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Kapitel 5

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Am Morgen des neunzehnten Januar hatte es eben erst fünf Uhr geschlagen, als Bessie eine Kerze in meine Kammer brachte, doch ich war bereits aus dem Bett und fast fertig angezogen. Schon eine halbe Stunde vor ihrem Erscheinen war ich aufgestanden und hatte mir im Licht des untergehenden Halbmondes, das durch das schmale Fenster neben meinem Bett fiel, das Gesicht gewaschen und mich angekleidet. An jenem Tag sollte ich Gateshead mit der Postkutsche verlassen, die um sechs Uhr am Tor beim Pförtnerhaus vorüberfuhr. Außer Bessie war noch niemand auf; sie hatte im Kinderzimmer ein Kaminfeuer angezündet, auf dem sie mir nun mein Frühstück zubereitete. Nur wenige Kinder sind imstande, etwas zu essen, wenn der Gedanke an eine bevorstehende Reise sie in Aufregung versetzt, und auch ich brachte keinen Bissen hinunter. Bessie drängte mich vergeblich, ein paar Löffel von der heißen Milch mit Brot zu essen, die sie für mich gekocht hatte. Schließlich wickelte sie ein paar Kekse in ein Stück Papier und steckte sie in meine Reisetasche. Dann half sie mir in Umhang und Haube, hüllte sich selbst in ein warmes Tuch und verließ mit mir zusammen das Kinderzimmer. Als wir an Mrs. Reeds Schlafzimmer vorüberkamen, fragte sie: »Wollen Sie hineingehen und sich von der gnädigen Frau verabschieden?«

»Nein, Bessie; sie kam gestern Abend, als du zum Nachtessen hinuntergegangen warst, noch an mein Bett und sagte, ich bräuchte weder sie noch meinen Vetter oder meine Kusinen heute Morgen zu stören; und dann sagte sie noch, ich solle nie vergessen, dass sie stets meine beste Freundin gewesen sei, und folglich nur gut von ihr sprechen und ihr dankbar sein.«

»Was haben Sie darauf geantwortet, Miss Jane?«

»Nichts; ich habe mir die Bettdecke übers Gesicht gezogen und mich zur Wand gedreht.«

»Das war nicht recht, Miss Jane.«

»Doch, Bessie, das war ganz richtig. Deine Herrin war nie meine Freundin, sie war meine Feindin.«

»Aber, Miss Jane, das dürfen Sie nicht sagen!«

»Leb wohl, Gateshead!«, rief ich, als wir die Eingangshalle durchquerten und durch die Vordertür hinausgingen.

Der Mond war mittlerweile untergegangen, und es war stockdunkel. Bessie trug eine Laterne, deren Schein über die nassen Stufen und einen durch das Tauwetter der vergangenen Tage aufgeweichten Kiesweg huschte. Unwirtlich und kalt war jener Wintermorgen: meine Zähne klapperten, während wir die Auffahrt hinuntereilten. Im Pförtnerhaus brannte Licht; als wir es erreichten, schürte die Pförtnersfrau gerade das Feuer. Mein Koffer, der schon am Abend zuvor heruntergebracht worden war, stand verschnürt neben der Tür. Es war bereits kurz vor sechs, und bald nachdem die Uhr die volle Stunde geschlagen hatte, kündigte ein fernes Räderrollen das Herannahen der Kutsche an. Ich trat an die Tür und beobachtete, wie die Wagenlichter in der Dunkelheit rasch näher kamen.

»Reist sie denn ganz allein?«, fragte die Pförtnersfrau.

»Ja.«

»Und wie weit ist es?«

»Fünfzig Meilen.«

»Das ist aber weit! Es wundert mich, dass Mrs. Reed keine Angst hat, sie allein eine solche Strecke reisen zu lassen.«

Die Kutsche fuhr vor; schon hielt sie mit ihren vier Pferden und dem vollbesetzten Verdeck am Tor. Der Kondukteur und der Postillion drängten mit lauter Stimme zur Eile; mein Koffer wurde aufgeladen und ich von Bessie losgerissen, an deren Hals ich mich klammerte und deren Gesicht ich mit Küssen bedeckte.

»Passen Sie gut auf sie auf!«, rief sie dem Kondukteur zu, als er mich in den Wagen hob.

»Wird gemacht!«, war die Antwort. Der Schlag fiel zu, eine Stimme rief: »Fertig!«, und wir fuhren los. So wurde ich von Bessie und Gateshead getrennt, so rollte ich unbekannten und, wie mir damals schien, fernen und geheimnisvollen Gefilden entgegen.

An die Reise kann ich mich kaum erinnern. Ich weiß nur, dass mir der Tag unnatürlich lang vorkam und ich das Gefühl hatte, als legten wir Hunderte von Meilen zurück. Wir kamen durch mehrere Städte, und in einer davon, einer sehr großen, hielt die Postkutsche: Die Pferde wurden ausgespannt, und die Fahrgäste stiegen aus, um Mittag zu essen. Ich wurde in einen Gasthof getragen, wo mich der Kondukteur dazu bewegen wollte, ebenfalls etwas zu mir zu nehmen. Da ich aber keinen Appetit verspürte, ließ er mich in einem riesigen Raum mit einem Kamin auf beiden Längsseiten allein zurück. Von der Decke hing ein Kronleuchter, und hoch oben an der Wand befand sich eine kleine rote Galerie mit lauter Musikinstrumenten. Hier wanderte ich lange umher, kam mir völlig fremd und verlassen vor und hatte schreckliche Angst, es könnte jemand kommen und mich entführen, denn ich glaubte an Kindesräuber und Seelenverkäufer, von deren Untaten in Bessies Kamingeschichten so oft die Rede war.

Endlich kam der Kondukteur wieder. Ich wurde erneut in der Kutsche verstaut, mein Beschützer kletterte auf seinen Sitz, blies in sein dumpf klingendes Horn, und mit lautem Klappern rollten wir über das »holprige Pflaster« von L– dahin.

Der Nachmittag brach feucht und etwas neblig an, und als er langsam der Dämmerung wich, wurde mir bewusst, dass wir wirklich schon sehr weit von Gateshead entfernt waren. Wir kamen durch keine Städte mehr, die Landschaft veränderte sich, und hohe graue Hügel erhoben sich ringsum am Horizont. Im letzten Zwielicht fuhren wir ein dichtbewaldetes Tal hinab, und als die Finsternis längst völlig undurchdringlich geworden war, hörte ich einen stürmischen Wind in den Baumkronen rauschen.

Das Geräusch lullte mich ein, und bald schlief ich tief und fest. Ich hatte noch nicht lange geschlummert, als mich das plötzliche Stillstehen der Kutsche wieder aufwachen ließ. Der Wagenschlag war offen, und eine Frau, die wie eine Dienstmagd aussah, stand davor; im Licht der Wagenlaternen konnte ich ihr Gesicht und ihre Kleidung erkennen.

»Ist hier ein kleines Mädchen namens Jane Eyre?«, fragte sie. Ich antwortete: »Ja« und wurde gleich darauf herausgehoben. Mein Koffer wurde heruntergereicht, und schon fuhr die Kutsche weiter.

Ich war steif vom langen Sitzen und vom Lärm und Schaukeln der Kutsche noch ganz benommen. Während ich allmählich wieder zu mir kam, blickte ich mich um. Regen, Wind und Dunkelheit ließen mich kaum etwas sehen; trotzdem entdeckte ich vor mir schemenhaft eine Mauer und darin eine offene Tür, durch die ich meiner neuen Führerin folgte. Sie machte sie hinter sich zu und schloss sie ab. Nun sah man ein Haus oder vielmehr mehrere Häuser – denn das Gebäude war weit verzweigt – mit vielen Fenstern, von denen einige erleuchtet waren. Wir gingen einen breiten, völlig durchweichten Kiesweg hinauf und wurden durch eine Tür eingelassen. Die Magd führte mich weiter durch einen Gang in einen Raum, in dem ein Kaminfeuer loderte, und ließ mich allein.

Ich stellte mich vor die knisternden Flammen und wärmte meine starren Finger. Dann blickte ich mich in dem Zimmer um. Es brannte keine Kerze, aber im flackernden Schein des Kaminfeuers konnte ich nach und nach tapezierte Wände, Teppiche, Vorhänge und glänzende Mahagonimöbel erkennen: es war ein Salon, nicht so geräumig oder prächtig wie der in Gateshead, aber doch recht behaglich. Ich zerbrach mir gerade den Kopf darüber, was ein an der Wand hängendes Bild darstellen mochte, als die Tür aufging und eine Frau mit einer Kerze in der Hand eintrat; eine zweite folgte ihr auf dem Fuße.

Bei der ersten handelte es sich um eine schlanke, großgewachsene Dame mit dunklem Haar, dunklen Augen und einer blassen, hohen Stirn. Ihr Körper war teilweise in einen Schal gehüllt, sie wirkte ernst und würdevoll und hielt sich sehr gerade.

»Das Kind ist noch recht jung, um allein hierhergeschickt zu werden«, sagte sie, während sie die Kerze auf dem Tisch abstellte. Ein, zwei Minuten betrachtete sie mich aufmerksam, dann fügte sie hinzu:

»Man sollte sie bald zu Bett bringen; sie sieht müde aus. Bist du müde?«, wandte sie sich an mich und legte mir dabei die Hand auf die Schulter.

»Ein wenig, Madame.«

»Und sicher auch hungrig. Sorgen Sie dafür, dass sie etwas zu essen bekommt, bevor sie zu Bett geht, Miss Miller. Ist es das erste Mal, dass du von deinen Eltern fort bist, um eine Schule zu besuchen, mein Kind?«

Ich erklärte ihr, dass ich keine Eltern mehr hatte. Sie fragte, wie lange sie schon tot seien, danach, wie alt ich sei, wie ich heiße, ob ich lesen, schreiben und ein wenig nähen könne; schließlich strich sie mir mit dem Zeigefinger sanft über die Wange, und mit der Bemerkung: »Ich hoffe, du wirst ein artiges Mädchen sein«, entließ sie mich zusammen mit Miss Miller.

Die Dame, die ich verlassen hatte, mochte etwa neunundzwanzig Jahre alt sein; die, die mich begleitete, schien ein paar Jahre jünger. Die Erstere hatte mich durch ihre Stimme, ihr Äußeres und ihr Auftreten beeindruckt; Miss Miller war alltäglicher: Sie hatte eine frische Gesichtsfarbe, wenngleich ihre Züge abgehärmt und von Sorgen gezeichnet waren; ihr Gang und ihre Bewegungen wirkten gehetzt wie bei jemanden, der stets eine Vielzahl von Aufgaben gleichzeitig zu erledigen hatte; sie sah wie eine Hilfslehrerin aus – was sie, wie ich später feststellte, auch tatsächlich war. Sie führte mich von Zimmer zu Zimmer und von Korridor zu Korridor durch ein großes, weit verzweigtes Gebäude, ehe ich schließlich nach der vollkommenen, beinahe bedrückenden Stille in dem Teil des Hauses, den wir bisher durchquert hatten, plötzlich das Summen vieler Stimmen vernahm. Gleich darauf betraten wir einen großen, langen Raum. An jedem Ende des Saales standen zwei große Holztische mit jeweils zwei Kerzen darauf, und darum herum saßen auf Bänken Mädchen aller Altersstufen – von neun oder zehn bis hinauf zu zwanzig Jahren. Im schwachen Kerzenschimmer schien mir ihre Zahl unermesslich, obwohl es in Wirklichkeit nicht mehr als achtzig waren. Sie trugen alle die gleichen altmodisch geschnittenen braunen Wollkleider und lange Leinenschürzen. Es war Arbeitsstunde; die Mädchen waren damit beschäftigt, ihr Pensum für den nächsten Tag zu lernen, und die vielen Stimmen, die im Flüsterton die Aufgaben repetierten, verschmolzen zu dem Summen, das ich gehört hatte.

Miss Miller wies mir einen Platz auf einer Bank nahe der Tür an. Dann ging sie durch den langen Saal und rief:

»Klassenaufseherinnen, sammelt die Bücher ein und bringt sie an ihren Platz!«

Vier große Mädchen erhoben sich an verschiedenen Tischen, gingen herum, sammelten die Bücher ein und legten sie beiseite. Dann erteilte Miss Miller ihnen einen neuen Befehl:

»Holt das Abendbrot!«

Die großen Mädchen gingen hinaus und kamen nach kurzer Zeit wieder zurück; jede trug ein Tablett mit vorbereiteten Portionen von irgendetwas – was es war, vermochte ich nicht zu erkennen. In der Mitte eines jeden Tabletts stand ein Krug mit Wasser und ein Becher. Die Portionen wurden ausgeteilt; wer wollte, nahm einen Schluck Wasser aus dem allen gemeinsamen Becher. Als die Reihe an mich kam, trank ich, denn ich war durstig, das Essen aber rührte ich nicht an: Vor Aufregung und Übermüdung war ich nicht imstande, auch nur einen Bissen zu mir zu nehmen, doch sah ich nun, dass es dünnen, in kleine Stücke geschnittenen Haferkuchen gab.

Nach der Mahlzeit las Miss Miller das Abendgebet, dann begaben sich die Mädchen in Zweierreihen klassenweise nach oben. Inzwischen war ich von Müdigkeit so übermannt, dass ich kaum noch wahrnahm, wie der Schlafsaal aussah – nur dass er, wie schon das Klassenzimmer, sehr lang war, fiel mir noch auf. In dieser ersten Nacht sollte ich mit Miss Miller das Bett teilen, und sie half mir beim Auskleiden. Als ich mich hingelegt hatte, wanderte mein Blick über die lange Reihe von Betten, die sich schnell mit jeweils zwei Mädchen füllten. Zehn Minuten später wurde das einzige Licht gelöscht, und umgeben von Stille und vollkommener Dunkelheit schlief ich ein.

Die Nacht verging schnell; selbst zum Träumen war ich zu müde. Nur einmal wachte ich auf und hörte den Wind in heftigen Böen ums Haus pfeifen und den Regen in Strömen niederprasseln und merkte, dass Miss Miller ihren Platz an meiner Seite eingenommen hatte. Als ich meine Augen das nächste Mal öffnete, läutete eine schrille Glocke. Die Mädchen waren schon auf und zogen sich an. Der Morgen dämmerte noch nicht, und im Schlafsaal brannten ein oder zwei Binsenlichter. Widerwillig erhob auch ich mich. Es war bitter kalt; ich kleidete mich an, so gut es vor lauter Zittern ging, und wusch mich, als ein Waschbecken frei wurde, was allerdings eine ganze Weile dauerte, denn auf den Gestellen in der Mitte des Zimmers gab es nur eine Schüssel für jeweils sechs Mädchen. Wieder ertönte die Glocke. Alle stellten sich in Zweierreihen auf und stiegen in dieser Anordnung die Treppe hinunter in das kalte, nur spärlich beleuchtete Schulzimmer. Hier las Miss Miller das Morgengebet und befahl dann:

»Bildet Klassen!«

Einige Minuten lang herrschte großes Durcheinander, und Miss Miller rief wiederholt: »Ruhe!« und »Ordnung!« Als sich der Tumult schließlich legte, hatten sich alle Mädchen in vier Halbkreisen vor vier Stühlen aufgestellt, die an den vier Tischen standen. Alle hielten ein Buch in der Hand, und ein großes Buch, das wie eine Bibel aussah, lag auf jedem Tisch vor dem leeren Platz. Eine Pause von einigen Sekunden folgte, die vom leisen, unverständlichen Summen vieler Stimmen erfüllt war. Miss Miller ging von Klasse zu Klasse und unterband das undeutliche Gemurmel.

In der Ferne erklang eine Glocke, und gleich darauf betraten drei Damen den Raum. Jede ging zu einem der Tische und nahm ihren Platz ein; Miss Miller setzte sich auf den vierten leeren Stuhl, der der Tür am nächsten stand und um den sich die Kleinsten versammelt hatten. Dieser untersten Klasse wurde ich zugeteilt und musste mich ganz hinten hinstellen.

Nun begann die Arbeit: Die Tageslosung wurde wiederholt, dann wurden bestimmte Textstellen aus der Heiligen Schrift aufgesagt und schließlich etliche Kapitel aus der Bibel gelesen. Dies dauerte eine Stunde. Als die Andacht zu Ende ging, war draußen bereits heller Tag. Die unermüdliche Glocke ertönte nun zum vierten Mal: Die Klassen mussten erneut antreten und zum Frühstück in einen anderen Raum marschieren. Wie froh war ich über die Aussicht, endlich etwas zu essen zu bekommen! Mir war jetzt fast schlecht vor Hunger, hatte ich doch am Tag zuvor kaum etwas zu mir genommen.

Der Speisesaal war ein großer, niedriger, düsterer Raum. Auf zwei langen Tischen dampften Schüsseln mit etwas Heißem, von dem jedoch zu meiner Bestürzung ein Geruch ausging, der alles andere als einladend war. Ich bemerkte allgemeinen Unmut und Unzufriedenheit, als die Ausdünstung der Mahlzeit die Nasen derjenigen erreichte, die sie verzehren sollten. Von der Spitze des Zuges, wo die großen Mädchen der ersten Klasse gingen, vernahm man ein leises Murmeln:

»Abscheulich! Der Haferbrei ist schon wieder angebrannt!«

»Ruhe!«, befahl eine Stimme; diesmal war es nicht die von Miss Miller, sondern sie gehörte einer der Oberlehrerinnen, einer kleinen, dunkelhaarigen, elegant gekleideten, aber irgendwie mürrisch wirkenden Person, die sich am Kopfende des einen Tisches niederließ, während eine eher rundliche Dame am anderen präsidierte. Vergebens hielt ich nach der Frau Ausschau, die ich am Abend zuvor kennen gelernt hatte; sie war nirgends zu sehen. Miss Miller hatte am unteren Ende des Tisches Platz genommen, an dem auch ich saß; und eine etwas eigenartig und ausländisch aussehende ältere Dame – die Französischlehrerin, wie ich später herausfand – hatte den entsprechenden Platz am anderen Tisch inne. Ein langes Tischgebet wurde gesprochen, ein Kirchenlied gesungen, dann brachte ein Dienstmädchen den Lehrerinnen Tee, und die Mahlzeit begann.

Gierig und mittlerweile schon recht geschwächt, verschlang ich ein, zwei Löffel voll von meiner Portion, ohne auf den Geschmack zu achten, doch kaum war der erste Heißhunger gestillt, merkte ich, was für ein ekelerregendes Zeug ich vor mir hatte – angebrannter Haferbrei ist fast so schlimm wie verfaulte Kartoffeln: Selbst ein Verhungernder schreckt rasch angewidert davor zurück. Die Löffel wurden nur langsam in Bewegung gesetzt. Ich sah, wie jedes Mädchen von dem Brei kostete und versuchte, ihn hinunterzuschlucken, aber fast alle gaben ihre Bemühungen bald auf. Das Frühstück war vorüber, und niemand hatte gefrühstückt. Nachdem das Dankgebet für etwas, das wir gar nicht bekommen hatten, gesprochen und ein zweites Kirchenlied heruntergeleiert war, kehrten wir aus dem Speisesaal in das Klassenzimmer zurück. Ich war eine der Letzten, und als ich an den Tischen vorbeiging, beobachtete ich, wie eine Lehrerin sich eine Schüssel nahm und den Haferbrei probierte. Sie schaute die anderen an; die Mienen aller drückten Missfallen und Unwillen aus, und eine von ihnen, die etwas Rundliche, flüsterte:

»Abscheuliches Zeug! Es ist eine Schande!«

Ehe der Unterricht wieder begann, verstrich eine Viertelstunde, in der ein wildes Durcheinander im Klassenzimmer herrschte. Während dieser Zeit schien es erlaubt zu sein, laut und ungezwungener zu sprechen, und die Mädchen machten von dieser Freiheit reichlich Gebrauch. Die Unterhaltung drehte sich ausschließlich ums Frühstück, über das alle tüchtig schimpften. Arme Dinger! Es war der einzige Trost, der ihnen blieb. Von den Lehrerinnen befand sich nur Miss Miller im Raum. Eine Gruppe älterer Mädchen stand um sie herum, sie sprachen mit ernsten und missmutigen Mienen auf sie ein. Ich hörte, dass einige Male Mr. Brocklehursts Name fiel, worauf Miss Miller stets missbilligend den Kopf schüttelte, doch gab sie sich keine große Mühe, der allgemeinen Empörung Einhalt zu gebieten: zweifellos teilte sie sie.

Eine Uhr im Schulzimmer schlug neun. Miss Miller verließ den Kreis der Mädchen, die sich um sie geschart hatten, trat in die Mitte des Raumes und rief: »Ruhe! Auf eure Plätze!«

Es herrschte Disziplin: Innerhalb von fünf Minuten kam erneut Ordnung in das wirre Menschenknäuel, und verhältnismäßige Ruhe löste das babylonische Stimmengewirr ab. Pünktlich nahmen die Oberlehrerinnen nun ihre Plätze wieder ein, aber alle schienen noch auf etwas zu warten. Auf den Bänken zu beiden Seiten des Raumes saßen die achtzig Mädchen regungslos und kerzengerade – einen seltsamen Anblick boten sie mit ihren glatt nach hinten gekämmten Frisuren, die kein Löckchen sehen ließen, ihren hochgeschlossenen braunen Kleidern mit den schmalen Kragen um den Hals und den kleinen (den Beuteln der Hochlandschotten ähnlichen) Leinentaschen, die vorne an ihren Röcken befestigt waren und als Handarbeitsbeutel dienten. Alle trugen Wollstrümpfe und grobe Schuhe mit Messingspangen. Über zwanzig der so gekleideten Schülerinnen waren bereits erwachsene Mädchen oder, besser gesagt, junge Frauen. Die Tracht stand ihnen schlecht und ließ selbst die hübschesten wunderlich und hässlich aussehen.

Während ich noch immer die Mädchen betrachtete und zuweilen auch die Lehrerinnen begutachtete – von denen mir übrigens keine wirklich gefiel, denn die Rundliche war ein wenig derb, die Dunkelhaarige recht grimmig, die Ausländerin schroff und absonderlich, und Miss Miller, die Arme, sah puterrot, abgehärmt und überarbeitet aus –, während also mein Blick von Gesicht zu Gesicht wanderte, schnellte die ganze Schulgemeinde gleichzeitig hoch, als würden alle von einer einzigen Feder bewegt.

Was war los? Ich hatte keinen Befehl gehört und war verwirrt. Noch ehe ich begriff, was vorging, saßen die Mädchen schon wieder, doch da nun aller Augen auf einen Punkt gerichtet waren, blickte ich ebenfalls in diese Richtung und entdeckte die Dame, die mich am Vorabend empfangen hatte. Sie stand am unteren Ende des Saales in der Nähe des Kamins, in dem ebenso ein Feuer brannte wie in dem am anderen Ende. Schweigend und ernst ließ sie ihren Blick über die beiden Reihen der Mädchen gleiten. Miss Miller trat zu ihr und fragte sie offenbar etwas. Nachdem sie eine Antwort erhalten hatte, kehrte sie auf ihren Platz zurück und sagte laut:

»Aufsicht der ersten Klasse, hol die Globen!«

Während diese Anordnung ausgeführt wurde, schritt die Dame langsam durch den Saal. Ich muss einen ausgeprägten Sinn für Verehrung haben, denn noch heute verspüre ich das Gefühl ehrfürchtiger Bewunderung, mit dem meine Augen jeden ihrer Schritte verfolgten. Jetzt, im hellen Tageslicht, erschien sie mir groß, hellhäutig und stattlich; braune, gütig blickende Augen und schöngeschwungene, lange Wimpern milderten die Blässe ihrer hohen Stirn; ihr recht dunkles Haar war, der Mode jener Zeit entsprechend, als weder glatte Haarsträhnen noch lange Ringellocken beliebt waren, an den Schläfen in kleine Löckchen gekräuselt; ihr Kleid war, ebenfalls der damaligen Mode folgend, aus purpurrotem Tuch und in spanischem Stil mit schwarzem Samt besetzt; eine goldene Uhr – und Uhren waren damals noch nicht so üblich wie heute – glänzte an ihrem Gürtel. Um ein vollständiges Bild zu erhalten, möge sich der Leser edle Gesichtszüge, einen blassen, aber reinen Teint, eine vornehme Haltung und ein würdevolles Auftreten hinzudenken, dann wird er sich – zumindest soweit Worte solche Dinge zu vermitteln vermögen – eine zutreffende Vorstellung von der äußeren Erscheinung Miss Temples bilden können – Maria Temple, wie ich später in einem Gebetbuch las, das ich für sie zur Kirche tragen durfte.

Die Leiterin von Lowood (denn das war diese Dame) setzte sich vor die beiden Globen, die auf einen der Tische gestellt worden waren, versammelte die erste Klasse um sich und begann mit dem Geografieunterricht. Auch die unteren Klassen wurden zu ihren Lehrerinnen gerufen, und eine Stunde lang wurde Geschichte, Grammatik etc. wiederholt und abgefragt; dann folgten Schreiben und Rechnen, während Miss Temple einigen der älteren Mädchen Musikunterricht erteilte. Die Dauer der einzelnen Unterrichtsstunden wurde nach der Uhr bemessen, die schließlich zwölf schlug. Die Schulleiterin erhob sich.

»Ich habe den Schülerinnen noch etwas mitzuteilen«, sagte sie. Nach Beendigung des Unterrichts hatte ein Lärmen und Schwatzen eingesetzt, das nun beim Klang ihrer Stimme sogleich wieder verstummte. Sie fuhr fort:

»Ihr habt heute Morgen ein Frühstück bekommen, das ihr nicht essen konntet; ihr seid gewiss hungrig. Ich habe angeordnet, dass an alle ein zweites Frühstück, bestehend aus Brot und Käse, ausgegeben wird.«

Die Lehrerinnen sahen sie überrascht an.

»Es geschieht auf meine Verantwortung«, fügte sie erklärend hinzu und verließ gleich darauf den Raum.

Wenig später wurden Brot und Käse hereingebracht und zur großen Freude und Erquickung aller Schülerinnen verteilt. Dann ertönte der Befehl: »In den Garten!« Jedes Mädchen setzte sich einen einfachen Strohhut mit bunten Kattunbändern auf und schlüpfte in einen Mantel aus grauem Fries. Ich bekam die gleiche Ausstattung und folgte dem großen Strom hinaus ins Freie.

Der Garten war ein weitläufiges, von hohen, jegliche Aussicht versperrenden Mauern umgebenes Gelände; an einer Seite erstreckte sich eine überdachte Veranda, und breite Wege säumten eine Fläche in der Mitte, die in Dutzende kleiner Beete aufgeteilt war. Diese Beete waren den Schülerinnen als Gärten zum Bepflanzen und Pflegen anvertraut, und jedes hatte seine Besitzerin. Wenn sie voller Blumen standen, sahen sie sicherlich hübsch aus, aber jetzt, Ende Januar, war alles abgestorben, braun und vermodert. Ich zitterte vor Kälte, als ich so dastand und mich umsah: es war ein unfreundlicher Tag und für einen Aufenthalt im Freien nicht sehr geeignet. Es regnete zwar nicht, aber ein feuchter gelber Nebel verdüsterte den Himmel. Der Boden war von den heftigen Regenfällen des Vortags noch völlig aufgeweicht. Die kräftigeren unter den Mädchen rannten umher und vertrieben sich die Zeit mit Spielen; einige blasse und schmächtigere drängten sich indes, Schutz und Wärme suchend, unter dem Dach der Veranda zusammen, und als die Nebelschleier zu ihren fröstelnden Körpern vordrangen, hörte ich aus ihrer Mitte häufig ein hohlklingendes Husten.

Bis jetzt hatte ich noch mit keinem der Mädchen gesprochen, und es schien auch niemand von mir Notiz zu nehmen. Ich stand ganz allein da, aber an dieses Gefühl der Einsamkeit war ich ja gewöhnt, es bedrückte mich nicht sehr. Ich lehnte mich an einen Pfeiler der Veranda, zog meinen grauen Mantel enger um mich und versuchte, durch Beobachten und Nachdenken die Kälte, die mich äußerlich erstarren ließ, und den ungestillten Hunger, der mich innerlich quälte, zu vergessen. Meine Gedanken waren zu vage und bruchstückhaft, als dass sie es verdienten, festgehalten zu werden. Ich wusste kaum, wo ich eigentlich war. Gateshead und mein früheres Leben schienen in unendlich weite Ferne gerückt. Die Gegenwart war ungewiss und befremdend, und darüber, was die Zukunft mir bringen würde, konnte ich nicht einmal Vermutungen anstellen. Ich blickte mich in dem klosterähnlichen Garten um und dann am Haus empor, einem großen Gebäude, von dem eine Hälfte grau und alt aussah, die andere dagegen recht neu. Der neuere Teil, in dem Schulzimmer und Schlafsaal untergebracht waren, erhielt das Tageslicht durch Gitterfenster, die durch einen Mittelpfosten geteilt waren und dem Bau ein kirchenähnliches Aussehen verliehen. Eine Steintafel über der Tür trug die Inschrift:

»Lowood-Stiftung. Dieser Teil des Hauses wurde Anno Domini – durch Naomi Brocklehurst von Brocklehurst Hall in dieser Grafschaft, neu errichtet. – ›So leuchte euer Licht vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.‹ – Mt 5, 16.«

Immer wieder las ich diese Worte. Ich spürte, dass sie einer Erklärung bedurften, und war nicht in der Lage, ihren Sinn zu erfassen. Ich grübelte noch immer darüber nach, was »Stiftung« wohl bedeuten mochte, und bemühte mich, einen Zusammenhang zwischen dem ersten Satz und dem Bibelvers zu entdecken, als ich dicht hinter mir jemanden husten hörte. Ich wandte mich um und sah ein Mädchen auf einer Steinbank ganz in der Nähe sitzen. Sie hatte den Kopf über ein Buch gebeugt, in dessen Lektüre sie vertieft zu sein schien. Von meinem Standort aus konnte ich den Titel erkennen, er lautete Rasselas, ein Name, den ich ungewöhnlich und folglich anziehend fand. Beim Umblättern blickte sie zufällig auf, und ich sprach sie einfach an:

»Ist dein Buch interessant?«, fragte ich, denn ich hatte mir bereits vorgenommen, sie zu bitten, es mir einmal zu leihen.

»Mir gefällt es«, antwortete sie nach einer Pause von ein, zwei Sekunden, während der sie mich prüfend ansah.

»Wovon handelt es?«, fragte ich weiter. Ich weiß gar nicht, woher ich die Kühnheit nahm, auf diese Art und Weise mit einer Unbekannten ein Gespräch zu beginnen. Ein solcher Schritt widersprach meiner Natur und meinen Gewohnheiten; aber ihre Beschäftigung muss verwandte Gefühle in mir geweckt haben, denn auch ich las gerne, wenngleich meine Lektüre eher leichterer und kindlicher Art war. Etwas Ernstes und Anspruchsvolles konnte ich weder verstehen noch verarbeiten.

»Du kannst es dir ansehen«, erwiderte das Mädchen und reichte mir das Buch.

Ich nahm es. Ein kurzer Blick überzeugte mich, dass der Inhalt weniger fesselnd war als der Titel. Meinem kindlichen Geschmack erschien Rasselas langweilig. Ich fand nichts über Feen, nichts über Geister, keine heitere, vielversprechende Abwechslung auf den engbedruckten Seiten. Ich gab ihr den Band zurück. Sie nahm ihn schweigend in Empfang und machte Anstalten, sich ohne ein weiteres Wort wieder in ihre frühere Beschäftigung zu vertiefen. Erneut wagte ich es, sie zu stören.

»Kannst du mir sagen, was die Inschrift auf der Steintafel über der Tür bedeutet? Was ist die Lowood-Stiftung?«

»Das Haus, in dem du jetzt leben wirst.«

»Und weshalb nennt man es Stiftung? Unterscheidet es sich denn von anderen Schulen?«

»Es ist zum Teil eine Armenschule. Du und ich und all die anderen, wir sind alle Freischülerinnen. Sicher bist du eine Waise. Ist nicht dein Vater oder deine Mutter tot?«

»Beide starben, als ich noch ganz klein war. Ich kann mich nicht an sie erinnern.«

»Nun, alle Mädchen hier haben einen oder beide Elternteile verloren, und diese Schule nennt sich Stiftung zur Erziehung von Waisen.«

»Zahlen wir kein Schulgeld? Lässt man uns hier umsonst leben und lernen?«

»Wir – oder unsere Freunde – zahlen fünfzehn Pfund jährlich pro Schülerin.«

»Und warum bezeichnet man uns dann als Freischülerinnen?«

»Weil fünfzehn Pfund für Unterkunft, Verpflegung und Unterricht nicht ausreichen und der fehlende Betrag durch Spenden aufgebracht wird.«

»Wer spendet denn für uns?«

»Verschiedene mildtätige Damen und Herren aus der Umgebung und aus London.«

»Und wer war Naomi Brocklehurst?«

»Die Dame, die den neuen Teil dieses Hauses erbauen ließ, wie es auf der Gedenktafel steht, und deren Sohn hier alles überwacht und leitet.«

»Warum?«

»Weil er der Schatzmeister und Verwalter der Stiftung ist.«

»Dann gehört dieses Haus nicht der großen Dame, die eine Uhr trägt und angeordnet hat, dass wir Brot und Käse bekommen?«

»Miss Temple? Nein, nein. Ich wünschte, es wäre so. Sie muss für alles, was sie tut, Mr. Brocklehurst Rede und Antwort stehen. Mr. Brocklehurst kauft alle Lebensmittel und unsere gesamte Kleidung.«

»Wohnt er hier?«

»Nein – zwei Meilen entfernt, in einem großen Herrenhaus.«

»Ist er ein guter Mensch?«

»Er ist ein Geistlicher, und man sagt, er tue eine Menge Gutes.«

»Sagtest du, die große, schlanke Dame heißt Miss Temple?«

»Ja.«

»Und wie heißen die anderen Lehrerinnen?«

»Die mit den roten Wangen heißt Miss Smith; sie beaufsichtigt die Näharbeit und schneidet Stoffe zu – wir fertigen unsere Kleidung nämlich selbst an: unsere Kleider, Umhänge, einfach alles. Die kleine mit den schwarzen Haaren ist Miss Scatcherd; sie gibt Geschichte und Grammatik und hört die Aufgaben der zweiten Klasse ab. Und die mit dem Schal, die ihr Taschentuch mit einem gelben Band befestigt an der Seite trägt, ist Madame Pierrot; sie kommt aus Lille in Frankreich und unterrichtet Französisch.«

»Magst du die Lehrerinnen?«

»Ja, ganz gern.«

»Magst du denn die kleine Schwarzhaarige und Madame –? Ich kann ihren Namen nicht so aussprechen wie du.«

»Miss Scatcherd ist jähzornig – du musst dich davor hüten, sie zu reizen; Madame Pierrot ist kein schlechter Mensch.«

»Aber Miss Temple ist die beste, nicht wahr?«

»Miss Temple ist sehr gütig und sehr klug; sie steht über all den anderen, weil sie viel mehr weiß als sie.«

»Bist du schon lange hier?«

»Zwei Jahre.«

»Und bist du auch eine Waise?«

»Meine Mutter ist tot.«

»Bist du glücklich hier?«

»Du stellst reichlich viele Fragen. Für den Augenblick habe ich dir genug gesagt. Jetzt möchte ich weiterlesen.«

Doch da ertönte die Essensglocke, und alle kehrten ins Haus zurück. Der Duft, der nun den Speisesaal erfüllte, war kaum appetitanregender als der, der unsere Nasen beim Frühstück empfangen hatte. Das Essen wurde in zwei riesigen Zinnschüsseln aufgetragen, denen starker, nach ranzigem Fett riechender Dampf entstieg. Ich stellte fest, dass die Mahlzeit aus einer Mischung von einigermaßen genießbaren Kartoffeln und eigenartigen rotbraunen Fleischfetzen bestand, die zusammen gekocht worden waren. Von dieser Kost erhielt jede Schülerin einen recht gut gefüllten Teller voll. Ich aß, so viel ich konnte, und fragte mich im Stillen, ob die Verköstigung jeden Tag so sein würde.

Nach dem Essen begaben wir uns sofort ins Schulzimmer. Der Unterricht wurde wieder aufgenommen und bis fünf Uhr fortgesetzt.

Das einzige erwähnenswerte Ereignis dieses Nachmittags bestand darin, dass das Mädchen, mit dem ich auf der Veranda gesprochen hatte, während einer Geschichtsstunde bei Miss Scatcherd in Ungnade fiel, vom Unterricht ausgeschlossen wurde und sich in die Mitte des großen Schulzimmers stellen musste. Diese Art der Bestrafung erschien mir im höchsten Grade demütigend, vor allem für ein so großes Mädchen – sie war gewiss schon dreizehn, vielleicht sogar noch älter. Ich erwartete, sie werde sich zutiefst bekümmert oder beschämt zeigen, aber zu meiner Überraschung weinte sie nicht, ja errötete nicht einmal. Ernst, aber gefasst, stand sie da, den Blicken aller ausgesetzt. ›Wie kann sie es nur so ruhig und standhaft ertragen?‹, fragte ich mich. ›Befände ich mich an ihrer Stelle, wünschte ich, die Erde täte sich auf und verschlänge mich. Sie sieht aus, als denke sie an etwas ganz anderes, an etwas, das mit ihrer Strafe, mit der schrecklichen Situation, in der sie sich augenblicklich befindet, nicht das Geringste zu tun hat – als sei sie mit den Gedanken weit weg und nähme ihre Umgebung gar nicht mehr wahr. Ich habe einmal etwas von Wachträumen gehört – ob sie einem solchen Wachtraum nachhängt? Ihre Augen sind auf den Boden gerichtet, aber ich bin sicher, sie sehen ihn nicht – ihr Blick scheint nach innen gekehrt, in ihr Herz: ich glaube, sie betrachtet Dinge, die in ihrer Erinnerung leben, und nicht das, was hier geschieht. Was für ein Mädchen sie wohl sein mag – ein gutes oder ein unartiges?‹

Kurz nach fünf bekamen wir eine weitere Mahlzeit, die aus einem kleinen Becher Kaffee und einer halben Scheibe Schwarzbrot bestand. Gierig verschlang ich das Brot und trank genüsslich meinen Kaffee, aber gern hätte ich die doppelte Portion gehabt, denn ich war noch immer hungrig. Dann folgten eine halbstündige Pause, die Arbeitsstunde, das Glas Wasser mit dem Stückchen Haferkuchen, schließlich das Abendgebet und das Schlafengehen. Das war mein erster Tag in Lowood.

Jane Eyre. Eine Autobiografie

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