmt zu sein hat. Miss Temple, die Haare dieses Mädchens müssen ganz kurz abgeschoren werden; ich werde morgen einen Barbier herschicken. Ich sehe auch noch andere, die viel zu viel von diesem überflüssigen Zeug haben – dieses große Mädchen dort, sagen Sie ihr, sie soll sich umdrehen. Lassen Sie die ganze erste Klasse aufstehen – mit dem Gesicht zur Wand.«

Miss Temple fuhr sich mit dem Taschentuch über den Mund, als wolle sie das Lächeln fortwischen, das unwillkürlich ihre Lippen umspielte. Sie erteilte jedoch den Befehl, und sobald die Schülerinnen der ersten Klasse begriffen hatten, was man von ihnen verlangte, gehorchten sie. Wenn ich mich auf meiner Bank etwas zurücklehnte, konnte ich die Blicke und Grimassen sehen, mit denen sie diese Maßnahme kommentierten. Schade, dass Mr. Brocklehurst sie nicht sah, sonst hätte er vielleicht gemerkt, dass er zwar das Äußere der Becher und Schüsseln beeinflussen konnte, ihr Inneres aber seinem Zugriff viel weiter entzogen war, als er glaubte.

Etwa fünf Minuten lang begutachtete er eingehend die Kehrseiten dieser lebenden Medaillen, dann verkündete er sein Urteil. Seine Worte erschallten wie die Posaune am Tag des Jüngsten Gerichts.

»All diese Haarknoten müssen abgeschnitten werden!«

Miss Temple schien Einwände zu erheben.

»Madame«, fuhr er fort, »ich habe einem Herrn zu dienen, dessen Reich nicht von dieser Welt ist. Meine Aufgabe ist es, in diesen Mädchen die Fleischeslust abzutöten, sie zu lehren, sich züchtig und schlicht zu kleiden, nicht mit geflochtenem Haar und kostbaren Gewändern. Und jedes dieser jungen Mädchen hier vor uns trägt sein Haar zu Knoten geflochten, die die Eitelkeit selbst gewoben haben könnte! Diese Knoten, ich sage es noch einmal, müssen abgeschnitten werden. Denken Sie doch nur an die vergeudete Zeit, an –«

Hier wurde Mr. Brocklehurst unterbrochen; drei weitere Besucher – Damen – betraten den Raum. Sie hätten etwas früher kommen sollen, um seinen Vortrag über Kleidung zu hören, denn sie waren mit Samt, Seide und Pelzen prächtig angetan. Die beiden jüngeren des Trios (zwei hübsche Mädchen von sechzehn und siebzehn Jahren) trugen graue, mit Straußenfedern geschmückte hohe Hüte, wie sie damals Mode waren, und unter den Rändern dieser anmutigen Kopfbedeckung fiel eine wahre Flut kunstvoll gelockten blonden Haares hervor. Die ältere Dame war in einen kostbaren, mit Hermelin besetzten Samtumhang gehüllt und hatte eine Perücke auf, deren Locken ihre Stirn bedeckten.

Diese Damen wurden von Miss Temple ehrerbietig als Frau bzw. die Fräulein Brocklehurst begrüßt und zu den Ehrenplätzen am oberen Ende des Klassenzimmers geleitet. Offenbar waren sie zusammen mit ihrem hochwürdigen Familienoberhaupt in der Kutsche gekommen und hatten die oberen Räume eingehend inspiziert und durchstöbert, während er mit der Wirtschafterin das Geschäftliche erledigte, die Waschfrau ausfragte und der Schulleiterin einen Vortrag hielt. Nun wandten sie sich mit verschiedenen Bemerkungen und Vorwürfen an Miss Smith, die für die Pflege der Bettwäsche und die Inspizierung der Schlafsäle zuständig war, doch ich hatte keine Zeit, mir anzuhören, was sie vorbrachten: andere Dinge lenkten mich ab und fesselten meine Aufmerksamkeit.

Während ich das Gespräch zwischen Mr. Brocklehurst und Miss Temple verfolgte, war ich gleichzeitig darauf bedacht gewesen, Vorsichtsmaßregeln zu meiner persönlichen Sicherheit zu beachten, die ich für gewährleistet hielt, wenn es mir nur gelang, nicht aufzufallen. Zu diesem Zweck hatte ich mich auf meiner Bank weit nach hinten gesetzt, so getan, als sei ich in meine Rechenaufgabe vertieft, und dabei meine Schiefertafel so gehalten, dass sie mein Gesicht verbarg. Vielleicht wäre ich der Entdeckung entgangen, wäre mir meine verräterische Tafel nicht irgendwie aus der Hand geglitten und mit entsetzlichem Krach zu Boden gefallen. Aller Augen waren sofort auf mich gerichtet; ich wusste, dass nun alles vorbei war, und als ich mich bückte, um die beiden Teile aufzuheben, in die die Tafel zerbrochen war, machte ich mich auf das Schlimmste gefasst. Es kam.

»Ein unachtsames Mädchen!«, sagte Mr. Brocklehurst, und gleich darauf: »Ach, das ist ja die neue Schülerin!« Und ehe ich Atem schöpfen konnte, fügte er hinzu: »Ich darf nicht vergessen, noch ein paar Worte über sie zu sagen.« Dann befahl er laut – wie laut kam es mir vor! –: »Das Kind, das die Tafel zerbrochen hat, soll vortreten!«

Aus eigener Kraft hätte ich mich nicht rühren können, ich war wie gelähmt. Doch die beiden großen Mädchen, die rechts und links neben mir saßen, stellten mich auf die Beine und schoben mich dem gefürchteten Richter entgegen. Dann geleitete mich Miss Temple sanft bis vor seine Füße, und ich vernahm ihren geflüsterten Rat:

»Hab keine Angst, Jane, ich habe gesehen, dass es keine Absicht war. Du sollst nicht bestraft werden.«

Die freundlichen Worte trafen mich wie ein Dolchstoß mitten ins Herz. ›Gleich wird sie mich als Heuchlerin verachten‹, dachte ich, und diese Gewissheit ließ in mir plötzlich unbändige Wut auf Reed, Brocklehurst und Co. aufsteigen. Ich war eben keine Helen Burns.

»Holt den Stuhl dort«, befahl Mr. Brocklehurst und zeigte auf einen sehr hohen Hocker, von dem sich eben eine der Klassenaufseherinnen erhoben hatte. Man brachte ihn. »Stellt das Kind darauf.«

Ich wurde hinaufgehoben – von wem, weiß ich nicht. Ich war in einer Verfassung, in der ich keine Einzelheiten mehr wahrnahm. Mir war nur bewusst, dass ich mich nun auf gleicher Höhe mit Mr. Brocklehursts Nase befand, dass er keinen Meter von mir entfernt war und dass sich unter mir ein Meer von Umhängen aus schillernder orange- und purpurfarbener Seide ausbreitete und wogte, über dem eine Wolke silbergrauer Federn schwebte.

Mr. Brocklehurst räusperte sich.

»Meine Damen«, sagte er zu seiner Familie gewandt, »Miss Temple, Lehrerinnen und Kinder, seht ihr alle dieses Mädchen?«

Natürlich sahen sie mich, denn ich spürte ja ihre Blicke, die wie Brenngläser auf meine glühend heiße Haut gerichtet waren.

»Ihr seht, sie ist noch jung; ihr bemerkt, dass sie aussieht wie ein ganz gewöhnliches Kind. Gott hat ihr in Seiner Gnade die Gestalt gegeben, die Er jedem von uns verliehen hat; keine einzige Missbildung weist darauf hin, dass sie bereits gezeichnet ist. Wer würde glauben, dass der Satan in ihr schon eine Dienerin und ein Werkzeug gefunden hat? Und doch muss ich leider sagen, dass dies der Fall ist.«

Es trat eine kurze Pause ein, während der ich allmählich die Lähmung meiner Nerven bezwang. Ich fühlte, dass der Rubikon überschritten war und ich die nun unvermeidliche Prüfung standhaft über mich ergehen lassen musste.

»Meine lieben Kinder«, fuhr der Geistliche, der aussah, als sei er aus schwarzem Marmor gemeißelt, pathetisch fort, »dies ist ein trauriger, ein schmerzlicher Augenblick, denn es ist meine Pflicht, euch darauf aufmerksam zu machen, dass dieses kleine Mädchen, das ein Lamm Gottes sein könnte, eine Verworfene ist – sie gehört nicht zur wahren Herde, sondern ist ganz offenkundig eine Fremde, ein Eindringling. Ihr müsst vor ihr auf der Hut sein; ihr Beispiel müsst ihr meiden – wenn nötig, flieht ihre Gesellschaft, schließt sie von euren Spielen aus und lasst sie nicht an euren Gesprächen teilhaben. Lehrerinnen, Sie dürfen sie nicht aus den Augen lassen! Überwachen Sie jeden ihrer Schritte, wägen Sie ihre Worte ab, überprüfen Sie ihre Taten, züchtigen Sie ihren Körper, um ihre Seele zu retten – falls eine solche Rettung überhaupt noch möglich ist, denn – meine Zunge weigert sich fast, es zu sagen – dieses Mädchen, dieses Kind, das in einem christlichen Land geboren wurde und aufwuchs, ist schlimmer als manch kleine Heidin, die zu Brahma betet und vor Jagannath auf die Knie fällt – dieses Mädchen ist – eine Lügnerin!«

Nun folgte eine Pause von zehn Minuten, während der ich – mittlerweile wieder völlig Herr meiner fünf Sinne – beobachtete, wie alle weiblichen Brocklehursts ihre Taschentücher hervorzogen und sie an die Augen führten, wobei sich die ältere Dame hin und her wiegte und die beiden jüngeren flüsterten: »Wie entsetzlich!«

Mr. Brocklehurst sprach weiter.

»Dies erfuhr ich von ihrer Wohltäterin – der frommen und mildtätigen Dame, die die Waise zu sich nahm, sie wie eine eigene Tochter aufgezogen und deren Güte und Großzügigkeit dieses unglückliche Mädchen mit einer so schlimmen, so schrecklichen Undankbarkeit vergolten hat, dass sich ihre vortreffliche Gönnerin schließlich gezwungen sah, sie von ihren eigenen Kindern zu trennen, weil sie fürchtete, ihr verwerfliches Beispiel könnte deren Reinheit beflecken. Sie hat sie hierher geschickt, damit sie geheilt werde, so wie die Juden früher ihre Kranken zu den aufwallenden Wassern des Teichs Betesda schickten. Und, Lehrerinnen, Schulleiterin, ich fordere Sie auf, die Wasser um sie nicht stille werden zu lassen.«

Mit diesen erhabenen Schlussworten knöpfte Mr. Brocklehurst den obersten Knopf seines Überziehers zu, murmelte etwas zu seiner Familie, die sich daraufhin erhob, verabschiedete sich mit einem knappen Kopfnicken von Miss Temple, und dann segelten all diese bedeutenden Leute majestätisch und stolz aus dem Raum. An der Tür wandte sich mein Richter nochmals um und sagte:

»Lassen Sie sie noch eine halbe Stunde auf dem Hocker stehen, und sorgen Sie dafür, dass heute niemand mehr mit ihr spricht.«

Da stand ich nun hoch oben am Pranger – ich, die ich behauptet hatte, ich könnte die Schmach nicht ertragen, auf meinen eigenen Füßen mitten im Zimmer zu stehen, war nun gleichsam auf einem Podest der Schande allen Blicken ausgesetzt. Meine Empfindungen lassen sich mit Worten nicht beschreiben, doch als sie gerade drohten, mir den Atem zu nehmen und die Kehle zuzuschnüren, näherte sich mir ein Mädchen und ging an mir vorüber. Im Vorbeigehen blickte sie zu mir empor. Welch seltsames Licht leuchtete in ihren Augen! Welch ungewöhnliche Empfindung weckte dieser Lichtstrahl in mir! Neuer Mut erfüllte mich! Es war, als sei ein Märtyrer, ein Held, an einem Sklaven oder Opfer vorbeigegangen und habe ihm Kraft und Stärke eingeflößt. Ich bezwang den Weinkrampf, den ich in mir aufsteigen gefühlt hatte, hob den Kopf und stellte mich ruhig und aufrecht auf den Hocker. Helen Burns fragte Miss Smith irgendetwas Unwichtiges bezüglich ihrer Arbeit, wurde wegen der Belanglosigkeit ihres Anliegens gescholten, kehrte auf ihren Platz zurück und lächelte mir erneut zu, als sie an mir vorüberging. Welch ein Lächeln! Ich sehe es noch heute vor mir, und ich weiß, dass es einem edlen Geist und wahrem Mut entsprang; es erleuchtete ihre markanten Züge, ihr schmales Gesicht, ihre tiefliegenden grauen Augen mit überirdischem Glanz und verlieh ihr ein engelhaftes Aussehen. Und doch trug Helen Burns in jenem Augenblick die Binde um den Arm, die sie als »unordentlich« brandmarkte. Vor kaum einer Stunde hatte ich gehört, wie Miss Scatcherd sie für den nächsten Tag zu einem Mittagessen aus Wasser und Brot verurteilt hatte, weil sie eine Übung beim Abschreiben mit Tintenklecksen verunziert hatte. So unvollkommen ist die menschliche Natur! Solche Flecken gibt es auch auf der Scheibe des hellsten Planeten, und Augen wie die einer Miss Scatcherd sehen nur diese winzigen Mängel und sind blind für den strahlenden Glanz des Gestirns.

Jane Eyre. Eine Autobiografie

Подняться наверх