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Kapitel 3

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Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich mit dem Gefühl aufwachte, einen entsetzlichen Alptraum gehabt zu haben. Vor mir sah ich einen grässlichen grellroten Schein, der von dicken schwarzen Gitterstäben durchbrochen war. Auch vernahm ich Stimmen, die ganz hohl klangen, als würden sie durch das Rauschen von Wind oder Wasser gedämpft: Aufregung, Ungewissheit und ein übermächtiges Gefühl des Schreckens verwirrten meine Sinne. Bald wurde ich gewahr, dass jemand sich um mich bemühte, mich aufrichtete und mich beim Sitzen stützte, und dies liebevoller und behutsamer, als ich je aufgerichtet oder gestützt worden war. Ich lehnte meinen Kopf gegen ein Kissen oder einen Arm und fühlte mich wohl.

Fünf Minuten später war die Verwirrung, die meinen Geist getrübt hatte, gewichen, und ich erkannte, dass ich in meinem eigenen Bett lag und der rote Schein vom Kaminfeuer im Kinderzimmer kam. Es war Nacht; auf dem Tisch brannte eine Kerze; Bessie stand am Fußende des Bettes mit einer Schüssel in der Hand, und auf einem Stuhl neben meinem Kopfkissen saß ein Herr und beugte sich über mich.

Ich verspürte eine unsägliche Erleichterung, ein beruhigendes Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, als ich bemerkte, dass ein Fremder im Raum war, jemand, der nicht zu Gateshead gehörte und nichts mit Mrs. Reed zu tun hatte. Ich wandte mich von Bessie ab (obgleich mir ihre Anwesenheit weitaus weniger unangenehm war, als es zum Beispiel die von Abbot gewesen wäre) und betrachtete das Gesicht des fremden Herrn. Ich erkannte ihn: Es war Mr. Lloyd, ein Apotheker, den Mrs. Reed gelegentlich holen ließ, wenn einer der Dienstboten krank war; für sich selbst und die Kinder pflegte sie stets einen Arzt zu rufen.

»Nun, wer bin ich?«, fragte er.

Ich nannte seinen Namen und reichte ihm dabei die Hand. Er ergriff sie lächelnd und sagte: »Mit der Zeit werden wir gewiss wieder ganz gesund werden.« Dann ließ er mich in die Kissen zurückgleiten und schärfte Bessie ein, darauf zu achten, dass ich während der Nacht nicht gestört würde. Nachdem er noch einige weitere Anweisungen gegeben und angekündigt hatte, dass er am nächsten Tag wiederkommen wolle, ging er zu meinem großen Leidwesen fort, denn solange er auf seinem Stuhl neben meinem Kissen saß, hatte ich mich beschützt und nicht so verlassen gefühlt; als er jedoch die Tür hinter sich schloss, wurde das ganze Zimmer wieder düster, und mein Mut verließ mich erneut: unbeschreibliche Traurigkeit machte mir das Herz schwer.

»Glauben Sie, Sie können jetzt schlafen, Miss?«, fragte Bessie mit ungewöhnlich sanfter Stimme.

Ich wagte kaum zu antworten, denn ich fürchtete, der nächste Satz könnte schon wieder barsch sein. »Ich werde es versuchen.«

»Möchten Sie etwas trinken, oder können Sie etwas essen?«

»Nein, danke, Bessie.«

»Dann werde ich jetzt wohl besser auch zu Bett gehen, es ist schon nach zwölf. Rufen Sie mich aber ruhig, wenn Sie während der Nacht etwas brauchen.«

Welch wunderbare Höflichkeit! Sie ermutigte mich, eine Frage zu stellen.

»Bessie, was ist mit mir? Bin ich krank?«

»Wahrscheinlich sind Sie im Roten Zimmer vor lauter Weinen ohnmächtig geworden. Aber sicher geht es Ihnen bald wieder besser.«

Bessie ging in die Kammer des Hausmädchens, die sich gleich nebenan befand. Ich hörte, wie sie sagte:

»Schlafen Sie doch bei mir im Kinderzimmer, Sarah; nicht um alles in der Welt möchte ich heute Nacht mit dem armen Kind allein sein; es könnte sterben. Seltsam, dass sie diesen Anfall hatte. Ich frage mich, ob sie irgendetwas gesehen hat. Die Gnädige war diesmal wirklich zu streng.«

Sarah kam mit ihr zurück; sie legten sich beide hin und flüsterten noch eine halbe Stunde miteinander, bevor sie einschliefen. Ich fing Fetzen ihres Gesprächs auf, denen ich nur allzu deutlich entnehmen konnte, worüber sie sich unterhielten.

»Etwas huschte an ihr vorbei, etwas ganz in Weiß Gekleidetes, und verschwand« – »Ein großer schwarzer Hund folgte ihm« – »Drei laute Schläge an die Zimmertür« – »Ein Licht auf dem Friedhof, genau über seinem Grab« – etc.

Endlich schliefen beide; Feuer und Kerze erloschen. Für mich aber schleppten sich die Stunden jener endlos langen Nacht in schauriger Schlaflosigkeit dahin: Auge, Ohr und Geist waren gleichermaßen angespannt in grauenvoller Furcht, wie nur Kinder sie zu empfinden vermögen.

Der Zwischenfall im Roten Zimmer hatte keine ernstliche oder längere körperliche Erkrankung zur Folge, doch meine Nerven hatten einen Schock erlitten, dessen Nachwirkungen ich noch heute spüre. Ja, Mrs. Reed, Ihnen verdanke ich manch furchtbare Seelenqual. Aber ich sollte Ihnen vergeben, denn Sie wussten nicht, was Sie taten: Sie glaubten, nur meine schlechten Eigenschaften auszurotten, während Sie mir in Wirklichkeit das Herz brachen.

Am nächsten Tag zur Mittagszeit war ich schon wieder auf und angekleidet und saß, in einen Schal gehüllt, im Kinderzimmer am Kamin. Ich fühlte mich körperlich schwach und erschöpft, aber das Schlimmste war die unsägliche Niedergeschlagenheit, unter der ich litt – eine Niedergeschlagenheit, die mich fortwährend still vor mich hinweinen ließ. Kaum hatte ich einen salzigen Tropfen von meiner Wange gewischt, folgte schon der nächste. Dabei hatte ich das Gefühl, dass ich eigentlich hätte glücklich sein müssen, denn keiner der Reeds war da – sie waren alle mit ihrer Mama in der Kutsche ausgefahren. Auch Abbot nähte in einem anderen Zimmer, und Bessie richtete von Zeit zu Zeit in ungewohnt freundlichem Ton ein Wort an mich, während sie im Zimmer hin und her lief und dabei Spielsachen wegräumte und Schubladen in Ordnung brachte. Dieser Zustand hätte mir, die ich an nichts anderes gewöhnt war als unablässigen Tadel und undankbare Schinderei, wie ein Paradies des Friedens vorkommen müssen, doch meine gepeinigten Nerven befanden sich in einer solchen Verfassung, dass weder Ruhe sie zu besänftigen noch Angenehmes sie zu erfreuen vermochte.

Bessie war in der Küche unten gewesen und brachte mir ein Stück Torte auf einem buntbemalten Porzellanteller mit herauf, auf dem ein Paradiesvogel in einem Kranz von Winden und Rosenknospen abgebildet war und den ich stets mit Hingabe bewundert hatte. Wie oft hatte ich darum gebettelt, den Teller in die Hand nehmen zu dürfen, um ihn genauer betrachten zu können, doch war ich bis dahin einer solchen Gunst nie für würdig befunden worden. Diesen kostbaren Gegenstand stellte Bessie mir nun auf die Knie und forderte mich herzlich auf, das Stückchen köstlichen Gebäcks darauf zu essen. Vergebliche Gunst! Sie kam, wie die meisten lange verweigerten und oft ersehnten Gefälligkeiten, zu spät. Ich konnte den Kuchen nicht essen, und das Federkleid des Vogels, die Farben der Blumen schienen seltsam verblasst. Ich stellte Teller und Kuchen zur Seite. Bessie fragte, ob ich ein Buch haben wolle. Das Wort Buch weckte vorübergehend meine Lebensgeister, und ich bat sie, mir Gullivers Reisen aus der Bibliothek zu holen. Dieses Buch hatte ich immer wieder mit Vergnügen gelesen. Ich hielt es für eine Schilderung wahrer Begebenheiten und entdeckte darin Dinge, die mich mehr fesselten als das, was Märchen mir zu geben vermochten. Denn was die Elfen anbetraf, so hatte ich mich, nachdem ich sie unter Fingerhutblättern und -glocken, zwischen Pilzen und in efeuumrankten alten Mauernischen vergeblich gesucht hatte, schließlich mit der traurigen Wahrheit abgefunden, dass sie England verlassen und sich in ein unwegsameres Land geflüchtet hatten, wo die Wälder noch dicht und undurchdringlich waren und nur wenige Menschen lebten. Dagegen war ich überzeugt, dass Lilliput und Brobdingnag feste Bestandteile des Globus waren, und ich bezweifelte nicht, dass ich eines Tages nach einer langen Reise mit meinen eigenen Augen die kleinen Felder, Häuser und Bäume, die zwergenhaften Menschen, die winzigen Kühe, Schafe und Vögel des einen und auch die baumhohen Getreidefelder, die mächtigen Doggen, die Riesenkatzen und turmhohen Männer und Frauen des anderen Reiches sehen würde. Doch als ich das geliebte Buch nun in den Händen hielt, als ich in seinen Seiten blätterte und in seinen wunderbaren Bildern den Zauber suchte, den ich bisher immer darin entdeckt hatte, war alles unheimlich und bedrückend: Die Riesen waren ausgemergelte Kobolde, die Pygmäen bösartige, furchterregende kleine Teufel, Gulliver ein einsamer, hoffnungsloser Wanderer in schaurigen und gefährlichen Gegenden. Ich klappte das Buch zu, in dem ich nun nicht mehr zu lesen wagte, und legte es neben den unberührten Kuchen auf den Tisch.

Bessie war mittlerweile mit Staubwischen und Aufräumen fertig, und nachdem sie sich die Hände gewaschen hatte, öffnete sie eine kleine Schublade voller herrlicher Seiden- und Satinreste und machte sich daran, Georgianas Puppe eine neue Haube zu nähen. Dabei sang sie das Lied:

»Als einst wir übers Land gezogen,

Lang, lang ist’s her.«

Ich hatte es schon oft gehört, und zwar stets mit großem Entzücken, denn Bessie hatte eine angenehme Stimme – wenigstens fand ich das. Und obwohl ihre Stimme auch an diesem Tag hübsch klang, schien mir nun mit einem Mal eine unbeschreibliche Traurigkeit in der Melodie zu liegen. Zuweilen, wenn die Arbeit ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, sang sie den Refrain ganz leise und gedehnt, und dann ertönte ihr »Lang, lang ist’s her« wie der herzzerreißende Schluss einer Totenklage. Danach sang sie eine andere, diesmal wirklich traurige Ballade.

»Meine Füße sind wund und schwer meine Glieder,

Lang ist der Weg, den ich gehe geschwind.

Bald schon sinkt düster die Dämmerung nieder

Auf den Pfad, auf das arme Waisenkind.

Warum schicken sie mich fort, so einsam und weit

Ins Moor, wo nur Heide und Felsen ich find?

Die Menschen sind hart, nur die Engel vor Leid

Bewahren das arme Waisenkind.

Am Himmel funkeln die Sterne als glitzerndes Band,

Aus der Ferne weht sacht nur der nächtliche Wind:

Gott in seiner Gnade hebt schützend die Hand,

Spendet Hoffnung und Trost dem Waisenkind.

Und sollt ich auch gleiten vom morschen Steg,

Mich verlaufen im Moor, vor Irrlichtern blind,

Gott der Vater wird mich leiten auf meinem Weg,

Zu sich heimführn das arme Waisenkind.

Und wenn meine Kräfte dereinst einmal schwinden,

Geborgenheit, Familie versagt mir hier sind:

Der Himmel ist mein Zuhaus, eine Heimstatt werd ich dort finden,

Denn Gott ist ein Freund dem armen Waisenkind.«

»Aber, aber! So weinen Sie doch nicht, Miss Jane«, rief Bessie, als sie geendet hatte. Ebenso gut hätte sie zum Feuer sagen können: »Brenne nicht!« Doch wie sollte sie ahnen, welch krankhafte Niedergeschlagenheit sich meiner bemächtigt hatte! Im Laufe des Vormittags kam Mr. Lloyd wieder.

»Was, schon auf?«, sagte er, als er ins Kinderzimmer trat. »Nun, Bessie, wie geht es ihr?«

Bessie antwortete, es ginge mir schon recht gut.

»Dann sollte sie eigentlich fröhlicher aussehen. Kommen Sie einmal her zu mir, Miss Jane. Sie heißen doch Jane, nicht wahr?«

»Ja, Sir. Jane Eyre.«

»Sie haben geweint, Miss Jane Eyre. Können Sie mir sagen, weshalb? Haben Sie Schmerzen?«

»Nein, Sir.«

»Ach, bestimmt weint sie, weil sie nicht mit der Gnädigen in der Kutsche ausfahren konnte«, warf Bessie ein.

»Das glaube ich kaum! Für solche Kinderlaunen ist sie doch schon zu alt.«

Der Meinung war ich auch, und da meine Selbstachtung durch die falsche Anschuldigung verletzt worden war, erwiderte ich rasch: »Mein ganzes Leben lang habe ich noch nie wegen so etwas geweint. Ich hasse es geradezu, im Wagen auszufahren. Ich weine, weil mir so elend zumute ist.«

»Pfui, Miss!«, schalt Bessie.

Der gute Apotheker schien ein wenig erstaunt. Ich stand vor ihm, und er musterte mich aufmerksam. Seine Augen waren klein und grau und glänzten nicht sehr, doch würde ich sie heute wohl als klug bezeichnen. Er hatte harte Gesichtszüge, wirkte aber trotzdem gutmütig. Nachdem er mich ausgiebig betrachtet hatte, fragte er: »Was hat Sie gestern krank gemacht?«

»Sie ist hingefallen«, mischte sich Bessie erneut ein.

»Hingefallen? Das klingt ja schon wieder, als wäre sie noch ein kleines Kind! Kann sie denn noch nicht richtig laufen? In ihrem Alter? Sie muss doch acht oder neun Jahre alt sein.«

»Ich wurde zu Boden geschlagen«, erklärte ich unverblümt, da mein Stolz erneut verletzt worden war. »Aber das hat mich nicht krank gemacht«, fügte ich hinzu, während Mr. Lloyd eine Prise Schnupftabak nahm.

Als er die Dose wieder in seiner Westentasche verstaute, rief eine laute Glocke die Dienstboten zum Mittagessen. Auch Mr. Lloyd wusste, was das Läuten zu bedeuten hatte. »Das gilt Ihnen, Fräulein«, wandte er sich an Bessie. »Gehen Sie ruhig hinunter. Ich werde Miss Jane ins Gebet nehmen, bis Sie zurückkommen.«

Bessie wäre zwar lieber dageblieben, musste aber gehen, denn in Gateshead Hall wurde auf Pünktlichkeit bei den Mahlzeiten streng geachtet.

»Der Sturz hat Sie also nicht krank gemacht. Was war es denn dann?«, fuhr Mr. Lloyd fort, nachdem Bessie gegangen war.

»Ich war bis nach Einbruch der Dunkelheit in einem Zimmer eingeschlossen, in dem es spukt.«

Ich bemerkte, dass Mr. Lloyd lächelte, dabei aber gleichzeitig die Stirn runzelte. »Spukt! Dann sind Sie ja doch noch ein kleines Kind! Sie haben Angst vor Geistern?«

»Vor Mr. Reeds Geist schon. Er starb in dem Zimmer und wurde dort aufgebahrt. Weder Bessie noch sonst jemand geht bei Dunkelheit hinein, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt; und es war grausam, mich dort ganz allein und ohne Kerze einzusperren – so grausam, dass ich es wohl niemals vergessen werde.«

»Unsinn! Und deshalb ist Ihnen elend zumute? Fürchten Sie sich denn jetzt am helllichten Tag auch?«

»Nein, aber es wird bald wieder Nacht werden; außerdem bin ich aus ganz anderen Gründen unglücklich – sehr unglücklich sogar.«

»Was sind denn das für Gründe? Können Sie mir ein paar nennen?«

Wie gern hätte ich diese Frage ausführlich und aufrichtig beantwortet! Wie schwer fiel es mir indes schon, überhaupt eine Antwort zu geben! Kinder sind wohl tiefer Gefühle fähig, vermögen sie aber nicht zu erklären; und selbst wenn es ihnen in Gedanken gelingt, sich wenigstens teilweise darüber klar zu werden, wissen sie doch nicht, wie sie das Ergebnis ihrer Überlegungen in Worte fassen sollen. Aus Angst, die erste und einzige Gelegenheit zu versäumen, mir meinen Kummer von der Seele zu reden und mir damit ein wenig Erleichterung zu verschaffen, brachte ich nach einer Weile angestrengten Nachdenkens allerdings doch noch eine zwar etwas dürftige, aber immerhin wahrheitsgemäße Antwort zustande.

»Erstens habe ich weder Vater noch Mutter und auch keine Geschwister.«

»Sie haben eine gütige Tante, einen netten Vetter und liebenswürdige Kusinen.«

Wieder zögerte ich. Dann platzte ich unbeholfen heraus:

»Aber John Reed hat mich zu Boden geschlagen, und meine Tante hat mich im Roten Zimmer eingesperrt.«

Mr. Lloyd holte ein zweites Mal seine Schnupftabakdose hervor.

»Finden Sie nicht, dass Gateshead Hall ein wunderschönes Haus ist?«, fragte er. »Sind Sie denn nicht zutiefst dankbar, dass Sie an einem so schönen Ort leben dürfen?«

»Es ist ja nicht mein Haus, Sir; und Abbot sagt, ich hätte weniger Recht, hier zu sein, als ein Dienstbote.«

»Pah! Sie werden doch nicht so töricht sein, von einem so herrlichen Ort fortzuwollen?«

»Wenn ich irgendwo anders hin könnte, würde ich Gateshead Hall gern verlassen; aber ich werde von hier wohl erst wegkommen, wenn ich erwachsen bin – vorher nicht.«

»Vielleicht doch – wer weiß? Haben Sie irgendwelche Verwandte außer Mrs. Reed?«

»Ich glaube nicht, Sir.«

»Keine Verwandten väterlicherseits?«

»Ich weiß es nicht; ich habe Tante Reed einmal danach gefragt, und sie sagte, möglicherweise hätte ich noch ein paar arme, heruntergekommene Verwandte namens Eyre, aber sie wisse nichts von ihnen.«

»Falls es solche Verwandte wirklich gäbe – würden Sie dann zu ihnen gehen wollen?«

Ich überlegte. Armut erscheint schon Erwachsenen als etwas Schreckliches, und Kindern noch viel mehr. Sie haben kaum eine Vorstellung von der ehrbaren Armut anständiger, arbeitsamer Menschen und verbinden den Begriff meist nur mit zerlumpter Kleidung, kärglichem Essen, kalten Kaminen, rohen Manieren und entwürdigenden Lastern. Armut war für mich gleichbedeutend mit Erniedrigung.

»Nein, zu armen Leuten möchte ich nicht gehören«, lautete meine Antwort.

»Auch nicht, wenn sie gut zu Ihnen wären?«

Ich schüttelte den Kopf; ich konnte mir nicht vorstellen, wie arme Leute es fertigbringen sollten, gut zu sein. Und dann der Gedanke, einmal so zu sprechen wie sie, ihre Umgangsformen anzunehmen, ungebildet zu sein und aufzuwachsen wie eine der Frauen, die ich manchmal im Dorf vor den Türen ihrer Hütten ihre Kinder stillen oder Wäsche waschen sah – nein, ich war nicht heroisch genug, mir meine Freiheit auf Kosten meiner gesellschaftlichen Stellung zu erkaufen.

»Aber sind Ihre Verwandten denn wirklich so arm? Sind es Arbeiter?«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen. Tante Reed meint, wenn ich überhaupt welche hätte, so könnte es nur Bettelvolk sein, und betteln gehen möchte ich nicht.«

»Würden Sie gern zur Schule gehen?«

Wieder überlegte ich. Ich wusste kaum, was eine Schule war. Bessie sprach zuweilen davon als einem Ort, wo junge Mädchen aus vornehmem Hause mit einem Brett auf dem Rücken kerzengerade auf harten Bänken sitzen und sich schrecklich geziert und steif benehmen mussten. John Reed hasste seine Schule und schimpfte über seinen Lehrer, doch John Reeds Ansichten waren für mich kein Maßstab, und wenn Bessies Schilderungen von schulischer Zucht und Ordnung (die von den jungen Damen einer Familie stammten, bei der sie in Dienst gewesen war, ehe sie nach Gateshead kam) einerseits auch recht abschreckend waren, so hatten andererseits ihre Berichte über gewisse Fertigkeiten, die die jungen Damen dort erwarben, für mich etwas Verlockendes. Voller Stolz erzählte sie von herrlichen Landschafts- und Blumenbildern, die diese gemalt hatten; von Liedern, die sie singen, und Musikstücken, die sie spielen konnten, von Geldbörsen, die sie in feiner Filetarbeit häkelten, von französischen Büchern, die sie übersetzen konnten, bis in mir beim Zuhören schließlich das Verlangen wuchs, es ihnen gleichzutun. Für mich würde ein Schulbesuch zudem eine grundlegende Veränderung bedeuten: eine lange Reise, eine vollständige Trennung von Gateshead und den ersten Schritt in ein neues Leben.

»Ich würde sehr gern zur Schule gehen«, war die laut geäußerte Schlussfolgerung aus meinen Überlegungen.

»So, so. Nun, wer weiß, was passieren wird?«, sagte Mr. Lloyd und erhob sich. »Dem Kind würde eine Luftveränderung und eine andere Umgebung guttun«, fügte er, mehr zu sich selbst, hinzu. »Nervlich in keiner guten Verfassung.«

In diesem Augenblick kam Bessie zurück, und gleichzeitig hörte man den Wagen den Kiesweg herauffahren.

»Ist das Ihre Herrin?«, wandte sich Mr. Lloyd an Bessie. »Ich würde gern mit ihr sprechen, bevor ich gehe.«

Bessie bat ihn, im Frühstückszimmer zu warten, und führte ihn dorthin. Die späteren Ereignisse veranlassen mich zu der Vermutung, dass der Apotheker in der folgenden Unterredung meiner Tante nahegelegt haben muss, mich auf eine Schule zu schicken. Seine Empfehlung wurde ohne Zweifel nur zu bereitwillig angenommen, wie ich einer Bemerkung Abbots entnehmen konnte, die sie eines Abends machte, als sie mit Bessie im Kinderzimmer saß und nähte. Ich lag im Bett, und Bessie und Abbot, die wohl annahmen, ich schliefe schon, unterhielten sich über mich. Mrs. Reed sei gewiss überaus froh, erklärte Abbot, ein so lästiges, bösartiges Kind loszuwerden, das immer den Eindruck mache, als beobachte es alle und jeden und führe stets irgendetwas im Schilde. Ich glaube, Abbot hielt mich für eine Art kindlichen Guy Fawkes.

Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch aus dem, was Miss Abbot Bessie erzählte, dass mein Vater ein armer Geistlicher gewesen war; dass meine Mutter ihn gegen den Willen ihrer Angehörigen geheiratet hatte, die die Verbindung für nicht standesgemäß hielten; dass mein Großvater Reed über ihren Ungehorsam äußerst erzürnt war und er sie bis auf den letzten Shilling enterbte; dass mein Vater ein Jahr nach der Hochzeit an Typhus erkrankte, als er Krankenbesuche bei den Armen seiner in einer großen Industriestadt gelegenen Pfarre machte, während die Seuche dort wütete, und dass meine Mutter sich bei ihm ansteckte und beide innerhalb eines Monats starben.

Als Bessie diese Geschichte hörte, seufzte sie und sagte: »Die arme Miss Jane kann einem aber auch leidtun, Abbot.«

»Ja«, erwiderte Abbot, »wenn sie ein liebes, hübsches Kind wäre, könnte man Mitleid mit ihr haben, so einsam und verlassen, wie sie ist, aber eine solch kleine Kröte kann man beim besten Willen nicht gern haben.«

»Nicht sehr, das stimmt schon«, pflichtete Bessie ihr bei, »jedenfalls würde eine Schönheit wie Miss Georgiana unter den gleichen Umständen viel rührender wirken.«

»O ja, in Miss Georgiana bin ich ganz vernarrt!«, rief Abbot begeistert. »Ein richtiger kleiner Schatz! Mit ihren langen Locken und blauen Augen und ihrem rosigen Teint sieht sie fast aus wie gemalt! – Ich hätte Lust auf eine überbackene Käseschnitte zum Nachtessen, Bessie.«

»Ich auch – mit einer gerösteten Zwiebel. Kommen Sie, wir wollen hinuntergehen.« Und damit gingen sie.

Jane Eyre. Eine Autobiografie

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