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Kapitel 12

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Die Aussicht auf eine problemlose, erfreuliche Tätigkeit, die mein beschaulicher Empfang am ersten Tag in Thornfield Hall zu versprechen schien, wurde bei längerer Bekanntschaft mit dem Haus und seinen Bewohnern nicht Lügen gestraft. Mrs. Fairfax war tatsächlich genau so, wie sie auf den ersten Blick gewirkt hatte, nämlich eine sanftmütige, liebenswürdige Frau von hinreichender Bildung und durchschnittlicher Intelligenz. Meine Schülerin war ein heiteres, quicklebendiges Kind, verwöhnt und verzogen, und deshalb manchmal etwas widerspenstig und eigensinnig. Doch da sie ausschließlich meiner Obhut anvertraut war und keinerlei unvernünftige Einmischung von irgendeiner Seite meine Erziehungspläne hintertrieb, vergaß sie bald ihre Launen und wurde gehorsam und gelehrig. Sie besaß keine besonderen Begabungen, keine hervorstechenden Charaktereigenschaften und keine ausgefallenen Gefühle oder Neigungen, die sie auch nur im Geringsten aus der Masse der Kinder ihres Alters herausgehoben hätten; allerdings hatte sie auch keine Fehler oder Laster, die besonders schlimm gewesen wären. Sie machte annehmbare Fortschritte und hatte eine lebhafte, wenn auch vielleicht nicht sehr tiefe Zuneigung zu mir gefasst; und durch ihre unbefangene Art, ihr fröhliches Geplapper und ihr Bemühen, es mir recht zu machen, weckte sie auch in mir ein Gefühl der Zuneigung, das so stark war, dass ich mich in ihrer Gesellschaft ebenso wohl fühlte wie sie sich in meiner.

Leute – dies par parenthèse –, die ernsthaft der Überzeugung anhängen, Kinder seien Engel und die mit ihrer Erziehung Beauftragten müssten ihnen abgöttische Verehrung entgegenbringen, werden meine Worte recht kühl und nüchtern finden. Aber ich schreibe nicht, um elterlicher Selbstgefälligkeit zu schmeicheln, Heucheleien zu verbreiten oder irgendwelchem Unsinn Vorschub zu leisten; ich sage nur die Wahrheit. Ich fühlte mich für Adèles Wohlergehen und Vorankommen verantwortlich, und ich mochte das kleine Persönchen wirklich gern, genauso wie ich Mrs. Fairfax für ihre Freundlichkeit dankbar war und in ihrer Gesellschaft eine Freude empfand, die der stillen Achtung, die sie mir entgegenbrachte, und ihrem zurückhaltenden Wesen und Auftreten entsprach.

Wer will, mag mich tadeln, wenn ich weiter hinzufüge, dass ich zuweilen – wenn ich allein durch den Park spazierte, wenn ich zum Tor hinunterging und auf die Straße hinaussah, oder wenn ich, während Adèle mit ihrem Kindermädchen spielte und Mrs. Fairfax in der Vorratskammer Gelee zubereitete – die drei Treppen hinaufstieg, die Falltür in der Mansarde hochhob und vom Dach aus meinen Blick über die einsamen Felder und Hügel und den in der Ferne verschwimmenden Horizont schweifen ließ – dass ich mir dann ein Sehvermögen wünschte, das jene Grenze überwinden könnte, das es mir gestattete, einen Blick auf die betriebsame Welt, die geschäftigen Städte, die Regionen voller Leben zu werfen, von denen ich zwar gehört, die ich aber noch nie gesehen hatte – dass ich mich nach mehr praktischer Erfahrung sehnte, als ich bisher erworben hatte, nach mehr Kontakt mit meinen Mitmenschen, nach mehr Begegnungen mit vielseitigeren Charakteren, als sie hier für mich erreichbar waren. Ich schätzte die guten Seiten an Mrs. Fairfax und auch an Adèle durchaus, aber ich war überzeugt, dass es noch andere, weniger passive gute Eigenschaften gab, und es verlangte mich danach, das, woran ich glaubte, mit eigenen Augen zu sehen.

Wer wird es mir verdenken? Zweifellos viele. Man wird mich unzufrieden und undankbar nennen. Ich war indes machtlos dagegen; die Ruhelosigkeit lag in meiner Natur, und manchmal versetzte sie mich in solche Erregung, dass ich geradezu körperlichen Schmerz empfand. Dann fand ich die einzige Erleichterung darin, den langen Gang im dritten Stock, wo ich mich in der dort herrschenden Stille und Einsamkeit sicher und geborgen fühlte, auf und ab zu gehen und mich den heiteren Traumbildern hinzugeben, die vor meinem geistigen Auge aufstiegen – und es waren viele fesselnde Visionen. Mein Herz hob und senkte sich mit wildem Pochen, und wenn es dabei auch vor Kummer anschwoll, so war es doch mit Leben erfüllt. Vor allem aber fand ich Trost darin, mein inneres Ohr einer unendlichen Geschichte lauschen zu lassen – einer Geschichte, die meiner Phantasie entsprang, sich ständig weiterentwickelte und von all den Ereignissen, dem Leben, dem Feuer und den Gefühlen vorangetrieben wurde, nach denen ich mich sehnte und die ich in meinem damaligen Dasein so schmerzlich vermisste.

Es ist zwecklos zu fordern, der Mensch solle sich mit einem beschaulichen Leben zufriedengeben. Er braucht Betätigung und Abwechslung, und wenn er sie nicht findet, schafft er sie sich selbst. Millionen sind zu einer noch geruhsameren und eintönigeren Existenz verdammt als ich, und Millionen lehnen sich stumm gegen ihr Los auf. Niemand weiß, wie viel Aufruhr und Rebellion – abgesehen von politischer Empörung – in den Menschenmassen gären, die die Erde bevölkern. Frauen gelten im Allgemeinen als sehr ruhig und sanftmütig, aber sie fühlen nicht anders als Männer; sie müssen ihre Begabungen ebenso erproben können wie ihre Brüder, und genau wie diese brauchen sie einen Bereich, in dem sie ihre Fähigkeiten entfalten können. Sie leiden unter allzu starker Einschränkung und erzwungener Tatenlosigkeit nicht weniger als Männer, und es ist engstirnig, wenn ihre privilegierteren Mitmenschen sagen, sie sollten sich aufs Puddingkochen und Strümpfestricken, aufs Klavierspielen und Taschenbesticken beschränken. Es ist gedankenlos, sie zu verurteilen oder sich über sie lustig zu machen, wenn sie bestrebt sind, mehr zu tun oder zu lernen als das, was Tradition und Sitte ihrem Geschlecht zubilligen.

Wenn ich allein dort oben war, hörte ich nicht selten Grace Pooles Lachen – das gleiche schrille Gelächter, das gleiche tiefe, langgezogene Haha, das mich hatte erschauern lassen, als ich es zum ersten Mal vernahm. Auch ihr sonderbares Gemurmel hörte ich wieder, das noch unheimlicher war als ihr Lachen. An manchen Tagen war sie ganz still; an anderen wieder gab sie Laute von sich, die ich mir nicht erklären konnte. Zuweilen sah ich sie auch. Dann kam sie mit einer Schüssel, einem Teller oder einem Tablett in der Hand aus ihrem Zimmer, ging in die Küche hinunter und kehrte bald darauf wieder zurück, meist (verzeih mir, romantischer Leser, wenn ich die nackte Wahrheit berichte!) mit einem Krug dunklem Bier. Ihr Äußeres dämpfte stets die Neugier, die ihre befremdenden Geräusche in mir geweckt hatten: Sie hatte harte Gesichtszüge, sah gesetzt und nüchtern aus, und nichts an ihr vermochte Interesse zu erregen. Ich versuchte einige Male, sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie schien ein wortkarger Mensch zu sein, und mit einer einsilbigen Antwort erteilte sie allen derartigen Bemühungen meinerseits eine Abfuhr.

Die anderen Mitglieder des Haushalts, also John und seine Frau, das Dienstmädchen Leah und Sophie, das französische Kindermädchen, waren anständige Leute, aber in keinerlei Hinsicht außergewöhnlich. Mit Sophie pflegte ich mich auf Französisch zu unterhalten, und manchmal stellte ich ihr Fragen über ihre Heimat; doch sie hatte weder ein Talent zum Erzählen, noch konnte sie etwas anschaulich schildern, und meist waren ihre Antworten so nichtssagend und konfus, dass sie eher dazu angetan waren, von weiteren Erkundigungen abzuhalten, als dazu zu ermutigen.

Oktober, November und Dezember gingen vorüber. Eines Nachmittags im Januar ersuchte mich Mrs. Fairfax, Adèle vom Unterricht zu befreien, weil sie erkältet sei; und da Adèle die Bitte mit einem Eifer unterstützte, der mich daran erinnerte, wie kostbar mir selbst als Kind ein gelegentlicher freier Nachmittag gewesen war, hielt ich es für richtig, mich in diesem Punkt nachgiebig zu zeigen, und willigte ein. Es war ein schöner, heiterer Tag, aber sehr kalt. Ich hatte den ganzen Vormittag in der Bibliothek verbracht und war es leid, noch länger stillzusitzen. Mrs. Fairfax hatte eben einen Brief geschrieben, der zur Post gebracht werden musste. So legte ich Umhang und Haube an und erbot mich, ihn nach Hay zu bringen; die zwei Meilen bis zum Dorf waren gerade die richtige Entfernung für einen angenehmen Spaziergang an einem Winternachmittag. Ich sorgte dafür, dass Adèle behaglich in ihrem kleinen Stuhl vor dem Kamin in Mrs. Fairfax’ Wohnzimmer saß, gab ihr ihre schönste Wachspuppe (die ich für gewöhnlich in Silberpapier eingewickelt in einer Schublade aufbewahrte) und ein Märchenbuch, damit sie etwas Abwechslung in ihren Zeitvertreib bringen konnte, und nachdem ich ihr »Revenez bientôt, ma bonne amie, ma chère Mdelle. Jeanette« mit einem Kuss beantwortet hatte, machte ich mich auf den Weg.

Der Boden war hart gefroren, die Luft unbewegt, der Weg einsam. Ich schritt kräftig aus, bis mir warm wurde, dann spazierte ich langsamer weiter, um das Vergnügen auszukosten und all die Eindrücke in mich aufzunehmen, die Tageszeit und Umgebung mir boten. Es war drei Uhr; die Glocke schlug gerade, als ich am Kirchturm vorüberkam. Der Reiz der Stunde lag in der bereits hereinbrechenden Dämmerung, in der tief stehenden Sonne, die die Landschaft in fahles Licht tauchte. Ich befand mich etwa eine Meile von Thornfield entfernt auf einem schmalen Weg, der im Sommer für seine wilden Rosen, im Herbst für seine Nüsse und Brombeeren berühmt war, und sogar jetzt besaß er noch ein paar korallenrote Schätze in Form von Hagebutten und Mehlbeeren; das Schönste im Winter war indes seine vollkommene Einsamkeit und Stille, die nicht einmal durch das Rauschen von Blättern im Wind gestört wurde. Denn auch wenn sich ein Lüftchen erhob, entstand nicht das geringste Geräusch: Es gab keine Stechpalme, kein Immergrün, die hätten rascheln können, und die kahlen Haselnuss- und Weißdornsträucher standen so reglos wie die verwitterten weißen Steine, mit denen der Pfad in der Mitte gepflastert war. Zu beiden Seiten erstreckten sich weit und breit Felder und Wiesen, auf denen jetzt kein Vieh weidete; und die kleinen braunen Vögel, die sich zuweilen in der Hecke bewegten, sahen aus wie einzelne rostbraune Blätter, die vergessen hatten abzufallen.

Dieser Weg führte die ganze Strecke bis Hay ständig bergan; auf halber Höhe setzte ich mich auf einen Zauntritt, der Zugang zu einem Feld bot. Meinen Umhang eng um mich geschlungen und die Hände im Muff verborgen, spürte ich die Kälte nicht, obgleich es sogar gefror, wie die dünne Eisschicht bewies, die den Pfad dort überzog, wo ein nun wieder erstarrtes Bächlein nach plötzlichem Tauwetter vor ein paar Tagen darüber hinweggeflossen war. Von meinem Platz aus konnte ich nach Thornfield hinuntersehen: Der graue, mit Zinnen bewehrte Bau beherrschte das Tal unter mir; seine Wälder und die dunklen Krähennester erhoben sich nach Westen hin. Ich wartete, bis die Sonne die Wipfel der hohen Bäume erreicht hatte und blutrot und rund hinter ihnen versank. Dann wandte ich den Blick ostwärts.

Über dem Hügel vor mir stand der aufgehende Mond, blass noch wie eine Wolke, doch mit jedem Augenblick leuchtete er heller. Er blickte auf das halb hinter Bäumen verborgene Hay, aus dessen wenigen Schornsteinen blauer Rauch aufstieg. Der Ort war zwar noch eine Meile entfernt, aber in der vollkommenen Stille konnte ich schon deutlich das leise Gemurmel des Lebens in dem kleinen Dorf hören. An mein Ohr drang auch das Rauschen von dahinströmendem Wasser, allerdings vermochte ich nicht zu sagen, aus welchen Tälern und Tiefen es kam, doch gab es um Hay viele Hügel, und gewiss wanden sich von ihren Höhen viele Bäche talwärts. In der Abendstille war das Tosen weit entfernter Wasserläufe ebenso zu vernehmen wie das Gurgeln und Glucksen der Bächlein in unmittelbarer Nähe.

Plötzlich durchbrach ein lautes Geräusch das sanfte Säuseln und Flüstern; es schien weit weg zu sein, war aber ganz deutlich zu hören: ein entschiedenes Trapp-Trapp, ein metallisches Klappern, das das leise Plätschern der Wellen übertönte, so wie auf einem Bild gewaltige Felsklippen oder der knorrige Stamm einer mächtigen Eiche, in dunklen Farben wuchtig dargestellt, die miteinander verschmelzenden zarten Farbtöne der blauen Hügel, des sonnenbeschienenen Horizonts und der weißen Wolken in der luftigen Ferne überdeckten.

Der Lärm kam vom Weg her; es war der Hufschlag eines Pferdes. Noch verbargen es die Windungen des Pfades, doch näherte es sich rasch. Ich hatte eigentlich gerade aufstehen und weitergehen wollen, aber da der Weg schmal war, blieb ich sitzen, um es vorbeizulassen. Damals war ich noch recht jung, und allerlei Hirngespinste, heitere und düstere, spukten in meinem Kopf herum: Erinnerungen an Ammenmärchen und Geistergeschichten mischten sich mit anderem Unsinn. Kamen sie mir nun, da ich kein kleines Mädchen mehr war, in den Sinn, so verlieh ihnen meine heranreifende jugendliche Phantasie eine Kraft und Lebendigkeit, die über die Vorstellungswelt eines Kindes hinausgingen. Während der Hufschlag immer näher kam und ich darauf wartete, das Pferd in der Dämmerung auftauchen zu sehen, fielen mir ein paar von Bessies Geschichten ein, in denen ein sein Unwesen in Nordengland treibender Geist namens »Gytrash« vorkam, der in Gestalt eines Pferdes, Maulesels oder großen Hundes einsame Wege heimsuchte und zuweilen verspäteten Wanderern erschien – geradeso wie mir nun dieses Pferd.

Es war schon ganz nahe, aber noch immer konnte ich es nicht sehen. Da vernahm ich plötzlich außer dem Hufgeklapper ein Rascheln unter der Hecke, und gleich darauf glitt dicht an den Haselstauden ein großer Hund vorüber, der sich mit seinem schwarzweißen Fell deutlich gegen die Sträucher abhob. Er entsprach genau einer der Beschreibungen, die Bessie mir einst vom Gytrash gegeben hatte – ein löwenähnliches Geschöpf mit langhaarigem Fell und riesigem Kopf. Er trottete jedoch ganz ruhig an mir vorbei und blieb nicht einmal stehen, um mich – wie ich es eigentlich erwartet hatte – mit sonderbaren, ganz und gar unhündischen Augen anzustarren. Das Pferd folgte – ein hohes Ross, auf seinem Rücken ein Reiter. Dieser Mann, ein menschliches Wesen, brach den Bann augenblicklich. Noch nie war jemand auf dem Gytrash geritten, er kam immer allein; und zudem war ich überzeugt, dass Gespenster zwar zuweilen in den stummen Körper eines Tieres schlüpfen mochten, aber wohl kaum jemals Menschengestalt annehmen würden. Nein, das war kein Gytrash – nur ein Reisender, der eine Abkürzung nach Millcote nahm. Er ritt an mir vorüber, und ich setzte meinen Weg fort. Nach ein paar Schritten wandte ich mich um; ein Geräusch, als glitte jemand aus, und der Ausruf: »Was zum Teufel ist jetzt los?« hatten meine Aufmerksamkeit erregt. Pferd und Reiter lagen am Boden; sie waren auf der dünnen Eisschicht ausgeglitten, die den Pfad überzog. Der Hund kam zurückgesprungen, und als er seinen Herrn in dieser misslichen Lage sah und das Pferd schnauben hörte, bellte er, bis die tiefen Laute, die er – seiner Körpergröße entsprechend – von sich gab, von den abendlichen Hügeln widerhallten. Er beschnüffelte das am Boden liegende Knäuel und lief dann zu mir. Das war alles, was er tun konnte, jemand anderes war ja nicht in der Nähe, den er hätte zu Hilfe holen können. Ich kam seiner Aufforderung nach und ging zu dem Fremden hin, der nun versuchte, sich von seinem Ross zu befreien. Seine Bewegungen waren so energisch und kraftvoll, dass er sich meiner Meinung nach nicht ernstlich weh getan haben konnte. Trotzdem fragte ich:

»Haben Sie sich verletzt, Sir?«

Ich glaube, er fluchte, aber ganz sicher bin ich mir dessen nicht; jedenfalls stieß er irgendeine Redensart hervor, die ihn daran hinderte, mir direkt zu antworten.

»Kann ich etwas für Sie tun?«, erkundigte ich mich erneut.

»Treten Sie nur zur Seite«, erwiderte er, während er sich zunächst auf die Knie, dann auf die Füße erhob. Ich gehorchte. Daraufhin begann ein Ziehen, Stampfen und Hufgeklapper, begleitet von einem Gebell und Gekläffe, das mich tatsächlich ein paar Meter zur Seite treten ließ; aber ich wollte mich nicht ganz vertreiben lassen, ehe ich nicht gesehen hatte, welchen Ausgang die Sache nahm. Es ging schließlich glücklich ab: Das Pferd war wieder auf den Beinen, und der Hund wurde mit einem »Platz, Pilot!« zur Ruhe gebracht. Nun bückte sich der Reiter und befühlte Fuß und Bein, als wolle er feststellen, ob etwas gebrochen war. Offenbar hatte er Schmerzen, denn er hinkte zu dem Zauntritt hinüber, von dem ich eben erst aufgestanden war, und ließ sich darauf nieder.

Ich wollte mich wohl gern nützlich machen oder wenigstens meine Hilfsbereitschaft zeigen, denn ich näherte mich ihm erneut.

»Wenn Sie verletzt sind und Hilfe brauchen, kann ich jemanden von Thornfield Hall oder aus Hay holen.«

»Danke, es wird schon gehen. Ich habe mir nichts gebrochen, es ist nur eine Verstauchung.« Und wieder erhob er sich und trat mit dem Fuß auf, ein Unterfangen, das ihm jedoch sogleich ein unwillkürliches »Au!« abnötigte.

Ein wenig Tageslicht war noch verblieben, und der Mond schien schon recht hell, so dass ich den Mann ganz gut sehen konnte. Seine Gestalt war in einen Reitmantel mit Pelzkragen und Stahlspangen gehüllt, unter dem Einzelheiten nicht erkennbar waren. Immerhin konnte ich feststellen, dass er mittelgroß und ziemlich breitschultrig war. Er hatte ein finsteres Gesicht mit strengen Zügen und einer nachdenklichen Stirn; aus seinen Augen und den zusammengezogenen Brauen sprachen in jenem Augenblick Zorn und Verärgerung. Er war nicht mehr ganz jung, hatte aber die mittleren Jahre noch nicht erreicht: er mochte etwa fünfunddreißig sein. Ich empfand keine Angst vor ihm und nur wenig Scheu. Wäre er ein hübscher, wie ein Romanheld aussehender, vornehmer junger Mann gewesen, hätte ich es nicht gewagt, mich einfach vor ihn hinzustellen, ihn gegen seinen Willen auszufragen und ihm meine Dienste ungebeten anzutragen. Ich hatte kaum je einen hübschen jungen Mann zu Gesicht bekommen, geschweige denn mit einem gesprochen. Zwar verspürte ich grundsätzlich große Bewunderung und Verehrung für Schönheit, Eleganz, Ritterlichkeit und Charme; hätte ich diese Eigenschaften jedoch in Gestalt eines Mannes verkörpert gefunden, wäre mir wohl instinktiv bewusst gewesen, dass sie in mir auf nichts Verwandtes stießen oder stoßen konnten, und ich hätte sie gemieden, wie man Feuer, Blitze oder alles andere meidet, das zwar hell leuchtet, mit dem eigenen Wesen aber unvereinbar ist.

Selbst wenn dieser Fremde mich angelächelt und mir gut gelaunt geantwortet hätte, als ich mich an ihn wandte, wenn er mein Hilfsangebot heiter und dankend abgelehnt hätte, wäre ich meines Weges gegangen, ohne auch nur das Bedürfnis zu verspüren, weitere Fragen zu stellen. Der finstere Blick, die barsche Art dieses Mannes ließen mich ihm indes völlig unbefangen begegnen. So blieb ich stehen, als er mich mit einer Handbewegung zum Weitergehen aufforderte, und erklärte:

»Ich kann Sie doch unmöglich zu so später Stunde auf diesem einsamen Weg allein lassen, solange ich nicht gesehen habe, dass Sie in der Lage sind, Ihr Pferd zu besteigen.«

Als ich dies sagte, sah er mich an; bis dahin hatte er mich kaum eines Blickes gewürdigt.

»Mir scheint, Sie sollten selbst zu Hause sein«, erwiderte er, »falls Sie in der Gegend hier überhaupt ein Zuhause haben. Woher kommen Sie?«

»Von dort unten; und wenn der Mond scheint, habe ich auch gar keine Angst, noch spät unterwegs zu sein. Ich will gern für Sie nach Hay hinüberlaufen, wenn Sie es wünschen; ich muss dort ohnehin einen Brief aufgeben.«

»Sie leben da unten – meinen Sie das Haus mit den Zinnen?«, fragte er und zeigte dabei auf Thornfield Hall. Das Gebäude hob sich im weißen Mondlicht hell und deutlich von den Wäldern ab, die jetzt gegen den westlichen Himmel wie ein einziger riesiger Schatten wirkten.

»Ja, Sir.«

»Wem gehört das Haus?«

»Mr. Rochester.«

»Kennen Sie Mr. Rochester?«

»Nein, ich habe ihn noch nie gesehen.«

»Er wohnt also nicht dort?«

»Nein.«

»Können Sie mir sagen, wo er ist?«

»Nein, das kann ich nicht.«

»Sie arbeiten dort sicher nicht als Dienstmädchen. Sie sind –« Er hielt inne, musterte prüfend meine Kleidung, die wie gewöhnlich sehr einfach war – ein schwarzer Wollumhang und eine schwarze Pelzhaube, aber beides bei weitem nicht fein genug für eine Kammerzofe. Er schien nicht recht zu wissen, wofür er mich halten sollte. Ich kam ihm zu Hilfe.

»Ich bin die Erzieherin.«

»Ah, die Erzieherin!«, wiederholte er. »Zum Teufel, das hatte ich völlig vergessen! Die Erzieherin!« Und wieder unterzog er meine Kleidung einer eingehenden Musterung. Kurz darauf erhob er sich vom Zauntritt. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, als er versuchte, sich zu bewegen.

»Ich kann Sie nicht Hilfe holen schicken«, sagte er, »aber Sie selbst könnten mir ein wenig behilflich sein, wenn Sie so freundlich sein wollen.«

»Gern, Sir.«

»Sie haben wohl keinen Schirm bei sich, den ich als Stock benutzen könnte?«

»Nein.«

»Versuchen Sie, mein Pferd am Zügel zu fassen und es zu mir zu führen. Sie haben doch keine Angst?«

Wäre ich allein gewesen, hätte ich sehr wohl Angst gehabt, ein Pferd zu berühren, aber als es mir nun aufgetragen wurde, war ich bereit zu gehorchen. Ich legte meinen Muff auf den Zauntritt, ging auf das große Ross zu und versuchte, den Zügel zu packen. Doch es war ein sehr temperamentvolles Tier, das mich nicht an seinen Kopf herankommen ließ. Ich versuchte es immer wieder – vergeblich. Dabei fürchtete ich mich inzwischen fast zu Tode vor seinen stampfenden Vorderhufen. Der Fremde wartete und sah mir eine Weile lang zu, schließlich lachte er.

»Ich sehe schon«, sagte er, »der Berg lässt sich nicht zum Propheten bringen. Dann können Sie nichts anderes tun, als dem Propheten dabei zu helfen, zum Berg zu gelangen. Ich muss Sie bitten herzukommen.«

Ich ging zu ihm. »Verzeihen Sie«, fuhr er fort, »die Not zwingt mich, Ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen.« Er legte mir seine schwere Hand auf die Schulter, stützte sich recht stark auf mich und hinkte zu seinem Pferd. Sobald er den Zügel ergriffen hatte, beruhigte sich das Tier, und er schwang sich in den Sattel, wobei er allerdings sein Gesicht grimmig verzog, denn offenbar bereitete ihm das verstauchte Bein große Schmerzen.

»Wenn Sie mir jetzt noch meine Reitgerte reichen würden«, sagte er, die bis dahin fest zusammengepressten Lippen öffnend. »Sie liegt dort unter der Hecke.«

Ich suchte und fand sie.

»Danke. Und nun beeilen Sie sich mit Ihrem Brief nach Hay, und kehren Sie so rasch wie möglich nach Hause zurück.«

Eine leichte Berührung mit den Sporen ließ das Pferd zuerst einen Satz zur Seite machen und sich aufbäumen, dann jagte es davon; der Hund sauste hinterher, und alle drei verschwanden

»Wie Heidekraut auf öder Flur,

Vom wilden Wind verweht.«

Ich nahm meinen Muff auf und ging weiter. Der Zwischenfall hatte sich ereignet und war für mich vorbei; schließlich war es lediglich ein Zwischenfall gewesen, ohne Bedeutung, ohne Romantik und eigentlich uninteressant. Trotzdem hatte er – wenn auch nur für eine knappe Stunde – Abwechslung in mein eintöniges Leben gebracht. Meine Hilfe war gebraucht und in Anspruch genommen worden. Ich hatte sie gewährt. Es erfüllte mich mit Zufriedenheit, etwas getan zu haben; auch wenn es nur etwas Banales, Vergängliches gewesen war, so war ich doch tätig geworden, und ich war meines völlig passiven Daseins ja so überdrüssig. Das neue Gesicht war wie ein neues Bild in der Galerie meiner Erinnerungen, und es unterschied sich von all den anderen, die dort bereits hingen, einmal, weil es sich um das eines Mannes handelte, und zweitens, weil es finster, markant und streng war. Ich sah es noch vor mir, als ich in Hay ankam und den Brief im Postamt abgab; ich sah es, während ich eilig den Berg hinunter nach Hause lief. Als ich beim Zauntritt vorbeikam, hielt ich einen Augenblick inne, schaute mich um und lauschte in der Erwartung, vielleicht wieder Hufgeklapper auf dem Pfad zu vernehmen und einen in einen Mantel gehüllten Reiter mit einem Gytrash-ähnlichen Neufundländer auftauchen zu sehen. Doch ich sah nur die Hecke und eine gekappte Weide vor mir, die sich still und gerade dem Mondschein entgegenreckte, und hörte nur das leise Rauschen des Windes, der hin und wieder durch die Bäume um das noch eine Meile entfernte Herrenhaus strich. Als ich in die Richtung schaute, aus der das sachte Gesäusel zu mir heraufdrang, und mein Blick über die Vorderseite des Hauses glitt, bemerkte ich an einem Fenster den flackernden Lichtschein einer Kerze, der mich daran erinnerte, dass es spät geworden war, und ich eilte weiter.

Nur ungern betrat ich Thornfield wieder. Seine Schwelle zu überschreiten bedeutete zu Gleichförmigkeit und Untätigkeit zurückzukehren. Die stille Eingangshalle zu durchqueren, die dunkle Treppe hinaufzusteigen, mein einsames kleines Zimmer aufzusuchen und mich dann mit der ruhigen Mrs. Fairfax zusammenzusetzen und den langen Winterabend mit ihr, und nur mit ihr, zu verbringen, hieß, die schwache Erregung, die mein Spaziergang in mir geweckt hatte, völlig zu ersticken, mich erneut den jedwede Aussicht auf Abwechslung raubenden Fesseln eines eintönigen und allzu ereignislosen Daseins auszuliefern – eines Daseins, dessen Vorzüge, nämlich Geborgenheit und Behaglichkeit, ich nicht mehr so recht zu schätzen wusste. Wie gut hätte es mir getan, wäre ich damals den Stürmen eines ungewissen, wechselhaften Lebens ausgesetzt worden, um durch harte und bittere Erfahrung zu lernen, mich nach eben dieser friedlichen Ruhe zu sehnen, über die ich mich jetzt beklagte! Ja, es hätte mir genauso gut getan wie ein langer Spaziergang einem Mann, der es leid ist, ruhig in einem »allzu bequemen Sessel« zu sitzen, und der Wunsch, sich zu regen und zu bewegen, war in meiner Situation ebenso natürlich wie in seiner.

Ich zögerte am Tor; zögernd schritt ich über den Rasen; auf dem Pflaster vor dem Haus ging ich ein paar Mal auf und ab. Die Läden der Glastür waren geschlossen; ich konnte nicht ins Innere sehen. Auge und Geist schien es gleichermaßen fortzuziehen von dem düsteren Haus – von diesem – wie es mir vorkam – grauen Gemäuer voller Zellen, in die nie ein Sonnenstrahl, nie Mondlicht fiel, zu jenem weitgespannten Himmel über mir, jenem blauen Meer, das kein Wölkchen trübte. Feierlich zog der Mond darüber seine Bahn, und er schien aufzuschauen, als er die Kuppen der Hügel, hinter denen er aufgetaucht war, immer tiefer unter sich ließ und dem in seiner unergründlichen Weite und unermesslichen Ferne mitternächtlich dunklen Zenit zustrebte; und der Anblick der zitternden Sterne, die ihm auf seiner Bahn folgten, ließ mein Herz beben und das Blut in meinen Adern erglühen. Kleinigkeiten schon holen uns auf die Erde zurück: Die Uhr in der Halle schlug, und das genügte. Ich riss mich von Mond und Sternen los, öffnete eine Seitentür und ging hinein.

In der Eingangshalle war nur der hoch an der Decke hängende Bronzeleuchter angezündet worden, trotzdem war es nicht dunkel. Ein warmer Lichtschein durchflutete sie und fiel auf die unteren Stufen der Eichentreppe. Der rötliche Schimmer kam aus dem großen Speisezimmer, dessen Türflügel offen standen und den Blick freigaben auf das fröhlich flackernde Feuer, das den marmornen Kamin und das Messing der Feuergeräte aufblitzen ließ und die purpurroten Vorhänge und polierten Möbel in wohltuendes Licht tauchte. In der Nähe des Kamins war auch eine kleine Gruppe von Menschen zu sehen. Kaum hatte ich sie entdeckt und das vergnügte Stimmengewirr vernommen, aus dem ich Adèles helles Stimmchen herauszuhören glaubte, da wurde die Tür geschlossen.

Ich eilte in Mrs. Fairfax’ Zimmer. Hier brannte ebenfalls ein Feuer, aber keine Kerze, und Mrs. Fairfax war auch nicht da. Statt ihrer erblickte ich einen großen, schwarzweiß gefleckten, langhaarigen Hund, der sich ganz allein im Raum befand, aufrecht auf dem Teppich saß und mit ernstem Blick in die Flammen starrte. Er sah dem Gytrash, der mir unterwegs begegnet war, so ähnlich, dass ich mich ihm näherte und »Pilot« rief. Das Tier stand auf, kam zu mir und beschnüffelte mich. Ich streichelte es, und es wedelte mit seinem langen Schwanz, aber es war mir doch zu unheimlich, um mit ihm allein zu bleiben, zumal ich mir nicht erklären konnte, woher diese Kreatur gekommen war. Ich läutete, denn ich brauchte eine Kerze, und außerdem wollte ich etwas über den Besucher erfahren. Leah trat ein.

»Was ist das für ein Hund?«

»Er ist mit dem gnäd’gen Herrn gekommen.«

»Mit wem?«

»Mit dem gnäd’gen Herrn – Mr. Rochester; er ist eben eingetroffen.«

»Tatsächlich? Ist Mrs. Fairfax bei ihm?«

»Ja, und Miss Adela auch. Sie sind im Speisezimmer, und John ist einen Arzt holen gegangen, der Herr hatte nämlich einen Unfall. Sein Pferd ist gestürzt, und dabei hat er sich den Knöchel verstaucht.«

»Ist das Pferd auf dem Weg nach Hay gestürzt?«

»Ja, als er den Hügel herunterritt; es ist auf einer eisigen Stelle ausgerutscht.«

»Ach! Bringen Sie mir doch bitte eine Kerze, Leah.«

Als Leah sie brachte, folgte Mrs. Fairfax ihr auf dem Fuße und berichtete mir die Neuigkeit noch einmal, fügte jedoch hinzu, dass Mr. Carter, der Arzt, eingetroffen und nun bei Mr. Rochester sei. Dann eilte sie hinaus, um Anweisungen bezüglich des Tees zu geben, und ich begab mich nach oben, um meine Sachen abzulegen.

Jane Eyre. Eine Autobiografie

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