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Kapitel 10

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Bisher habe ich die Ereignisse meines unbedeutenden Daseins recht ausführlich geschildert: Den ersten zehn Jahren meines Lebens habe ich fast ebenso viele Kapitel gewidmet. Doch dies soll keine regelrechte Autobiografie werden. Ich will nur solche Erinnerungen beschwören, die meiner Meinung nach von gewissem Interesse sind. Aus diesem Grunde überspringe ich nun einen Zeitraum von acht Jahren nahezu stillschweigend; nur wenige Zeilen sind nötig, um den Zusammenhang herzustellen.

Als das Typhusfieber sein Werk der Zerstörung in Lowood vollendet hatte, ebbte es allmählich ab, doch geschah dies erst, nachdem seine Heftigkeit und die Zahl seiner Opfer die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Schule gelenkt hatten. Nachforschungen über den Ursprung dieser Geißel wurden angestellt, und nach und nach kamen verschiedene Dinge ans Licht, die allgemein beträchtliche Empörung hervorriefen. Die ungesunde Lage der Schule, die Quantität und Qualität des Essens, das den Kindern vorgesetzt wurde, das stinkende Brackwasser, das man zu seiner Zubereitung verwendete, die erbärmliche Kleidung und Unterbringung der Schülerinnen – all das wurde nun aufgedeckt. Für Mr. Brocklehurst erwiesen sich diese Enthüllungen als demütigend und vernichtend, für die Anstalt hingegen als Segen.

Mehrere wohlhabende und mildtätige Personen in der Grafschaft spendeten große Summen für die Errichtung eines zweckmäßigeren Gebäudes in einer günstigeren Lage, eine neue Hausordnung wurde aufgestellt, Verpflegung und Kleidung wurden besser, und die Verwaltung der Stiftungsgelder wurde einem Komitee anvertraut. Mr. Brocklehurst, der aufgrund seines Vermögens und der Beziehungen seiner Familie nicht übergangen werden konnte, behielt zwar weiterhin den Posten des Schatzmeisters, doch wurde er bei der Ausübung seiner Tätigkeit von zwei wesentlich aufgeschlosseneren und einfühlsameren Herren unterstützt. Auch sein Amt als Oberaufseher über die Schule musste er nun mit Leuten teilen, die Strenge mit Vernunft, Wirtschaftlichkeit mit Behaglichkeit und Rechtschaffenheit mit Barmherzigkeit zu verbinden wussten. Dank dieser Verbesserungen wurde die Anstalt mit der Zeit zu einer wirklich nützlichen und vortrefflichen Einrichtung. Nach dieser Umgestaltung lebte ich noch acht Jahre in ihren Mauern – sechs als Schülerin und zwei als Lehrerin; und in beiden Eigenschaften kann ich ihren Wert und ihre Bedeutung bezeugen.

Während dieser acht Jahre verlief mein Leben einförmig, aber ich war nicht unglücklich, weil ich nie untätig war. Ich hatte Gelegenheit, mir eine ausgezeichnete Bildung anzueignen. Meine Vorliebe für einige Fächer und der Wunsch, mich in allen hervorzutun, spornten mich ebenso an wie die große Freude, die es mir bereitete, meine Lehrerinnen, vor allem natürlich jene, die ich gernhatte, zufriedenzustellen. Ich nutzte alle Möglichkeiten, die sich mir boten, und zu guter Letzt wurde ich Klassenbeste der ersten Klasse. Danach erhielt ich eine Stelle als Lehrerin, und zwei Jahre lang erfüllte ich meine Pflichten mit Eifer und Hingabe. Gegen Ende dieser Zeitspanne ging indes eine Veränderung in mir vor.

Bis dahin war Miss Temple während all der Umgestaltungen in Lowood Schulleiterin geblieben; ihrem Unterricht verdankte ich den wertvollsten Teil meines Wissens; in ihrer Freundschaft und ihrer Gesellschaft hatte ich stets Trost gefunden; sie war mir Mutter, Erzieherin und später auch Kameradin gewesen. Doch um diese Zeit heiratete sie und zog mit ihrem Gatten (einem Geistlichen und trefflichen, einer solchen Frau beinahe würdigen Mann) in eine ferne Grafschaft und war damit für mich verloren.

Von dem Tag an, an dem sie die Schule verließ, war ich nicht mehr die Gleiche: Mit ihr schwand jegliches Gefühl der Geborgenheit, jede tiefere menschliche Beziehung – all das also, was mich in Lowood bis zu einem gewissen Grad hatte heimisch werden lassen. Ich hatte etwas von ihrer Wesensart und viele ihrer Gewohnheiten angenommen, meine Gedanken waren harmonischer geworden, ausgeglichenere Gefühle schienen in meiner Brust zu wohnen. Ich hatte mich an Pflichterfüllung und Ordnung gewöhnt. Ich war ruhig und glaubte zufrieden zu sein. In den Augen anderer und gewöhnlich auch in meinen eigenen war ich ein disziplinierter, beherrschter Mensch.

Doch das Schicksal trat in Gestalt von Hochwürden Nasmyth zwischen mich und Miss Temple: Ich sah sie kurz nach der Trauung in ihrem Reisekleid eine Postkutsche besteigen, blickte dem Wagen nach, wie er den Hügel hinauffuhr und hinter der Anhöhe verschwand. Dann zog ich mich auf mein Zimmer zurück und verbrachte dort einsam und allein den größten Teil des freien Nachmittags, den man uns zur Feier des Tages gewährt hatte.

Die meiste Zeit ging ich in meiner Kammer auf und ab. Ich bildete mir ein, ich beklagte nur meinen Verlust und überlegte, wie ich darüber hinwegkommen könnte, doch als ich am Ende meiner Betrachtungen aufblickte und feststellte, dass der Nachmittag längst vergangen und der Abend schon weit fortgeschritten war, machte ich eine ganz andere Entdeckung, nämlich, dass in der Zwischenzeit erneut eine Veränderung in mir vorgegangen war – dass mein Wesen alles, was es von Miss Temple angenommen hatte, wieder abgestreift hatte, oder vielmehr, dass sie die Atmosphäre heiterer Gemütsruhe, die ich in ihrer Nähe geatmet hatte, mit sich fortgenommen hatte und ich nun mit meinem ursprünglichen Naturell zurückblieb. Ich spürte, wie sich die alten Empfindungen bereits wieder in mir zu regen begannen. Mir war nicht, als sei ich einer Stütze beraubt worden, sondern eher, als sei eine Triebfeder in mir zerbrochen, denn ich hatte zwar nicht die Fähigkeit verloren, ruhig und zufrieden zu sein, doch sah ich keinen Grund mehr zu Ruhe und Zufriedenheit. Jahrelang war Lowood meine Welt gewesen; meine Erfahrung war bisher allein von seinen Vorschriften und seiner Ordnung geprägt worden. Nun besann ich mich darauf, dass die Welt draußen groß und weit war und vielfältige Hoffnungen und Ängste, Eindrücke und Anregungen für diejenigen bereithielt, die den Mut hatten, sich ihr zu stellen und inmitten drohender Gefahren das Leben wirklich kennenzulernen.

Ich trat ans Fenster, öffnete es und schaute hinaus. Da waren die beiden Flügel des Gebäudes, der Garten, die Mauer, die Lowood umgab, und dahinter der hügelige Horizont. Mein Blick glitt über alles hinweg, um bei den blauen Gipfeln in der Ferne zu verweilen. Sie wollte ich hinter mir lassen: Alles, was sie mit Fels und Heide umschlossen, kam mir wie ein Gefängnis, ein Ort der Verbannung vor. Ich folgte der weißen Straße, die sich am Fuß eines Berges entlangwand und in einer Schlucht zwischen zwei Hügeln verschwand. Wie sehr verlangte es mich danach, ihr weiter zu folgen! Ich musste an die Zeit zurückdenken, als ich in einer Kutsche auf eben dieser Straße hierher gekommen war; ich erinnerte mich, wie ich in der Abenddämmerung jenen Hügel heruntergefahren war. Eine Ewigkeit schien seit dem Tag meiner Ankunft in Lowood vergangen zu sein, und ich hatte es seitdem kein einziges Mal verlassen. Meine Ferien hatte ich immer in der Schule verbracht. Mrs. Reed hatte mich nie nach Gateshead kommen lassen; weder sie noch ein anderes Mitglied ihrer Familie hatte mich jemals besucht. Ich hatte keinerlei Verbindung mit der Außenwelt gehabt, kein Brief, keine Nachricht hatte mich je erreicht. Schulregeln, Schulpflichten, Schulgewohnheiten und -ansichten, Stimmen und Gesichter, Redensarten und Tracht, Vorlieben und Abneigungen dieser engen Welt – das war alles, was ich vom Leben kannte. Und nun spürte ich mit einem Mal, dass dies nicht genug war. Innerhalb eines einzigen Nachmittags wurde ich des gleichförmigen Lebens überdrüssig, das ich während der vergangenen acht Jahre geführt hatte. Ich sehnte mich nach Freiheit; nach Freiheit lechzte ich; um Freiheit betete ich. Doch der sacht wehende Wind schien mein Gebet in alle Richtungen zu zerstreuen; ich hielt inne und äußerte eine bescheidenere Bitte – die Bitte um Veränderung, neuen Ansporn. Auch dieses Gesuch schien sich in der Weite des Raums zu verlieren. »Dann«, rief ich halb verzweifelt, »lass mich wenigstens einen neuen Dienst finden.«

In diesem Augenblick rief die Glocke zum Abendessen, und ich ging hinunter.

Ich musste bis zur Schlafenszeit warten, ehe ich meine unterbrochenen Überlegungen wieder aufnehmen konnte, aber selbst dann hielt mich eine Lehrerin, die das Zimmer mit mir teilte, mit einem endlosen Gespräch über völlig belanglose Dinge davon ab, mich mit dem Thema zu beschäftigen, dem ich mich so sehnlich wieder zuwenden wollte. Wie sehr wünschte ich mir, der Schlaf würde sie endlich verstummen lassen! Mir war, als brauchte ich nur den Gedanken, der mir vorhin am Fenster zuletzt durch den Kopf gegangen war, aufzugreifen, und der erlösende Einfall würde sich ganz von selbst einstellen.

Endlich schnarchte Miss Gryce. Sie war eine plumpe Waliserin, und bisher hatte ich die nasalen Laute, die sie allnächtlich von sich gab, stets nur als Ärgernis empfunden. An diesem Abend hörte ich die ersten tiefen Töne indes mit Genugtuung. Ich hatte keine Unterbrechung mehr zu befürchten, und sofort wurde die noch verschwommene Idee wieder lebendig.

›Ein neuer Dienst! Der Gedanke hat etwas für sich‹, sagte ich mir (im Geiste, versteht sich, ich sprach natürlich nicht laut). ›Da muss was dran sein, denn es klingt nicht allzu verlockend. Es ist nicht vergleichbar mit Worten wie Freiheit, Anregung, Vergnügen – wahrlich wunderbare Worte, für mich aber eben nur Worte, und zwar so hohle und vergängliche Worte, dass es reine Zeitverschwendung ist, ihnen zu lauschen. Aber Dienst! Das ist doch etwas Realistisches. Jeder kann dienen. Ich habe hier acht Jahre lang gedient; und ich will ja weiter nichts, als künftig anderswo zu dienen. Kann ich nicht wenigstens so viel aus eigener Kraft erreichen? Das muss doch machbar sein! Ja, ja – die Absicht ließe sich durchaus in die Tat umsetzen, wenn nur mein Verstand rege genug wäre, Mittel und Wege zu ihrer Verwirklichung ausfindig zu machen.‹

Ich setzte mich im Bett auf, um besagten Verstand wachzurütteln. Die Nacht war kühl; ich legte mir einen Schal um die Schultern und dachte dann angestrengt nach.

›Was will ich denn eigentlich? Eine neue Stellung in einem anderen Haus, andere Gesichter um mich und andere Verhältnisse. Das will ich, weil es zwecklos ist, mir etwas Besseres zu wünschen. Wie findet man eine neue Stellung? Vermutlich wendet man sich an Freunde. Ich habe keine Freunde. Es gibt viele andere Menschen, die keine Freunde haben, die auf sich allein gestellt sind und sich selbst helfen müssen. Zu welchen Mitteln greifen sie?

Ich wusste es nicht, fand keine Antwort. Dann befahl ich meinem Hirn, sich eine Lösung einfallen zu lassen, und zwar rasch. Es arbeitete schneller und immer schneller. Ich fühlte das Blut in Kopf und Schläfen pochen, doch nahezu eine Stunde lang herrschte in meinen Gedanken nur Chaos, mühte es sich umsonst ab. Von der vergeblichen Anstrengung ganz fiebrig, stand ich auf und ging im Zimmer auf und ab. Ich zog den Vorhang zurück, sah ein, zwei Sterne am Himmel, begann schließlich vor Kälte zu zittern und kroch wieder in mein Bett.

Gewiss hatte während meiner Abwesenheit eine gute Fee die ersehnte Eingebung auf mein Kissen fallen lassen, denn als ich mich niederlegte, kam mir plötzlich und ganz von selbst der Gedanke: ›Wer eine Stelle sucht, gibt eine Anzeige auf. Du musst eine Anzeige im –shire Herald aufgeben.‹

›Aber wie? Ich weiß nicht, wie man das macht.‹

Die Antwort kam jetzt mühelos und umgehend:

›Du musst die Anzeige und das Geld dafür in einen Umschlag stecken und ihn an den Herausgeber des Herald adressieren. Bei der ersten Gelegenheit, die sich dir bietet, musst du ihn auf dem Postamt von Lowton aufgeben. Antwortschreiben sind an J. E., postlagernd, Lowton, zu richten. Etwa eine Woche, nachdem du den Brief abgeschickt hast, kannst du nachfragen, ob etwas eingegangen ist, und entsprechend handeln.‹

Diesen Plan ging ich zwei- oder dreimal in Gedanken durch, bis mir jeder Schritt ganz klar war und ich mein weiteres Vorgehen festgelegt hatte. Dann schlief ich beruhigt und zufrieden ein.

Mit der ersten Morgendämmerung erhob ich mich, und noch ehe die Glocke zum Wecken ertönte, hatte ich meine Anzeige geschrieben, in einen Umschlag gesteckt und adressiert. Sie hatte folgenden Wortlaut:

»Junge Dame mit Erfahrung im Unterrichten« (war ich nicht zwei Jahre Lehrerin gewesen?) »sucht Stellung in einer Familie mit Kindern unter vierzehn Jahren.« (Da ich selbst erst knapp achtzehn war, schien es mir nicht richtig, die Führung und Anleitung von Schülern zu übernehmen, die fast in meinem Alter waren.) »Sie ist befähigt, Unterricht in den üblichen Fächern einer guten englischen Allgemeinbildung zu erteilen, sowie in Französisch, Zeichnen und Musik.« (In jenen Tagen, lieber Leser, galt diese für heutige Verhältnisse beschränkt erscheinende Auflistung von Fertigkeiten als durchaus umfassend.) »Angebote sind zu richten an J. E., postlagernd, Lowton, –shire.«

Dieses Schriftstück blieb den ganzen Tag in meiner Schublade eingeschlossen. Nach dem Tee bat ich die neue Schulleiterin um Erlaubnis, nach Lowton gehen zu dürfen, um ein paar Besorgungen für mich selbst und ein oder zwei meiner Kolleginnen zu erledigen. Die Genehmigung wurde bereitwillig erteilt, und ich machte mich auf den Weg. Ich musste zwei Meilen gehen, und der Abend war feucht, doch die Tage waren noch lang. Ich ging in ein, zwei Geschäfte, brachte meinen Brief aufs Postamt und kehrte dann bei strömendem Regen mit völlig durchnässten Kleidern, aber erleichtertem Herzen zurück.

Die folgende Woche schien mir endlos lang. Doch wie alles auf der Welt ging auch sie schließlich zu Ende, und am Abend eines herrlichen Herbsttages befand ich mich erneut auf dem Weg nach Lowton. Es war, nebenbei bemerkt, ein malerischer Pfad, der entlang des Baches und durch den hübschesten Teil des Tales führte, aber an jenem Tag dachte ich mehr an die Briefe, die mich vielleicht in dem kleinen Marktflecken, zu dem ich unterwegs war, erwarteten, als an den Liebreiz von Wiesen und Bächlein.

Als Vorwand für diesen Gang hatte mir diesmal ein Besuch beim Schuhmacher gedient, wo ich mir neue Schuhe anmessen lassen wollte, und dies erledigte ich auch zunächst. Danach erst überquerte ich die saubere, ruhige Straße, die zwischen dem Schuhmacherladen und dem Postamt lag. Es wurde von einer alten Dame geführt, die auf der Nase eine Hornbrille trug und deren Hände in fingerlosen schwarzen Handschuhen steckten.

»Sind Briefe für J. E. da?«, fragte ich.

Sie musterte mich über den Rand ihrer Brille hinweg, öffnete dann eine Schublade und kramte so lange darin herum, dass meine Hoffnungen zu schwinden begannen. Schließlich zog sie doch noch einen Umschlag heraus, begutachtete ihn fast fünf Minuten lang und reichte ihn mir mit einem erneuten misstrauischen und forschenden Blick über den Schaltertisch – es war ein Brief für J. E.

»Nur dieser eine?«, fragte ich.

»Sonst ist nichts gekommen«, antwortete sie. Ich steckte ihn in meine Tasche und machte mich auf den Heimweg. Ich konnte ihn nicht gleich öffnen, denn laut Hausordnung musste ich spätestens um acht Uhr zurück sein, und es war bereits halb acht.

Bei meiner Rückkehr erwarteten mich verschiedene Pflichten. Ich hatte während der Hausaufgabenstunde Aufsicht zu führen, außerdem war ich an der Reihe, die Gebete zu lesen und die Mädchen zu Bett zu bringen. Danach aß ich mit den anderen Lehrerinnen zu Abend, und selbst als wir uns endlich zum Schlafengehen zurückzogen, war da noch immer die unvermeidliche Miss Gryce, meine Zimmergenossin. In unserem Kerzenständer steckte nur mehr ein kurzer Stummel, und ich fürchtete, sie könnte so lange schwatzen, bis er völlig niedergebrannt war. Zum Glück jedoch hatte das schwere Essen, das sie zu sich genommen hatte, eine einschläfernde Wirkung auf sie, und noch ehe ich mit dem Auskleiden fertig war, schnarchte sie bereits. Es war noch ein kleiner Kerzenrest übrig. Ich nahm meinen Brief heraus. Das Siegel trug den Buchstaben F.; ich erbrach es – der Inhalt des Schreibens war kurz.

»Wenn J. E., die im –shire Herald vom vergangenen Donnerstag inseriert hat, die angeführten Fähigkeiten wirklich besitzt und in der Lage ist, zufriedenstellende Referenzen hinsichtlich ihres Charakters und ihrer Eignung beizubringen, kann ihr eine Stelle angeboten werden, bei der nur eine einzige Schülerin, ein kleines Mädchen unter zehn Jahren, zu betreuen ist und das Gehalt dreißig Pfund im Jahr beträgt. J. E. wird ersucht, Referenzen, Name, Adresse und alle weiteren Angaben an folgende Anschrift zu senden: Mrs. Fairfax, Thornfield bei Millcote, –shire.«

Lange prüfte ich das Schriftstück; die Handschrift war altmodisch und etwas unsicher wie die einer älteren Frau. Dieser Umstand beruhigte mich, denn insgeheim hatte ich befürchtet, dass mich mein eigenmächtiges Vorgehen, bei dem ich ja ganz auf mich allein gestellt war, in eine unangenehme Lage bringen könnte, und dabei wünschte ich doch nichts mehr, als dass das Ergebnis meiner Bemühungen schicklich, einwandfrei, en règle sei. Da war es sicherlich nicht schlecht, wenn ich es bei meinem Vorhaben mit einer älteren Dame zu tun hatte. Mrs. Fairfax! Ich sah sie in einem schwarzen Kleid und Witwenhaube vor mir; etwas kühl und zurückhaltend vielleicht, aber nicht unhöflich: der Inbegriff einer ehrbaren älteren Engländerin. Thornfield! Dies war bestimmt der Name ihres Hauses, und ich war mir ganz sicher, dass es sich um ein sauberes, gepflegtes Anwesen handelte, auch wenn es mir nicht gelang, mir eine rechte Vorstellung von dem Besitz zu machen. Millcote, –shire! Ich rief mir die Landkarte von England ins Gedächtnis und fand darauf Stadt und Grafschaft. Sie lag siebzig Meilen näher bei London als die abgelegene Region, in der ich jetzt lebte, und dies allein schien mir schon eine Empfehlung zu sein, denn ich sehnte mich nach einem Ort, an dem es Leben und Bewegung gab. Millcote war eine große Industriestadt an den Ufern des Flusses A–, zweifellos ein betriebsamer Ort, doch das war mir nur recht – wenigstens wäre es dann eine grundlegende Veränderung. Nicht dass mich der Gedanke an hohe Fabrikschornsteine und Rauchwolken gerade in Begeisterung versetzt hätte, ›aber‹, so sagte ich mir, ›Thornfield liegt bestimmt ein gutes Stück von der Stadt entfernt‹.

Unterdessen war die Kerze ganz heruntergebrannt, und die Flamme erlosch.

Am nächsten Tag galt es, weitere Schritte einzuleiten. Ich konnte meine Pläne nicht länger für mich behalten, sondern musste andere einweihen, wenn sie zum Erfolg führen sollten. Ich bat die Schulleiterin um eine Unterredung, die sie mir in der Mittagspause auch gewährte, und teilte ihr mit, ich hätte Aussicht auf eine neue Stelle, wo mein Gehalt doppelt so hoch sein würde wie mein augenblickliches (denn in Lowood erhielt ich nur fünfzehn Pfund im Jahr). Ich ersuchte sie, mit Mr. Brocklehurst oder einem anderen Mitglied des Komitees über die Sache zu sprechen und zu fragen, ob ich sie als Referenz angeben dürfe. Bereitwillig erklärte sie sich einverstanden, in dieser Angelegenheit als Vermittlerin aufzutreten, und schon am nächsten Tag trug sie Mr. Brocklehurst mein Anliegen vor. Dieser erwiderte, man müsse zunächst an Mrs. Reed schreiben, da sie mein rechtmäßiger Vormund sei. Also wurde eine Mitteilung an jene Dame geschickt, die antwortete, »ich könne tun und lassen, was ich wolle: sie habe längst aufgehört, sich in meine Angelegenheiten einzumischen«. Diese Erklärung machte bei den Komiteemitgliedern die Runde, und nach einer mir endlos erscheinenden Verzögerung erhielt ich schließlich die offizielle Genehmigung, meine Situation zu verbessern, wenn sich mir die Möglichkeit dazu biete. Außerdem wurde mir versichert, man werde mir, da mein Betragen in Lowood weder als Lehrerin noch als Schülerin jemals Anlass zur Klage gegeben habe, ein von den Inspektoren der Anstalt unterzeichnetes Zeugnis über meinen Charakter und meine Fähigkeiten ausstellen.

Dieses Zeugnis bekam ich etwa einen Monat später, schickte eine Abschrift davon an Mrs. Fairfax und erhielt von dieser Dame ein Antwortschreiben, in dem sie mir mitteilte, die Auskünfte stellten sie zufrieden und ich solle in vierzehn Tagen meine Stelle als Erzieherin in ihrem Haus antreten.

Von da an widmete ich mich eifrig den nötigen Vorbereitungen für meine Abreise, und die vierzehn Tage vergingen rasch. Ich besaß keine sehr große Garderobe, aber sie genügte meinen Ansprüchen und Bedürfnissen, und der letzte Tag reichte völlig, um meinen Koffer zu packen – denselben, den ich acht Jahre zuvor aus Gateshead mitgebracht hatte.

Er war bereits verschnürt, die Karte mit der Anschrift daran befestigt. In einer halben Stunde sollte er von einem Träger abgeholt und nach Lowton gebracht werden, wohin ich selbst mich am nächsten Tag in aller Frühe begeben sollte, um dort die Postkutsche zu besteigen. Ich hatte mein schwarzes, wollenes Reisekleid ausgebürstet, Hut, Handschuhe und Muff bereitgelegt, in allen meinen Schubfächern nachgesehen, um mich zu vergewissern, dass ich auch wirklich nichts vergessen hatte, und nun, da mir nichts weiter zu tun blieb, setzte ich mich hin und versuchte mich auszuruhen. Es gelang mir nicht; obwohl ich den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war, konnte ich mich jetzt nicht einen einzigen Augenblick entspannen. Ich war viel zu aufgeregt. Ein Abschnitt meines Lebens ging an diesem Abend zu Ende, am nächsten Morgen würde ein neuer beginnen. Es war mir einfach unmöglich, in der Zwischenzeit zu schlafen. Fiebernd wachte ich, während sich der Übergang vollzog.

»Miss Eyre«, sagte das Dienstmädchen, das mich auf dem Flur antraf, wo ich wie ein rastloser Geist umging, »unten ist jemand, der Sie zu sprechen wünscht.«

›Gewiss der Gepäckträger‹, dachte ich und lief, ohne mich näher zu erkundigen, die Treppe hinunter. Als ich auf dem Weg in die Küche am hinteren Salon vorübereilte, der den Lehrerinnen als Wohnzimmer diente, stand dessen Tür halb offen. Plötzlich stürzte jemand heraus.

»Das ist sie, ganz bestimmt! Ich hätte sie überall wiedererkannt!«, rief die Person, die sich mir in den Weg stellte und meine Hand ergriff.

Ich blickte auf und sah mich einer gesetzt wirkenden, aber noch jungen und sehr hübschen schwarzhaarigen Frau mit dunklen Augen und gesunder Gesichtsfarbe gegenüber, die wie ein herrschaftliches Dienstmädchen gekleidet war.

»Nun, wer bin ich?«, fragte sie mit einer Stimme und einem Lächeln, die mir sofort bekannt vorkamen. »Sie haben mich doch hoffentlich nicht ganz vergessen, Miss Jane?«

Im nächsten Augenblick umarmte und küsste ich sie stürmisch. »Bessie! Bessie! Bessie!«, war alles, was ich herausbrachte, während sie gleichzeitig lachte und weinte. Zusammen gingen wir in den Salon, wo ein kleines, etwa dreijähriges Kerlchen in karierter Jacke und Hose am Kamin stand.

»Das ist mein kleiner Junge«, erklärte Bessie sogleich.

»Dann bist du also verheiratet, Bessie?«

»Ja, schon seit fast fünf Jahren. Mit Robert Leaven, dem Kutscher; und außer Bobby hier habe ich noch ein kleines Mädchen, das ich Jane genannt habe.«

»Lebst du nicht mehr in Gateshead?«

»Ich wohne im Pförtnerhaus: der alte Pförtner ist weggegangen.«

»Und wie geht es allen? Du musst mir alles erzählen, Bessie. Aber jetzt setz dich erst einmal, und du, Bobby, kommst auf meinen Schoß, ja?« Doch Bobby zog es vor, zu seiner Mutter zu gehen.

»Sie sind nicht sehr groß geworden, Miss Jane, und auch nicht sehr kräftig«, fuhr Mrs. Leaven fort. »Man hat an dieser Schule wohl nicht besonders gut für Sie gesorgt. Miss Reed ist einen ganzen Kopf größer als Sie, und Miss Georgiana bestimmt doppelt so breit.«

»Georgiana ist sicher recht hübsch, nicht wahr, Bessie?«

»Ja, sehr hübsch sogar. Letzten Winter war sie mit ihrer Mama in London, und alle dort haben sie bewundert, und ein junger Lord hat sich in sie verliebt, aber seine Familie war gegen die Verbindung; und – was glauben Sie? – er und Miss Georgiana hatten vor durchzubrennen, aber ihr Plan wurde entdeckt und durchkreuzt. Miss Reed ist ihnen auf die Schliche gekommen; ich glaube, sie war einfach neidisch. Seitdem leben die beiden Schwestern wie Hund und Katze miteinander, sie streiten sich ständig.«

»Und was macht John Reed?«

»Ach, der benimmt sich gar nicht so, wie seine Mama es sich wünscht. Er ging aufs College und fiel durch – so sagt man doch? Dann wollten seine Onkel, dass er Jura studiert und Anwalt wird. Aber er ist ein so vergnügungssüchtiger, zügelloser junger Mann, dass aus ihm wohl nie etwas werden wird.«

»Wie sieht er denn aus?«

»Er ist sehr groß. Manche Leute finden, dass er gut aussieht, aber er hat so aufgeworfene Lippen.«

»Und Mrs. Reed?«

»Die gnäd’ge Frau sieht äußerlich recht kräftig und gesund aus, aber ich glaube, sie macht sich ziemlich viel Sorgen. Mr. Johns Lebenswandel gefällt ihr ganz und gar nicht – er gibt eine Menge Geld aus.«

»Hat sie dich hergeschickt, Bessie?«

»Nein, das kann man wirklich nicht sagen. Aber ich wollte Sie schon seit langem wieder einmal sehen, und als ich hörte, dass ein Brief von Ihnen gekommen sei und Sie von hier fortgehen würden, dachte ich, ich mach mich einfach auf den Weg und besuch Sie noch mal, bevor Sie ganz außer Reichweite sind.«

»Ich fürchte, du bist von mir enttäuscht, Bessie«, sagte ich lachend, denn ich hatte bemerkt, dass ihr Blick zwar Respekt ausdrückte, aber keineswegs Bewunderung erkennen ließ.

»Nein, Miss Jane, das eigentlich nicht. Sie sind sehr gebildet und anmutig und sehen wie eine Dame aus. Mehr hatte ich von Ihnen nie erwartet, Sie waren ja schon als Kind keine Schönheit.«

Ich lächelte über Bessies freimütige Antwort; ich wusste, dass sie recht hatte, und doch muss ich gestehen, dass mich ihre Worte nicht ganz unberührt ließen. Mit achtzehn möchten die meisten Mädchen gefallen, und die Gewissheit, dass ihr Äußeres die Erfüllung dieses Verlangens nicht gerade fördert, ist alles andere als befriedigend.

»Aber sicher sind Sie sehr klug«, fügte Bessie tröstend hinzu. »Was können Sie denn alles? Können Sie Klavier spielen?«

»Ein wenig.«

In dem Zimmer stand ein Klavier; Bessie ging hin, öffnete es und bat mich, ihr etwas vorzuspielen. Ich setzte mich an das Instrument und spielte ein, zwei Walzer. Sie war begeistert.

»Die beiden Fräulein Reed könnten es nicht so gut!«, erklärte sie triumphierend. »Ich habe immer gesagt, dass Sie sie eines Tages an Wissen und Fertigkeiten überflügeln würden. Können Sie auch zeichnen?«

»Das Bild dort über dem Kamin ist von mir.« Es war ein Landschaftsaquarell, das ich der Schulleiterin zum Dank für ihre zuvorkommende Vermittlung beim Komitee geschenkt hatte und das sie inzwischen hatte rahmen und verglasen lassen.

»Das ist aber wirklich schön, Miss Jane! Besser hätte es Miss Reeds Zeichenlehrer auch nicht gekonnt, von den beiden jungen Damen ganz zu schweigen, die so etwas nicht einmal annähernd zuwege brächten. Haben Sie denn auch Französisch gelernt?«

»Ja, Bessie, ich kann es lesen und sprechen.«

»Und können Sie Musselin und Kanevas besticken?«

»Ja.«

»Aus Ihnen ist eine richtige Dame geworden, Miss Jane! Ich habe es immer gewusst. Sie werden Ihren Weg machen, ob Ihre Verwandten sich nun um Sie kümmern oder nicht. Da war noch etwas, was ich Sie fragen wollte. Haben Sie jemals etwas von der Familie Ihres Vaters, den Eyres, gehört?«

»Nein, nie.«

»Nun, Sie wissen ja, dass die gnäd’ge Frau immer behauptet hat, sie seien arm und verachtenswert. Und vielleicht sind sie ja tatsächlich arm, aber ich glaube, sie sind ebenso vornehm wie die Reeds. Eines Tages nämlich, vor fast sieben Jahren, kam ein Mr. Eyre nach Gateshead und wollte Sie sprechen. Die gnäd’ge Frau sagte, Sie seien auf einer fünfzig Meilen entfernten Schule. Er schien sehr enttäuscht, denn er konnte nicht länger bleiben. Er befand sich kurz vor der Abreise in ein fremdes Land, sein Schiff verließ London am nächsten oder übernächsten Tag. Er machte einen recht vornehmen Eindruck, und ich glaube, er war der Bruder Ihres Vaters.«

»In welches fremde Land reiste er denn, Bessie?«

»Es war eine Insel, Tausende von Meilen entfernt, wo man Wein macht – der Butler hat es mir erzählt –«

»Vielleicht Madeira?«, fragte ich.

»Ja, das ist es – so hieß die Insel.«

»Er ging also wieder?«

»Ja; er blieb nur ein paar Minuten im Haus. Mrs. Reed behandelte ihn sehr von oben herab; später nannte sie ihn einen ›armseligen Krämer‹. Mein Robert meint, er sei Weinhändler.«

»Gut möglich«, erwiderte ich, »oder vielleicht auch ein Angestellter oder Vertreter eines Weinhändlers.«

Bessie und ich unterhielten uns noch eine Stunde über alte Zeiten, dann musste sie mich verlassen. Am nächsten Morgen sah ich sie noch einmal kurz in Lowton, als ich auf die Kutsche wartete. Schließlich trennten wir uns vor der Tür des Gasthauses »Zum Brocklehurster Wappen«, und jede ging ihrer Wege: Sie begab sich hinauf auf die Anhöhe bei Lowood, um die Kutsche zu erreichen, die sie nach Gateshead zurückbringen sollte, und ich bestieg den Wagen, der mich einem neuen Leben und neuen Pflichten in der mir völlig unbekannten Gegend von Millcote entgegentrug.

Jane Eyre. Eine Autobiografie

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