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Kapitel 9

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Doch auch die Entbehrungen oder vielmehr Härten des Lebens in Lowood verringerten sich. Der Frühling nahte, ja, eigentlich war er schon da: Die winterlichen Fröste hatten aufgehört, der Schnee war geschmolzen, der schneidende Wind linder geworden. Meine von der Januarkälte erbärmlich zugerichteten, geschundenen und bis zur Unbeweglichkeit geschwollenen Füße heilten in der milderen Aprilluft allmählich, die Schwellung ging zurück; Nächte und Morgenstunden ließen nicht mehr durch ihre kanadischen Temperaturen das Blut in unseren Adern gefrieren. Auch die Stunde, die wir zu Erholung und Spiel im Garten verbrachten, wurde nun erträglicher; an sonnigen Tagen war sie sogar ein Vergnügen und eine Wohltat, und das Grün, das allmählich die braunen Beete überzog, sah täglich frischer aus und legte den Gedanken nahe, die Hoffnung schritte des Nachts über sie hinweg und hinterlasse mit jedem Morgen leuchtendere Spuren. Blumen lugten unter den Blättern hervor: Schneeglöckchen, Krokusse, purpurrote Aurikeln und goldäugige Stiefmütterchen. An den (unterrichtsfreien) Donnerstagnachmittagen unternahmen wir nun Spaziergänge, auf denen wir noch lieblichere Blumen fanden, die unter den Hecken am Wegesrand erblühten.

Ich entdeckte auch, dass es außerhalb der hohen, mit eisernen Spitzen bewehrten Mauern unseres Gartens etwas Wunderschönes gab, etwas, das mir große Freude und einen Genuss bereitete, dem allein der Horizont Grenzen setzte, nämlich den Anblick einer von erhabenen Gipfeln gesäumten, weiten und schattigen Talmulde mit reicher Vegetation und einem klaren Bächlein voller dunkler Steine, dessen Ufer im Sonnenlicht funkelte. Wie anders hatte diese Landschaft ausgesehen, als sie unter einem eisengrauen Winterhimmel vor Kälte erstarrt und in Schnee gehüllt vor mir ausgebreitet gelegen hatte – als Nebelschwaden, eisig wie der Tod, vom Ostwind an diesen purpurnen Gipfeln entlanggetrieben wurden und schließlich auf die Wiesen und Auen niedersanken, bis sie sich mit dem gefrorenen Nebel des Bächleins vermischten! Das Bächlein selbst war damals ein reißender Sturzbach gewesen, der Baumstämme und Äste in Stücke riss, mit seinem Getöse die Luft erfüllte und oft durch heftige Regengüsse oder wirbelnden Schneeregen sogar noch stärker anschwoll. Und was den Wald an seinen Ufern anlangte, so hatte der nur aus Reihen von dünnen Gerippen bestanden.

Der April ging in den Mai über – es war ein herrlicher, heiterer Mai mit blauem Himmel, mildem Sonnenschein und lauen West- und Südwinden während des ganzen Monats. Die Natur entfaltete sich mit frischer Kraft. Lowood erstrahlte in neuem Glanz; überall grünte und blühte es; seine mächtigen Ulmen-, Eschen- und Eichenskelette erwachten erneut zu majestätischem Leben; Waldpflanzen sprossen verschwenderisch in den verborgensten Winkeln und Ecken; unzählige Moosarten bedeckten die Mulden, und die wilden Schlüsselblumen, die überall in Hülle und Fülle wuchsen, leuchteten wie eine eigenartige, vom Boden scheinende Sonne. Selbst an schattigen Stellen bemerkte ich ihren blassgoldenen Schimmer, der gleichsam wie verstreute Sonnenstrahlen die hübschesten Muster in das Halbdunkel zauberte. All das genoss ich nun oft und in vollen Zügen, frei, unbeaufsichtigt und fast allein. Für diese ungewohnte Freiheit, dieses ungewohnte Vergnügen gab es freilich einen Grund, auf den ich jetzt zu sprechen kommen muss.

Habe ich nicht eine liebliche Landschaft beschrieben, in der man sich gern häuslich niederlässt, inmitten von Hügeln und Wäldern, an den Ufern eines Baches? Nun ja, lieblich gewiss, ob aber auch gesund, das ist eine andere Frage.

Jenes waldige Tal, in dem Lowood lag, war nämlich eine Brutstätte für Nebel und damit auch für Seuchen, deren Keime in dem feuchten Klima einen günstigen Nährboden fanden und mit dem erwachenden Frühjahr an Gefährlichkeit zunahmen. Sie drangen in das Waisenhaus ein, verbreiteten in seinem überfüllten Klassenzimmer und Schlafsaal Typhus und verwandelten, noch ehe der Mai anbrach, die Schule in ein Krankenhaus.

Unzureichende Ernährung und verschleppte Erkältungen hatten die meisten Schülerinnen für eine Ansteckung anfällig gemacht: von den achtzig Mädchen lagen fünfundvierzig gleichzeitig krank zu Bett. Der Unterricht wurde abgebrochen, die Hausordnung gelockert. Den wenigen, die gesund geblieben waren, gewährte man nahezu unbeschränkte Freiheit, denn der Arzt bestand darauf, dass viel Bewegung an der frischen Luft unerlässlich sei, wenn man einer Erkrankung vorbeugen wollte, doch hätte ohnedies niemand Zeit und Muße gehabt, sie zu beaufsichtigen oder ihnen Vorschriften zu machen. Miss Temples gesamte Aufmerksamkeit wurde von den Kranken in Anspruch genommen; sie lebte im Krankenzimmer und verließ es nur, um sich einige Stunden Nachtruhe zu gönnen. Die Lehrerinnen waren voll und ganz mit Kofferpacken und anderen notwendigen Reisevorbereitungen für die Glücklichen unter den Mädchen beschäftigt, deren Freunde oder Verwandte in der Lage und willens waren, sie von diesem Seuchenherd zu entfernen. Viele hatten sich indes bereits angesteckt und kehrten nur nach Hause zurück, um dort zu sterben; andere starben in der Schule und wurden still und schnell begraben, denn die Natur dieser Krankheit ließ keinen Aufschub zu.

Während sich die Krankheit so in Lowood eingenistet hatte und der Tod ein häufiger Gast geworden war; während in seinen Mauern Kummer und Angst herrschten, die Zimmer und Korridore von Krankenhausgerüchen erfüllt waren und Arzneien und Räucherkerzen vergeblich gegen den Gifthauch des Todes ankämpften, schien draußen die Maisonne vom wolkenlosen Himmel auf die steilaufragenden Hügel und herrlichen Wälder. Auch der Garten hatte sich in ein leuchtendes Blumenmeer verwandelt: Die Stockmalven waren baumhoch emporgeschossen, die Lilien hatten sich geöffnet, Tulpen und Rosen standen in voller Blüte; die Einfassungen der kleinen Beete schmückten rosa Grasnelken und karmesinrote Tausendschönchen; die Weinrosen verbreiteten morgens wie abends ihren würzigen, apfelähnlichen Duft. Doch diese wohlriechende Pracht war für die meisten Bewohnerinnen Lowoods wertlos, außer wenn dann und wann einmal eine Handvoll Pflanzen und Blüten als Sargschmuck diente.

Ich und die anderen, die wir gesund geblieben waren, genossen indes die Schönheiten der Landschaft und der Jahreszeit in vollen Zügen: Von morgens bis abends konnten wir wie Zigeuner im Wald umherstreifen; wir taten, was wir wollten, gingen, wohin wir wollten. Wir lebten auch besser: Mr. Brocklehurst und seine Familie hüteten sich jetzt davor, auch nur in die Nähe von Lowood zu kommen. Niemand überprüfte mehr irgendwelche Haushaltsangelegenheiten; die mürrische Wirtschafterin war gegangen, die Angst vor Ansteckung hatte sie aus dem Haus getrieben, und ihre Nachfolgerin, bisher Vorsteherin der Armenapotheke von Lowton, war mit den Gepflogenheiten in ihrer neuen Wirkungsstätte nicht vertraut und teilte verhältnismäßig großzügige Portionen an uns aus. Zudem waren nun ja auch weniger hungrige Mäuler zu stopfen, denn die Kranken konnten nicht viel zu sich nehmen. Unsere Frühstücksschalen waren voller, und wenn sie, was häufig vorkam, keine Zeit hatte, ein ordentliches Mittagessen zu kochen, gab sie uns ein großes Stück kalter Pastete oder eine dicke Scheibe Brot mit Käse, die wir in den Wald mitnahmen und uns dort, wo es uns am besten gefiel, schmecken ließen.

Mein Lieblingsplatz war ein glatter, breiter Stein, der weiß und trocken genau in der Mitte des Baches herausragte und den man nur erreichen konnte, wenn man durchs Wasser watete – eine Heldentat, die ich barfuß vollbrachte. Der Stein war gerade breit genug, um mir und einem zweiten Mädchen bequem Platz zu bieten, das damals meine auserwählte Gefährtin war – eine gewisse Mary Ann Wilson, ein kluges, aufgewecktes Persönchen, in dessen Gesellschaft ich mich wohl fühlte, zum einen, weil sie geistreich und originell war, und zum anderen, weil sie eine Art hatte, die mich meine Schüchternheit vergessen ließ. Da sie einige Jahre älter war als ich, wusste sie mehr von der Welt und konnte mir viel berichten, was mich interessierte. Sie stillte meine Neugier, war meinen Fehlern gegenüber äußerst nachsichtig und gängelte oder zügelte mich nicht, ganz gleich, was ich auch sagte. Ihre Stärke lag im Erzählen, meine im Zergliedern und Deuten einer Sache; sie liebte es, zu belehren, ich stellte gern Fragen. So kamen wir glänzend miteinander aus, und unsere Gespräche bereiteten uns großes Vergnügen, auch wenn wir nicht unbedingt viel daraus lernten.

Und wo war Helen Burns währenddessen? Warum verbrachte ich diese süßen Tage der Freiheit nicht mit ihr? Hatte ich sie vergessen? Oder war ich so nichtswürdig und niederträchtig, dass ich der Gesellschaft ihres reinen Wesens überdrüssig geworden war? Ohne Frage war die von mir erwähnte Mary Ann Wilson meiner ersten Freundin unterlegen. Sie konnte zwar amüsante Geschichten erzählen und über jeden anzüglichen, prickelnden Klatsch plaudern, den ich gerade zur Sprache brachte, während Helen, wenn ich die Wahrheit über sie gesagt habe, denjenigen, denen es vergönnt war, mit ihr zu sprechen, einen Einblick in unendlich viel höhere Dinge zu vermitteln vermochte.

Das ist wahr, lieber Leser, und ich wusste und spürte dies sehr wohl. Und bin ich auch nur ein unvollkommenes Geschöpf mit vielen Fehlern und wenigen guten Eigenschaften, so wurde ich doch Helen Burns’ nie überdrüssig und hörte auch nie auf, eine so große, zärtliche Zuneigung und tiefe Achtung für sie zu empfinden, wie sie mein Herz bis dahin noch nie erfüllt hatten. Wie hätte es denn auch anders sein können, wo Helen mir doch jederzeit und in jeder Situation eine stille und aufrichtige Freundschaft entgegengebracht hatte, die weder jemals durch Launenhaftigkeit beeinträchtigt noch durch Streit getrübt wurde? Aber nun war Helen Burns krank. Schon vor mehreren Wochen war sie meinen Blicken entzogen worden. Man hatte sie in irgendeines der Zimmer im Obergeschoss gebracht, in welches, wusste ich nicht; ich erfuhr aber, dass sie sich nicht in dem Teil des Gebäudes befand, der als Hospital für die Fieberkranken diente, da sie nicht an Typhus, sondern an Schwindsucht litt; und in meiner Unwissenheit hielt ich Schwindsucht für etwas Harmloses, das mit der Zeit und guter Pflege bestimmt vorübergehen würde.

In diesem Glauben wurde ich noch durch die Tatsache bestärkt, dass sie ein-, zweimal an sehr warmen, sonnigen Nachmittagen herunterkam und von Miss Temple in den Garten geführt wurde; allerdings durfte ich auch bei diesen Gelegenheiten nicht zu ihr gehen und mit ihr sprechen. Ich konnte sie nur vom Fenster des Schulzimmers aus sehen, und auch dies nur recht undeutlich, denn sie saß in einiger Entfernung auf der Veranda und war ganz in Decken eingehüllt.

Eines Abends Anfang Juni war ich mit Mary Ann sehr lange draußen im Wald geblieben. Wir hatten uns wie gewöhnlich von den anderen getrennt und waren weit gewandert – so weit, dass wir uns schließlich verirrt hatten und in einer einsam gelegenen Hütte nach dem Weg fragen mussten. Dort lebten ein Mann und eine Frau, die eine Herde halbwilder, sich im Wald von Eicheln und Eckern ernährender Schweine hüteten. Als wir Lowood erreichten, war der Mond bereits aufgegangen. Vor dem Gartentor stand ein Pony, das, wie wir wussten, dem Arzt gehörte. Mary Ann meinte, es müsse wohl jemand sehr krank sein, wenn Mr. Bates zu so später Stunde noch gerufen werde. Sie ging ins Haus, während ich noch einige Minuten im Garten blieb, um in meinem Beet ein paar Wurzeln einzupflanzen, die ich im Wald ausgegraben hatte, denn ich fürchtete, sie könnten vertrocknen, wenn ich sie bis zum Morgen liegenließe. Danach zögerte ich noch immer hineinzugehen. Die Blumen dufteten so süß, als sich der Tau auf sie senkte. Es war ein herrlicher Abend, so mild und friedlich. Der noch glühendrote Himmel im Westen verhieß auch für den nächsten Tag wieder schönes Wetter, während im dunklen Osten majestätisch der Mond höher stieg. All dies nahm ich wahr und hatte meine kindliche Freude daran, als mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoss, der mir bis dahin noch nie in den Sinn gekommen war:

›Wie traurig, jetzt auf dem Krankenbett zu liegen und vielleicht sogar sterben zu müssen! Diese Welt ist schön – wie schrecklich wäre es, abberufen zu werden und wer weiß wohin gehen zu müssen!‹

Und zum ersten Mal bemühte mein Verstand sich ernstlich zu begreifen, was man ihm über Himmel und Hölle eingeflößt hatte. Und zum ersten Mal schreckte er verwirrt zurück; zum ersten Mal sah er sich von einem unermesslichen Abgrund umgeben, gleichgültig, ob er nach vorne, zur Seite oder zurück blickte. Ich fühlte, dass es nur einen einzigen festen Punkt gab – die Gegenwart; alles andere verschwamm zu formlosem Nebel, war haltlose Tiefe. Mich schauderte bei dem Gedanken, zu straucheln und mitten in dieses Chaos hinabzustürzen. Während ich noch über diese neue Vorstellung nachgrübelte, hörte ich, wie die Haustüre geöffnet wurde; Mr. Bates trat, von einer Krankenschwester begleitet, ins Freie. Sie wartete, bis er sein Pferd bestiegen hatte und davongeritten war, und wollte gerade die Tür wieder schließen. Rasch lief ich zu ihr hin.

»Wie geht es Helen Burns?«

»Sehr schlecht«, war die Antwort.

»War Mr. Bates ihretwegen hier?«

»Ja.«

»Und was sagt er?«

»Er sagt, sie wird nicht mehr lange hier sein.«

Wäre dieser Satz gestern in meiner Hörweite geäußert worden, so hätte ich damit nur verbunden, dass sie nach Hause, nach Northumberland, geschickt werden sollte. Ich wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass damit gemeint sein könnte, sie liege im Sterben. Jetzt aber wusste ich es sofort. Ich begriff nur zu gut, dass Helen Burns’ Tage auf dieser Welt gezählt waren und dass sie bald in das Reich der Geister eingehen würde, sofern es ein solches Reich wirklich gab. Im ersten Augenblick war ich vor Entsetzen wie gelähmt, dann ergriff mich tiefer Kummer, und schließlich empfand ich den brennenden Wunsch, das unbändige Verlangen, sie zu sehen. Ich fragte, in welchem Zimmer sie liege.

»Sie ist in Miss Temples Zimmer«, sagte die Krankenschwester.

»Darf ich zu ihr hinaufgehen und mit ihr sprechen?«

»O nein, Kind, das ist völlig ausgeschlossen! Und jetzt ist es Zeit, dass du hereinkommst. Der Tau fällt schon, und du holst dir nur auch noch das Fieber, wenn du noch länger draußen bleibst.«

Die Pflegerin schloss die Haustür; ich schlüpfte durch den Nebeneingang hinein, der ins Schulzimmer führte, und kam gerade noch rechtzeitig: es war neun Uhr, und Miss Miller forderte die Mädchen auf, zu Bett zu gehen.

Etwa zwei Stunden später, es mochte gegen elf Uhr sein – ich hatte nicht einschlafen können und aus der vollkommenen Stille im Schlafsaal geschlossen, dass alle meine Gefährtinnen in tiefem Schlaf lagen –, erhob ich mich leise, streifte mir mein Kleid über das Nachthemd, schlich mich ohne Schuhe aus dem Raum und machte mich auf die Suche nach Miss Temples Zimmer. Es lag am entgegengesetzten Ende des Hauses, doch ich kannte den Weg, und das Licht des Sommermondes, das vom wolkenlosen Himmel hier und da durch die Flurfenster fiel, half mir, es mühelos zu finden. Ein scharfer Geruch von Kampfer und heißem Essig schlug mir entgegen, als ich mich dem Saal mit den Fieberkranken näherte. Ich huschte schnell an seiner Tür vorbei, denn ich fürchtete, die Nachtschwester könnte mich hören. Ich hatte Angst davor, entdeckt und zurückgeschickt zu werden, denn ich musste Helen einfach sehen – ich musste sie umarmen, bevor sie starb, ich musste ihr einen letzten Kuss geben, ein letztes Wort mit ihr wechseln.

Nachdem ich die Treppe hinuntergeschlichen, im Untergeschoss einen Teil des Hauses durchquert und zwei Türen geräuschlos geöffnet und wieder geschlossen hatte, erreichte ich erneut eine Treppe; ich stieg sie hinauf und stand vor Miss Temples Zimmer. Durch das Schlüsselloch und einen Spalt unter der Tür drang Licht. Ringsum herrschte tiefste Stille. Als ich näher trat, sah ich, dass die Tür nur angelehnt war, wahrscheinlich um ein wenig frische Luft in das stickige Krankenzimmer einzulassen. Ich wollte die Ungewissheit nicht länger ertragen: Voller Ungeduld, Seele und Sinne qualvoll angespannt und schmerzerfüllt, stieß ich sie auf und blickte hinein. Meine Augen suchten Helen und fürchteten, den Tod anzutreffen.

Neben Miss Temples Bett und von dessen weißen Vorhängen halb verdeckt stand ein kleines Kinderbett. Unter der Decke konnte ich die Umrisse eines Körpers erkennen, das Gesicht war jedoch hinter den Vorhängen verborgen. Die Pflegerin, mit der ich im Garten gesprochen hatte, saß in einem Lehnstuhl und schlief. Auf dem Tisch flackerte matt eine ungeputzte Kerze. Miss Temple war nicht zu sehen; später erfuhr ich, dass man sie zu einem Mädchen, das im Fieber phantasierte, in den Krankensaal gerufen hatte. Ich betrat das Zimmer und blieb an dem Kinderbett stehen. Meine Hand berührte den Vorhang, doch dann hielt ich es für besser, etwas zu sagen, ehe ich ihn zurückzog. Noch immer schauderte ich bei dem schrecklichen Gedanken, einen Leichnam zu sehen.

»Helen«, flüsterte ich kaum hörbar. »Bist du wach?«

Sie bewegte sich und schlug den Vorhang zurück, und nun konnte ich auch ihr blasses, eingefallenes, aber völlig gefasstes Gesicht sehen. Sie hatte sich so wenig verändert, dass meine Befürchtungen sogleich zerstreut wurden.

»Bist du es, Jane?«, fragte sie mit der ihr eigenen sanften Stimme.

›Ach‹, dachte ich, ›sie wird nicht sterben; sie irren sich; wenn sie wirklich im Sterben läge, könnte sie doch nicht so ruhig sprechen und aussehen.‹

Ich setzte mich auf ihr Bettchen und gab ihr einen Kuss. Ihre Stirn war kalt, auch ihre Wangen waren kalt und zudem abgemagert, ihre Hände und Handgelenke ebenfalls, aber sie lächelte wie früher.

»Warum bist du hergekommen, Jane? Es ist schon nach elf; vor ein paar Minuten erst habe ich die Uhr schlagen hören.«

»Ich wollte dich sehen, Helen. Ich habe gehört, du seiest sehr krank, und ich konnte nicht einschlafen, ohne vorher mit dir gesprochen zu haben.«

»Dann bist du also gekommen, um Abschied zu nehmen, und dies wohl gerade zur rechten Zeit.«

»Gehst du denn fort, Helen? Gehst du nach Hause?«

»Ja, in mein letztes Zuhause – meine ewige Heimat.«

»Nein, nein, Helen!« Bedrückt hielt ich inne. Während ich versuchte, meine Tränen zurückzudrängen, wurde Helen von einem Hustenanfall geschüttelt, der jedoch die Pflegerin nicht weckte. Als er vorüber war, lag sie ein paar Minuten erschöpft da, dann flüsterte sie:

»Du bist ja barfuß, Jane; leg dich zu mir und deck dich mit meiner Decke zu.«

Ich gehorchte; sie legte den Arm um mich, und ich schmiegte mich ganz eng an sie. Nach einer langen Pause fuhr sie, noch immer flüsternd, fort:

»Ich bin sehr glücklich, Jane, und wenn du erfährst, dass ich tot bin, darfst du nicht traurig sein: es gibt keinen Grund, traurig zu sein. Wir alle müssen einmal sterben, und die Krankheit, die mich dahinrafft, ist nicht schmerzhaft. Sie schreitet sacht und allmählich voran. Ich bin ganz ruhig. Ich lasse niemanden zurück, der große Trauer um mich empfinden wird. Ich habe ja nur meinen Vater, und er hat vor kurzem erst wieder geheiratet und wird mich nicht sonderlich vermissen. Durch meinen frühen Tod wird mir viel Leid erspart bleiben. Ich hatte keine Eigenschaften oder Begabungen, die mir geholfen hätten, in der Welt zurecht- und vorwärtszukommen. Wahrscheinlich hätte ich stets das Falsche getan.«

»Aber wohin gehst du, Helen? Kannst du es sehen? Weißt du es?«

»Ich bin voller Zuversicht, ja ich glaube fest daran, dass ich heimgehe zu Gott.«

»Wo ist Gott? Was ist Gott?«

»Mein Schöpfer und der deine, der niemals zerstören wird, was Er geschaffen hat. Blind baue ich auf Seine Macht, vorbehaltlos vertraue ich mich Seiner Güte an; ich zähle die Stunden, bis jener entscheidende Augenblick naht, der mich zu Ihm zurückführt – in dem Er sich mir offenbart.«

»Du bist also überzeugt, Helen, dass es so etwas wie einen Himmel gibt und unsere Seelen dorthin kommen können, wenn wir sterben?«

»Ich bin sicher, dass es ein Leben nach dem Tod gibt; ich glaube an die Güte Gottes; in Seine Hand kann ich meine unsterbliche Seele bedenkenlos legen. Gott ist mein Vater, Gott ist mein Freund; ich liebe Ihn, und ich glaube, dass auch Er mich liebt.«

»Und werde ich dich wiedersehen, wenn ich sterbe, Helen?«

»Du wirst ganz gewiss in dasselbe Reich der Glückseligkeit eingehen und vom selben allmächtigen Vater aller Menschen aufgenommen werden, liebe Jane.«

Wieder drängten sich mir Fragen auf, aber diesmal stellte ich sie nur in Gedanken: ›Wo ist dieses Reich? Existiert es wirklich?‹ Ich schlang meine Arme fester um Helen; mir war, als sei sie mir noch nie so lieb und teuer gewesen wie in jenem Augenblick. Ich hatte das Gefühl, sie festhalten zu müssen. Mein Gesicht an ihrem Hals verborgen, lag ich neben ihr. Dann sprach sie erneut, und ihre Stimme klang ganz sanft:

»Wie wohl ich mich fühle! Der letzte Hustenanfall hat mich etwas ermüdet; ich glaube, ich könnte jetzt schlafen. Aber geh nicht weg, Jane – ich habe dich so gern bei mir.«

»Ich werde bei dir bleiben, meine liebe, liebe Helen. Niemand soll mich von dir trennen.«

»Ist dir auch warm genug, Liebes?«

»Ja.«

»Gute Nacht, Jane.«

»Gute Nacht, Helen.«

Wir küssten einander, und bald waren wir beide eingeschlafen.

Als ich erwachte, war es Tag. Eine ungewohnte Bewegung hatte mich geweckt. Ich schlug die Augen auf, jemand hielt mich in den Armen: es war die Pflegerin, die mich durch den Flur in den Schlafsaal zurücktrug. Niemand schimpfte mit mir, weil ich mein Bett verlassen hatte – andere Dinge bewegten die Gemüter. Auch erhielt ich an jenem Morgen keine Antwort auf meine vielen Fragen; doch ein, zwei Tage später erfuhr ich, dass Miss Temple, als sie bei Tagesanbruch in ihr Zimmer zurückkehrte, mich in dem Kinderbettchen fand, mein Gesicht an Helen Burns’ Schulter geschmiegt, meine Arme um ihren Nacken. Ich schlief, und Helen war – tot.

Ihr Grab befindet sich auf dem Friedhof von Brocklebridge. Fünfzehn Jahre lang erhob sich darüber nur ein grasbewachsener Hügel, aber heute bezeichnet eine mit ihrem Namen und der Inschrift »Resurgam« versehene graue Marmortafel die Stelle.

Jane Eyre. Eine Autobiografie

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