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Kapitel 11

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Ein neues Kapitel in einem Roman ist wie eine neue Szene in einem Theaterstück, und wenn ich nun den Vorhang hochziehe, lieber Leser, musst du dir einen Raum im Gasthaus »Zum König Georg« in Millcote vorstellen, mit so großgemusterten Tapeten an der Wand, wie sie für Gasthauszimmer typisch sind, einem ebenso typischen Teppich, den entsprechenden Möbeln, dem üblichen Zierrat auf dem Kaminsims und den üblichen Bildern – darunter ein Porträt Georgs III., ein weiteres des Prinzen von Wales sowie eine Darstellung von Wolfes Tod. All dies siehst du im Schein einer von der Decke hängenden Öllampe und eines helllodernden Kaminfeuers, in dessen Nähe ich in Hut und Mantel sitze; mein Muff und mein Regenschirm liegen auf dem Tisch, und ich versuche, die Kälte und Erstarrung zu vertreiben, die sich während der sechzehnstündigen Reise an einem unwirtlichen Oktobertag meiner Gliedmaßen bemächtigt hatten. Um vier Uhr morgens war ich in Lowton abgefahren, und eben schlägt die Rathausuhr von Millcote acht.

Und wenn ich hier auch behaglich untergebracht scheine, lieber Leser, so bin ich innerlich doch recht unruhig. Ich hatte angenommen, dass mich bei Ankunft der Postkutsche jemand in Empfang nehmen würde, und während ich den hölzernen Tritt hinunterstieg, den der Hausknecht zu meiner Bequemlichkeit an den Wagen gestellt hatte, blickte ich mich gespannt um in der Erwartung, meinen Namen zu hören und irgendein Gefährt zu sehen, das bereitstand, um mich nach Thornfield zu bringen. Doch nichts Derartiges war zu entdecken, und als ich mich bei einem Kellner erkundigte, ob jemand nach einer Miss Eyre gefragt hatte, erhielt ich eine abschlägige Antwort. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich in ein Nebenzimmer führen zu lassen, und hier warte ich nun, während alle möglichen Zweifel und Befürchtungen auf mich einstürmen.

Es ist ein sehr seltsames Gefühl für einen unerfahrenen jungen Menschen, zum ersten Mal mutterseelenallein auf der Welt zu stehen, abgeschnitten von allen bisherigen Bindungen und voller Ungewissheit, ob er den Hafen, dem er zusteuert, auch wirklich erreichen kann, während er sich gleichzeitig durch zahlreiche Schwierigkeiten an einer Rückkehr in den Hafen, den er verlassen hat, gehindert sieht. Der Reiz des Abenteuers versüßt dieses Gefühl, die Glut des Stolzes erwärmt es, doch auch Angst und Beklemmung stellen sich ein, und sie gewannen in mir die Oberhand, als ich eine halbe Stunde später noch immer allein war. Ich entschloss mich zu läuten.

»Gibt es hier in der Gegend einen Ort, der Thornfield heißt?«, fragte ich den Kellner, der auf mein Klingeln hin eintrat.

»Thornfield? Ich weiß nicht, Miss; ich werd an der Theke fragen.« Er verschwand, kam aber gleich darauf zurück.

»Heißen Sie Eyre, Miss?«

»Ja.«

»Da wartet jemand auf Sie.«

Ich sprang auf, nahm Muff und Schirm und eilte hinaus auf den Flur: Ein Mann stand in der offenen Tür, und draußen auf der von Laternen beleuchteten Straße erkannte ich die Umrisse eines Einspänners.

»Das ist dann wohl Ihr Gepäck?«, sagte er recht schroff, als er mich sah, und zeigte auf meinen Koffer, der im Gang stand.

»Ja.« Er lud ihn auf das Gefährt – einen zweirädrigen Wagen –, dann stieg ich ein. Bevor er den Schlag hinter mir zumachte, fragte ich ihn, wie weit es nach Thornfield sei.

»So an die sechs Meilen.«

»Wie lange wird es dauern, bis wir dort sind?«

»Anderthalb Stunden vielleicht.«

Er schloss die Wagentür, kletterte auf den Bock, und wir fuhren los. Wir kamen nur langsam voran, so dass ich reichlich Zeit zum Nachdenken hatte. Ich war froh, dem Ziel meiner Reise endlich so nahe zu sein, und während ich mich in dem zwar nicht gerade eleganten, aber doch bequemen Gefährt zurücklehnte, stellte ich in aller Ruhe meine Überlegungen an.

›Nach der schlichten Aufmachung des Dieners und der Einfachheit des Wagens zu schließen, ist Mrs. Fairfax wohl kaum eine auf Äußerlichkeiten bedachte Frau‹, ging es mir durch den Kopf. ›Umso besser. Bisher habe ich nur einmal unter vornehmen Leuten gelebt, und dort war ich sehr unglücklich. Ob sie allein mit diesem kleinen Mädchen lebt? Wenn das der Fall sein sollte und wenn sie nur ein wenig liebenswürdig ist, werde ich gewiss gut mit ihr auskommen. Ich jedenfalls will mein Bestes tun – nur schade, dass es nicht immer genügt, sein Bestes zu tun. In Lowood freilich, wo ich mir dies ja auch fest vorgenommen hatte und meinem Vorsatz treu geblieben bin, ist es mir schließlich gelungen, Anerkennung und Zuneigung zu gewinnen. Aber ich erinnere mich noch gut daran, dass ich bei Mrs. Reed mit meinem Streben stets nur auf Ablehnung und Verachtung stieß. Gott gebe, dass sich Mrs. Fairfax nicht als eine zweite Mrs. Reed entpuppt; sollte dies aber doch der Fall sein, bin ich ja nicht gezwungen, bei ihr zu bleiben. Wenn es ganz schlimm kommt, kann ich schließlich wieder eine Anzeige aufgeben. Wie weit mag es wohl noch sein?‹

Ich ließ das Fenster herunter und schaute hinaus: Millcote lag hinter uns; nach den vielen Lichtern zu urteilen, musste es ein Ort von beträchtlicher Größe sein, viel größer als Lowton. Soweit ich erkennen konnte, fuhren wir durch eine Art offenes Weideland, auf dem allerdings überall verstreut einzelne Häuser standen. Der Unterschied zu Lowood und seiner Umgebung war unübersehbar: Die Gegend hier war dichter besiedelt, nicht so malerisch; betriebsamer, aber weniger romantisch.

Die Wege waren aufgeweicht, die Nacht war nebelig. Der Kutscher ließ das Pferd den ganzen Weg im Schritt gehen, und aus den eineinhalb Stunden waren bestimmt schon zwei geworden, als er sich endlich zu mir umdrehte und verkündete:

»Jetzt haben Sie’s nicht mehr weit bis nach Thornfield.«

Wieder schaute ich hinaus; wir fuhren gerade an einer Kirche vorbei. Ihr niedriger, viereckiger Turm hob sich gegen den Himmel ab, und die Glocke schlug eben die Viertelstunde. Auf einer Anhöhe entdeckte ich ein paar Lichter, die wohl zu einem Dorf oder Weiler gehörten. Etwa zehn Minuten später sprang der Kutscher vom Bock und öffnete ein Tor; wir rollten hindurch, dann fiel es hinter uns wieder zu. Nun näherten wir uns auf einer Auffahrt langsam der langen Stirnseite eines Hauses; durch die Vorhänge eines Erkerfensters schimmerte schwacher Kerzenschein, sonst war alles dunkel. Der Wagen hielt vor dem Haupteingang; ein Dienstmädchen öffnete. Ich stieg aus und betrat das Haus.

»Hier entlang, bitte«, sagte das Mädchen, und ich folgte ihr durch eine große viereckige Eingangshalle mit hohen Türen ringsum. Sie führte mich in ein Zimmer, dessen doppelte Beleuchtung durch Kaminfeuer und Kerzenlicht mich im ersten Augenblick blendete, da sie einen scharfen Kontrast zu der Dunkelheit bildete, an die sich meine Augen während der vergangenen zwei Stunden gewöhnt hatten. Als ich jedoch wieder richtig sehen konnte, bot sich mir ein erfreulicher und wohltuender Anblick.

Ein gemütliches kleines Zimmer mit einem runden Tisch vor einem fröhlich knisternden Kaminfeuer und einem hohen, altmodischen Lehnstuhl, in dem die adretteste kleine ältere Dame saß, die man sich nur denken kann. Sie trug eine Witwenhaube, ein schwarzes Seidenkleid und eine schneeweiße Musselinschürze. Genauso hatte ich mir Mrs. Fairfax vorgestellt, nur sah sie gütiger und weniger elegant aus, als sie es in meiner Phantasie getan hatte. Sie strickte; zu ihren Füßen ruhte friedlich eine große Katze – kurz, nichts fehlte an diesem vollendeten Bild häuslicher Behaglichkeit. Eine ermutigendere Einführung als neue Gouvernante konnte man sich gar nicht wünschen: Es herrschte keine überwältigende Pracht, keine einschüchternde Vornehmheit, und als ich eintrat, erhob sich die alte Dame sogar und kam mir freundlich entgegen.

»Wie geht es Ihnen, meine Liebe? Ich fürchte, Sie hatten eine lange und beschwerliche Reise. John fährt so langsam. Sicher ist Ihnen kalt; kommen Sie doch ans Feuer.«

»Mrs. Fairfax, nehme ich an?«, sagte ich.

»Ja, ganz recht. Aber bitte setzen Sie sich doch.«

Sie führte mich zu ihrem eigenen Sessel, nahm mir das Umschlagtuch ab und begann, meine Hutbänder zu lösen. Ich bat sie, sie solle sich nicht so viel Mühe machen.

»Aber das ist doch keine Mühe, und Ihre Hände sind gewiss vor Kälte ganz starr. Leah, bereiten Sie uns ein wenig Glühwein und ein paar belegte Brote zu. Hier sind die Schlüssel zur Speisekammer.«

Mit diesen Worten zog sie den eindrucksvollen Schlüsselbund einer Hausfrau aus der Tasche und übergab ihn dem Dienstmädchen.

»Rücken Sie doch näher ans Feuer«, wandte sie sich erneut an mich. »Sie haben Ihr Gepäck gleich mitgebracht, nicht wahr, meine Liebe?«

»Ja, gnädige Frau.«

»Ich werde dafür sorgen, dass es auf Ihr Zimmer gebracht wird«, sagte sie und eilte hinaus.

›Sie behandelt mich wie einen Gast‹, dachte ich. ›Einen solchen Empfang habe ich wirklich nicht erwartet; ich hatte nur mit Kälte und Förmlichkeit gerechnet. Was ich bisher über die Behandlung von Gouvernanten erfahren habe, hörte sich ganz anders an; aber ich darf nicht zu früh frohlocken.‹

Sie kam zurück. Eigenhändig räumte sie ihr Strickzeug und einige Bücher beiseite, um Platz für das Tablett zu machen, das Leah nun hereinbrachte, und reichte mir dann selbst die Erfrischungen. Noch nie war mir so viel Aufmerksamkeit zuteilgeworden, und ich war darüber ganz verwirrt, zumal sie mir nun von meiner Arbeitgeberin und Vorgesetzten entgegengebracht wurde. Da sie indes nichts Ungewöhnliches an ihrem Verhalten zu finden schien, hielt ich es für besser, ihr Zuvorkommen widerspruchslos anzunehmen.

»Werde ich das Vergnügen haben, Miss Fairfax heute Abend noch zu sehen?«, fragte ich, nachdem ich etwas von dem angebotenen Imbiss zu mir genommen hatte.

»Was haben Sie gesagt, meine Liebe? Ich bin etwas schwerhörig«, erwiderte die gute Dame und hielt ihr Ohr näher an meinen Mund.

Ich wiederholte meine Frage deutlicher.

»Miss Fairfax? Oh, Sie meinen Miss Varens! Varens ist der Name Ihrer zukünftigen Schülerin.«

»Ach! Dann ist sie nicht Ihre Tochter?«

»Nein – ich habe keine Familie.«

Ich hätte gern noch mehr gewusst und sie gefragt, in welcher Beziehung Miss Varens zu ihr stand; aber dann besann ich mich darauf, dass es nicht höflich war, zu viele Fragen zu stellen, und außerdem würde ich es mit der Zeit ohnehin erfahren.

»Ich bin ja so froh«, fuhr sie fort, während sie sich mir gegenüber setzte und die Katze auf ihren Schoß nahm, »ich bin ja so froh, dass Sie gekommen sind. Mit einer Gefährtin wird das Leben hier jetzt sehr angenehm sein. Eigentlich lässt es sich hier immer angenehm leben, denn Thornfield ist ein schöner alter Herrensitz – etwas vernachlässigt vielleicht in den letzten Jahren, doch noch immer recht ansehnlich. Aber, wissen Sie, im Winter fühlt man sich so ganz allein doch etwas einsam und verlassen, selbst in der schönsten Umgebung. Ich sage allein, denn Leah ist zwar ein nettes Mädchen, und John und seine Frau sind sehr anständige Leute, aber sie sind halt nur Dienstboten, und man kann sich mit ihnen nun einmal nicht wie mit seinesgleichen unterhalten. Man muss die nötige Distanz wahren, sonst läuft man Gefahr, seine Autorität zu verlieren. Stellen Sie sich vor, letzten Winter (es war ein sehr strenger Winter, wie Sie sich gewiss erinnern werden, und wenn es nicht schneite, regnete und stürmte es) kam von November bis Februar außer dem Fleischer und dem Postboten keine Menschenseele zu uns heraus, und es machte mich schon ganz schwermütig, Abend für Abend so allein dazusitzen. Manchmal habe ich Leah kommen und mir von ihr etwas vorlesen lassen, aber ich fürchte, das arme Ding fand nicht viel Gefallen an dieser Aufgabe; sie empfand es wohl eher als einengende Pflicht. Im Frühjahr und Sommer war es besser; Sonnenschein und lange Tage machen ja so viel aus. Und dann kam zu Beginn dieses Herbstes die kleine Adela Varens mit ihrem Kindermädchen – ein Kind bringt mit einem Schlag Leben ins Haus. Und nun, da auch Sie hier sind, werde ich richtig frohgemut und heiter sein.«

Ich schloss die treffliche alte Dame gleich ins Herz, als ich sie so reden hörte, rückte mit meinem Stuhl etwas näher an sie heran und gab meinem aufrichtigen Wunsch Ausdruck, sie möge meine Gesellschaft wirklich so angenehm finden, wie sie es sich erhoffte.

»Heute Abend will ich Sie aber nicht zu lange vom Schlafengehen abhalten«, sagte sie. »Es schlägt schon gleich zwölf, und Sie waren den ganzen Tag unterwegs: Sie sind gewiss müde. Wenn Sie Ihre Füße genügend aufgewärmt haben, werde ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Ich habe das Zimmer neben dem meinen für Sie herrichten lassen. Es ist zwar nur ein kleiner Raum, aber ich dachte, Sie würden ihn den großen Zimmern, die nach vorne hinaus liegen, vorziehen. Die sind zwar schöner eingerichtet, aber sie sind so düster und einsam. Ich selbst schlafe dort nie.«

Ich dankte ihr für ihre umsichtige Wahl, und da ich von meiner langen Reise wirklich erschöpft war, erklärte ich, dass ich mich tatsächlich gern zurückziehen wollte. Sie nahm die Kerze, und ich folgte ihr nach draußen. Zuerst sah sie nach, ob die Haustür verschlossen war, und nachdem sie den Schlüssel abgezogen hatte, ging sie mir die Treppe voraus nach oben. Stufen und Geländer waren aus Eichenholz; das Treppenfenster war hoch und vergittert und schien ebenso wie die lange Galerie, von der die Türen zu den Schlafzimmern abgingen, eher zu einer Kirche als zu einem Wohnhaus zu gehören. Die eisige Luft, die Treppe und Galerie erfüllte, erinnerte an Grabeskälte und weckte bedrückende Gedanken an Leere und Einsamkeit. Ich war deshalb froh, als ich schließlich beim Betreten meines Zimmers feststellte, dass es klein, einfach und modern eingerichtet war.

Als Mrs. Fairfax mir freundlich eine gute Nacht gewünscht und ich meine Tür verschlossen hatte, sah ich mich in aller Ruhe um. Der behagliche Anblick, den meine kleine Kammer bot, vertrieb den gespenstischen Eindruck einigermaßen, den die große Eingangshalle, die breite, dunkle Treppe und die lange, kalte Galerie in mir hinterlassen hatten, und mir wurde bewusst, dass ich nach einem Tag körperlicher Strapazen und innerer Unruhe endlich im sicheren Hafen angelangt war. Ein Gefühl der Dankbarkeit erfüllte mein Herz; ich kniete vor meinem Bett nieder und sagte Dank, wo Dank gebührte, und ich vergaß auch nicht, bevor ich mich wieder erhob, um Hilfe auf meinem weiteren Weg und um die Kraft zu bitten, mich der Güte und Freundlichkeit würdig zu erweisen, die mir so freigebig zuteilwurden, noch ehe ich sie verdient hatte. In jener Nacht hatte mein Lager keine Dornen, meine einsame Kammer keine Schrecken. Ich war müde und zufrieden und schlief bald tief und fest. Als ich erwachte, war es bereits heller Tag.

Im Sonnenlicht, das durch die fröhlichen blauen Chintzvorhänge vor dem Fenster drang und auf tapezierte Wände und den teppichbelegten Fußboden fiel, sah mein Zimmer so freundlich und anheimelnd aus, so ganz anders als der Schlafsaal in Lowood mit seinen nackten Fußbodendielen und dem fleckigen Putz, dass mich der Anblick sofort froh und heiter stimmte. Äußerlichkeiten haben eine starke Wirkung auf junge Leute. Ich war überzeugt, am Beginn eines schöneren Lebensabschnitts zu stehen, der zwar auch Dornen und Mühen, aber ebenso Blumen und Freuden für mich bereithielt. Die veränderte Umgebung, die an meine neue Tätigkeit geknüpften Hoffnungen schienen all meine Fähigkeiten geweckt und belebt zu haben. Ich kann nicht genau sagen, was ich eigentlich erwartete, aber jedenfalls etwas Erfreuliches – vielleicht nicht schon für jenen Tag oder den folgenden Monat, aber für einen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft.

Ich stand auf und zog mich sorgfältig an, denn wenn ich auch gezwungen war, mich einfach zu kleiden – ich besaß kein einziges Kleidungsstück, das nicht von äußerster Schlichtheit gewesen wäre –, so war ich doch von Natur aus bestrebt, adrett und ordentlich auszusehen. Ich vernachlässigte mein Äußeres keineswegs, und es war mir auch nicht gleichgültig, welchen Eindruck ich machte – ganz im Gegenteil, ich wollte immer so gut wie möglich aussehen und so gut gefallen, wie es meine mangelnde Schönheit eben zuließ. Manchmal bedauerte ich, dass ich nicht hübscher war; dann wünschte ich mir rosige Wangen, eine gerade Nase und einen kleinen Kirschmund; ich hätte gern eine gut entwickelte Figur gehabt, wäre lieber größer und stattlicher gewesen. Ich empfand es als Missgeschick, dass ich so klein und blass war und so unregelmäßige und scharf geschnittene Gesichtszüge hatte. Und warum hegte ich solche Wünsche? Warum bereitete mir mein Aussehen solchen Kummer? Das wäre schwer zu sagen gewesen; ich konnte es mir damals selbst nicht erklären; und doch gab es einen Grund, einen sehr natürlichen und verständlichen sogar. Als ich jedoch jetzt mein Haar glatt zurückgebürstet hatte, in mein schwarzes Kleid geschlüpft war – ein schmuckloses, schlichtes Kleid, das aber wenigstens wie angegossen passte – und schließlich noch einen sauberen weißen Kragen umgelegt hatte, fand ich, dass ich so ruhig vor Mrs. Fairfax erscheinen konnte und keine Angst davor zu haben brauchte, meine neue Schülerin könnte sich voller Abneigung von mir abwenden. Nachdem ich das Fenster meiner Kammer geöffnet und mich noch einmal vergewissert hatte, dass meine Sachen ordentlich in Reih und Glied auf dem Frisiertisch lagen, wagte ich mich hinaus.

Ich ging die lange, mit Teppichen ausgelegte Galerie entlang und die glatten Eichenstufen hinunter; dann stand ich in der Eingangshalle. Dort verharrte ich einen Augenblick, betrachtete ein paar Bilder an den Wänden (eines, so erinnere ich mich, stellte einen grimmig blickenden Mann in einem Brustharnisch dar, ein anderes eine Dame mit gepudertem Haar und einem Perlenhalsband), den von der Decke herabhängenden Bronzeleuchter und die große Uhr, deren Gehäuse aus Eichenholz mit eigenartigen Schnitzereien verziert und im Laufe der Zeit und durch jahrelanges Polieren schwarz wie Ebenholz geworden war. Alles machte einen sehr vornehmen und ehrfurchtgebietenden Eindruck auf mich, aber schließlich war ich ja nicht gerade an Pracht und Luxus gewöhnt. Die Haustür, die zur Hälfte aus Glas war, stand offen; ich trat ins Freie. Es war ein herrlicher Herbstmorgen; die ersten Sonnenstrahlen tauchten die schon bunt gefärbten Haine und noch grünen Felder in klares Licht. Ich ging ein paar Schritte über den Rasen, dann wandte ich mich um und betrachtete die Vorderseite des Hauses. Es hatte drei Stockwerke und war nicht übermäßig groß, aber doch recht ansehnlich. Es war ein Herrensitz, kein Schloss. Die Zinnen auf dem Dach verliehen ihm ein malerisches Aussehen. Seine graue Fassade hob sich deutlich gegen einen Krähenhorst im Hintergrund ab, dessen krächzende Bewohner gerade ausgeflogen waren. Sie zogen ihre Kreise über dem Rasen und dem Park und ließen sich dann auf einer großen Wiese nieder, die von diesen durch einen Hegegraben getrennt war. Dort stand auch eine ganze Reihe baumhoher, mächtiger alter Dornsträucher, stark, knorrig und breit wie Eichen, die sogleich die Herkunft des Namens Thornfield erklärten. In der Ferne erhoben sich Hügel, die zwar nicht so hoch waren wie die um Lowood und auch nicht in gleichem Maße wie eine Trennmauer gegen die Außenwelt wirkten, aber doch ruhig und einsam genug schienen, um Thornfield eine Abgeschiedenheit zu verleihen, wie ich sie so nahe der geschäftigen Stadt Millcote nicht vermutet hätte. An einem der Hänge lagen verstreut die Häuser eines kleinen Weilers, deren Dächer zwischen den Bäumen hervorlugten. Die Kirche dieser Gemeinde lag näher bei Thornfield; ihre alte Turmspitze ragte über einer Anhöhe zwischen Haus und Parktor empor.

Ich stand da, genoss den friedvollen Anblick und die wohltuende frische Luft, lauschte vergnügt dem Krächzen der Krähen, betrachtete immer wieder die ausladende graue Fassade des Hauses und dachte gerade, wie groß es doch für eine alleinstehende, zierliche Frau wie Mrs. Fairfax war, als diese an der Tür erschien.

»Was? Schon auf?«, sagte sie. »Ich sehe, Sie sind Frühaufsteherin.« Ich ging zu ihr und wurde mit einem Kuss und einem Händedruck freundlich begrüßt.

»Wie gefällt Ihnen Thornfield?«, fragte sie.

Ich antwortete, dass ich es sehr schön fände.

»Ja, es ist ein hübscher Ort«, fuhr sie fort, »aber ich fürchte, es wird allmählich verwahrlosen, wenn Mr. Rochester sich nicht endlich entschließt, auf Dauer hier zu wohnen – oder wenigstens öfters herzukommen. Große Häuser und schöne Besitzungen erfordern nun einmal die Anwesenheit des Eigentümers.«

»Mr. Rochester!«, rief ich. »Wer ist das?«

»Der Besitzer von Thornfield«, erwiderte sie ruhig. »Wussten Sie denn nicht, dass er Rochester heißt?«

Natürlich hatte ich es nicht gewusst: Ich hatte noch nie etwas von ihm gehört, doch die alte Dame schien seine Existenz für eine allgemein bekannte Tatsache zu halten, mit der jedermann unwillkürlich vertraut sein musste.

»Ich dachte, Thornfield gehöre Ihnen«, fuhr ich fort.

»Mir? Gott segne Sie, Kind, wie kommen Sie denn darauf? Mir? Ich bin nur die Wirtschafterin – die Verwalterin. Allerdings bin ich mütterlicherseits entfernt mit den Rochesters verwandt – oder vielmehr, mein Mann war es. Er war Geistlicher, Pfarrer von Hay – dem kleinen Dorf dort drüben auf dem Hügel –, und die Kirche da unten beim Tor, das war seine Kirche. Die Mutter des jetzigen Mr. Rochester war eine Fairfax und eine Kusine zweiten Grades meines Mannes. Aber ich bilde mir auf diese Verwandtschaft nichts ein – sie bedeutet mir eigentlich gar nichts. Ich betrachte mich als ganz gewöhnliche Wirtschafterin. Mein Arbeitgeber ist immer höflich zu mir, und mehr verlange ich nicht.«

»Und das kleine Mädchen – meine Schülerin?«

»Sie ist Mr. Rochesters Mündel. Er hat mich beauftragt, eine Hauslehrerin für sie zu suchen. Offenbar will er, dass sie hier aufwächst. Hier kommt sie, mit ihrer bonne, wie sie ihr Kindermädchen nennt.« Das Rätsel war also gelöst: diese freundliche, liebenswürdige kleine Witwe war keine vornehme Dame, sondern selbst eine Angestellte wie ich. Ich mochte sie deshalb nicht weniger, im Gegenteil, es war mir sogar lieber so. Zwischen ihr und mir bestand wirkliche Gleichheit, die nicht nur auf Herablassung ihrerseits beruhte. Umso besser, denn dadurch wurde ich in meiner Selbständigkeit gestärkt.

Während ich noch über diese Entdeckung nachdachte, kam ein kleines Mädchen, gefolgt von einer Begleiterin, über den Rasen auf uns zu gelaufen. Ich betrachtete meine neue Schülerin, die mich zunächst gar nicht zu bemerken schien. Sie war noch ein richtiges Kind – sieben oder acht Jahre alt vielleicht –, von zartem Körperbau, mit einem blassen, feinen Gesichtchen und vollem, lockigem Haar, das ihr bis zur Taille reichte.

»Guten Morgen, Miss Adela«, sagte Mrs. Fairfax. »Kommen Sie her und sagen Sie der Dame guten Tag, die Sie künftig unterrichten und eines Tages eine kluge Frau aus Ihnen machen wird.« Die Kleine kam näher.

»C’est là ma gouvernante?«, fragte sie ihr Kindermädchen und zeigte auf mich.

»Mais oui, certainement«, antwortete dieses.

»Sind sie Ausländerinnen?«, fragte ich, erstaunt, sie Französisch sprechen zu hören.

»Das Kindermädchen ist Ausländerin, und Adela ist auf dem Kontinent geboren, wo sie – so viel ich weiß – auch immer gelebt hat, bis sie Frankreich innerhalb der letzten sechs Monate verließ. Als sie hier ankam, sprach sie kein Wort Englisch; jetzt kann sie sich schon notdürftig verständlich machen. Ich verstehe sie zwar nicht, weil sie so viele französische Ausdrücke einflicht, aber Sie werden gewiss keine Mühe haben herauszufinden, was sie meint.«

Zum Glück war es mir vergönnt gewesen, von einer Französin in ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden, und da ich es mir zum Prinzip gemacht hatte, mich so oft wie nur irgend möglich mit Madame Pierrot zu unterhalten, und zudem während der vergangenen sieben Jahre jeden Tag ein paar französische Sätze auswendig gelernt und mich dabei vor allem um eine richtige Intonation und eine möglichst genaue Nachahmung der Aussprache meiner Lehrerin bemüht hatte, konnte ich diese Sprache nun ziemlich flüssig und korrekt sprechen, so dass mich Mademoiselle Adela wohl kaum in Verlegenheit bringen würde. Als sie hörte, dass ich ihre Gouvernante sei, kam sie zu mir und reichte mir die Hand. Während ich mit ihr zum Frühstück hineinging, richtete ich ein paar Fragen in ihrer Muttersprache an sie. Zuerst antwortete sie nur kurz, doch als wir dann zu Tisch saßen und sie mich gute zehn Minuten lang mit ihren großen haselnussbraunen Augen prüfend angesehen hatte, plauderte sie plötzlich munter darauf los.

»Ach«, rief sie auf Französisch, »Sie sprechen meine Sprache genauso gut wie Mr. Rochester. Mit Ihnen kann ich mich unterhalten wie mit ihm, und Sophie auch. Sie wird sehr froh darüber sein, denn kein Mensch hier versteht sie. Madame Fairfax kann ja nur Englisch. Sophie ist mein Kindermädchen; sie ist mit mir übers Meer gekommen, in einem großen Schiff mit einem Schornstein, der rauchte – und wie der rauchte! Und ich war seekrank, und Sophie auch, und Mr. Rochester auch. Mr. Rochester hat sich auf ein Sofa in einem hübschen Raum gelegt, den man Salon nannte, und Sophie und ich hatten in einem anderen Zimmer winzige Betten. Ich wäre aus meinem beinahe herausgefallen, es war so schmal wie ein Brett. Und, Mademoiselle – wie heißen Sie eigentlich?«

»Eyre – Jane Eyre.«

»Aire? Bah, das kann ich nicht aussprechen. Also, am Morgen, noch bevor es richtig hell war, hielt unser Schiff in einer großen Stadt – in einer riesengroßen Stadt mit ganz dunklen Häusern, und alles war ganz rußig und ganz anders als die hübsche, saubere Stadt, aus der ich kam; und Mr. Rochester trug mich auf den Armen über einen Steg an Land, und Sophie folgte uns, und dann stiegen wir alle in eine Kutsche, die uns zu einem schönen, großen Haus brachte, viel größer und eleganter als dieses hier, das hieß Hotel. Dort sind wir fast eine Woche geblieben, und ich bin mit Sophie jeden Tag auf einem großen grünen Platz voller Bäume spazieren gegangen, den die Leute Park nannten, und dort gab es noch viele andere Kinder außer mir und einen Teich mit wunderschönen Vögeln, die ich mit Brotkrumen gefüttert habe.«

»Können Sie sie denn verstehen, wenn sie so schnell spricht?«, erkundigte sich Mrs. Fairfax.

Ich verstand sie ausgezeichnet, denn ich war an die flüssige Sprechweise von Madame Pierrot gewohnt.

»Könnten Sie ihr wohl ein paar Fragen über ihre Eltern stellen?«, fuhr die gute Frau fort. »Ich hätte gern gewusst, ob sie sich noch an sie erinnert.«

»Adèle«, wandte ich mich an das Kind, »bei wem hast du in der hübschen, sauberen Stadt gelebt, die du vorhin erwähnt hast?«

»Ganz früher war ich mit Mama zusammen; aber dann ist sie zur Heiligen Mutter Gottes gegangen. Mama hat mir Tanzen beigebracht und Singen und Verse-Aufsagen. Viele vornehme Damen und Herren haben Mama besucht, und ich habe vor ihnen getanzt oder auf ihrem Schoß gesessen und ihnen etwas vorgesungen. Das hat mir gefallen. Soll ich Ihnen jetzt etwas vorsingen?«

Da sie ihr Frühstück beendet hatte, erlaubte ich ihr, uns eine Kostprobe ihres Könnens zu geben. Sie kletterte von ihrem Stuhl herunter, kam zu mir und setzte sich auf meinen Schoß; dann faltete sie ernst und sittsam die Hände, schüttelte ihre Locken aus dem Gesicht, richtete den Blick zur Decke und begann, eine Melodie aus einer Oper zu singen. Es war die Arie einer verlassenen Frau, die die Untreue ihres Geliebten beweint, sich dann jedoch auf ihren Stolz besinnt: Sie befiehlt ihrer Zofe, ihr die prachtvollsten Juwelen und kostbarsten Kleider anzulegen, und beschließt, dem Treulosen auf dem abendlichen Ball gegenüberzutreten, um ihm durch ihre Fröhlichkeit und Ausgelassenheit zu zeigen, wie wenig sein Verrat sie berührte.

Die Wahl eines solchen Themas für eine so junge Sängerin befremdete mich. Vermutlich sollte der Reiz der Darbietung gerade darin liegen, die Kunde von Liebe und Eifersucht mit der Unbefangenheit eines unschuldigen Kindes geträllert zu hören, und dies war – zumindest nach meinem Dafürhalten – von äußerster Geschmacklosigkeit.

Adèle sang die kurze Arie recht wohlklingend und mit der Naivität ihres Alters. Kaum war sie damit fertig, da sprang sie von meinem Schoß und erklärte: »Und jetzt, Mademoiselle, will ich Ihnen ein Gedicht aufsagen.«

Sie stellte sich in Positur und kündigte La Ligue des Rats; fable de La Fontaine an. Dann deklamierte sie das kurze Stück mit so großem Augenmerk auf Interpunktion und Betonung, einer solchen Bandbreite stimmlicher Ausdrucksmöglichkeiten und dazu passenden Gesten, wie es für ihr Alter in der Tat sehr ungewöhnlich war. Es bewies, dass sie sorgfältig geschult worden war.

»Hat deine Mama dich das Stück gelehrt?«, fragte ich.

»Ja, und sie hat es genauso gesagt: ›Qu’avez-vous donc? lui dit un de ces rats; parlez!‹ Sie brachte mir auch bei, die Hand zu heben – so –, damit ich nicht vergesse, bei der Frage meine Stimme zu erheben. Soll ich Ihnen jetzt etwas vortanzen?«

»Nein, das genügt. Aber bei wem hast du denn gelebt, nachdem deine Mama, wie du sagst, zur Heiligen Mutter Gottes gegangen war?«

»Bei Madame Frédéric und ihrem Mann. Sie hat sich um mich gekümmert, aber sie ist nicht mit mir verwandt. Ich glaube, sie ist arm, denn sie hatte kein so schönes Haus wie Mama. Ich war nicht lange dort. Mr. Rochester hat mich gefragt, ob ich mit ihm nach England gehen und dort bei ihm leben wollte, und ich habe ja gesagt; ich kannte Mr. Rochester nämlich schon lange vor Madame Frédéric, und er ist immer nett zu mir gewesen und hat mir hübsche Kleider und Spielsachen geschenkt; aber, sehen Sie, er hat sein Wort nicht gehalten. Er hat mich zwar nach England gebracht, aber er selbst ist wieder zurückgegangen, und ich sehe ihn nie.«

Nach dem Frühstück zog ich mich mit Adèle in die Bibliothek zurück, die offenbar auf Mr. Rochesters Anordnung hin als Schulzimmer dienen sollte. Die meisten Bücher waren hinter Glastüren verschlossen; einen Schrank hatte man jedoch offen gelassen, und er enthielt alles, was man für den Grundschulunterricht benötigte, sowie mehrere Bände leichterer Literatur, Lyrik, Biografien, Reisebeschreibungen, ein paar Romane und dergleichen mehr. Wahrscheinlich war er der Ansicht gewesen, diese Auswahl genüge dem Bedarf der Erzieherin an Privatlektüre. Und in der Tat stellte sie mich für den Augenblick vollauf zufrieden, denn verglichen mit den kärglichen Körnchen, die ich in Lowood hie und da aufzulesen vermocht hatte, schien sie mir eine reiche Ernte an Unterhaltung und Belehrung zu versprechen. In dem Raum standen auch ein Klavier, das noch recht neu war und einen sehr guten Klang hatte, ein Erd- und ein Himmelsglobus sowie eine Staffelei.

Meine Schülerin erwies sich als recht gelehrig, wenn auch nicht sonderlich geneigt, sich der neuen Situation anzupassen. Sie war an keinerlei regelmäßige Beschäftigung gewöhnt, und ich hielt es für unklug, sie gleich zu Beginn zu lange einzusperren. Deshalb erlaubte ich ihr, gegen Mittag zu ihrem Kindermädchen zurückzukehren, nachdem ich mich zuvor lange mit ihr unterhalten und sie dann dazu gebracht hatte, ein bisschen zu lernen. Ich selbst wollte die Zeit bis zum Essen nutzen, um ein paar kleine Skizzen für sie anzufertigen.

Als ich nach oben ging, um meine Zeichenmappe und die Bleistifte zu holen, rief mir Mrs. Fairfax zu: »Der Vormittagsunterricht ist wohl zu Ende?« Sie war in einem Zimmer, dessen Flügeltüren offen standen. Ich ging zu ihr hinein. Es war ein großer, prachtvoller Raum mit purpurroten Stühlen und Vorhängen, einem türkischen Teppich, einem riesigen Fenster aus buntem Glas und einer hohen, kunstvoll gestalteten Decke. Die Wände waren mit Walnussholz getäfelt. Mrs. Fairfax staubte gerade einige wunderschöne Vasen aus purpurrotem Kristall ab, die auf einer Anrichte standen.

»Was für ein herrliches Zimmer!«, rief ich aus, als ich mich umblickte. Noch nie hatte ich etwas auch nur annähernd so Großartiges gesehen.

»Ja, das ist das Speisezimmer. Ich habe gerade das Fenster aufgemacht, um ein wenig frische Luft und Sonnenschein hereinzulassen; in Räumen, die nur selten bewohnt werden, wird ja alles so feucht und klamm. Im Salon drüben kommt man sich vor wie in einer Gruft.«

Sie wies auf einen breiten, bogenförmigen Durchgang, der dem Fenster gegenüberlag und ebenfalls mit einem purpurnen, jetzt allerdings hochgebundenen Vorhang verkleidet war. Ich stieg die beiden großen Stufen davor hinauf, und als ich hindurchblickte, glaubte ich einen Märchenpalast vor mir zu sehen, so wunderbar erschien meinen an solche Pracht nicht gewöhnten Augen alles. Dabei war es nur ein sehr hübscher Salon mit einem Boudoir. Beide Räume waren mit weißen Teppichen ausgelegt, auf denen leuchtende Blumengirlanden ausgebreitet zu sein schienen; in beiden waren die Decken mit schneeweißen Trauben und Weinlaub verziert, und darunter glühten in großartigem Kontrast karmesinrote Chaiselongues und Sofas, während der Zierrat auf dem hellen marmornen Kaminsims aus funkelndem rubinrotem böhmischen Kristall war, und zwischen den Fenstern setzte sich in großen Spiegeln diese harmonische Verschmelzung von Schnee und Feuer fort.

»In welcher Ordnung Sie diese Räume halten, Mrs. Fairfax!«, sagte ich. »Kein Stäubchen, keine Schutzbezüge über den Möbeln. Wäre die Luft nicht so kalt, könnte man denken, sie seien ständig bewohnt.«

»Ja, sehen Sie, Miss Eyre, Mr. Rochester kommt zwar selten hierher, aber seine Besuche sind immer überraschend und unerwartet; und da ich bemerkt habe, dass es ihn stört, wenn bei seiner Ankunft die Möbel zugedeckt und erst noch eine Reihe von Vorbereitungen zu treffen sind, hielt ich es für das Beste, dafür zu sorgen, dass die Räume jederzeit bewohnbar sind.«

»Ist Mr. Rochester denn so kleinlich und anspruchsvoll?«

»Nein, eigentlich nicht; aber er hat die Vorlieben und Gewohnheiten eines vornehmen Herrn, und er erwartet, dass man diesen Rechnung trägt.«

»Mögen Sie ihn? Ist er allgemein beliebt?«

»O ja! Die Familie hat hier immer großes Ansehen genossen. So weit das Auge reicht, gehört fast das gesamte Land in dieser Gegend seit undenklichen Zeiten den Rochesters.«

»Nun gut, aber einmal abgesehen von seinem Besitz – mögen Sie ihn als Mensch? Ist er um seiner selbst willen beliebt?«

»Ich persönlich habe keinen Grund, ihn nicht zu mögen, und ich glaube, seine Pächter halten ihn für einen gerechten und aufgeschlossenen Gutsherrn: aber er hat ja nie lange hier gelebt.«

»Hat er denn keine Eigenheiten? Kurzum: Wie ist sein Charakter?«

»Sein Charakter ist meiner Meinung nach untadelig. Vielleicht ist er ein wenig eigen; er ist weit gereist und hat wohl eine Menge von der Welt gesehen. Bestimmt ist er klug, allerdings habe ich nie viel Gelegenheit gehabt, mich mit ihm zu unterhalten.«

»Inwiefern ist er eigen?«

»Ich weiß nicht – es ist nicht leicht zu beschreiben – nichts Greifbares, aber man spürt es, wenn er mit einem spricht: Man weiß nicht immer, ob er etwas im Scherz sagt oder es ernst meint, ob er zufrieden ist oder nicht. Kurz, es ist schwer, ihn wirklich zu verstehen – zumindest mir fällt es schwer. Aber das hat nichts zu sagen. Jedenfalls ist er ein sehr guter Herr.«

Das war alles, was ich von Mrs. Fairfax über ihren und meinen Brotherrn erfuhr. Es gibt Leute, die offenbar absolut kein Talent dafür haben, ein Charakterbild zu zeichnen oder hervorstechende Merkmale, sei es von Personen oder Dingen, zu beobachten und zu beschreiben, und die gute Frau gehörte zu diesen. Meine Fragen verwirrten sie, brachten aber nichts aus ihr heraus. In ihren Augen war Mr. Rochester eben Mr. Rochester: ein vornehmer Herr, ein Gutsbesitzer – sonst nichts; mehr wollte sie auch gar nicht wissen, und sicherlich wunderte sie sich über meinen Wunsch, mir eine genauere Vorstellung von seiner Persönlichkeit zu machen.

Als wir das Speisezimmer verließen, schlug sie vor, mir das ganze Haus zu zeigen. Ich folgte ihr treppauf, treppab und verlieh immer wieder meiner Bewunderung Ausdruck, denn alles war geschmackvoll eingerichtet und ordentlich. Die großen Zimmer, die nach vorne lagen, kamen mir besonders prachtvoll vor, während einige der Räume im dritten Stock, obwohl dunkel und niedrig, mich aufgrund ihrer Altertümlichkeit beeindruckten. Das Mobiliar der unteren Gemächer war von Zeit zu Zeit, wenn sich die Mode wieder einmal gewandelt hatte, hierher gebracht worden, und im spärlichen Licht, das durch die schmalen Fenster drang, sah man hundert Jahre alte Bettgestelle, Truhen aus Eichen- oder Walnussholz, die mit ihren seltsamen Schnitzereien von Palmzweigen und Engelsköpfen wie Nachbildungen der Lade der Israeliten aussahen, Reihen von altehrwürdigen schmalen Stühlen mit hohen Lehnen, noch ältere Hocker, auf deren gepolsterten Sitzflächen Spuren halb abgewetzter Stickereien erkennbar waren, von Fingern angefertigt, die schon seit zwei Generationen zu Staub zerfallen in ihrem Sarg lagen. All diese Zeugen längst vergangener Tage ließen das dritte Stockwerk von Thornfield Hall wie eine Heimstätte der Vergangenheit, einen Schrein der Erinnerung anmuten. Bei Tag mochte ich die Stille, die Düsterkeit, die eigentümliche Atmosphäre dieser abgeschiedenen Räume, doch unter keinen Umständen hätte ich eine Nacht in einem jener breiten, schweren Betten verbringen wollen, von denen einige mit Eichenholztüren verschlossen und andere mit alten, handgearbeiteten, mit Stickereien überladenen Vorhängen umgeben waren. Die darauf dargestellten seltsamen Blumen, noch seltsameren Vögel und höchst seltsamen menschlichen Wesen hätten im fahlen Licht des Mondes bestimmt noch viel unheimlicher ausgesehen!

»Schlafen die Dienstboten in diesen Zimmern?«, fragte ich.

»Nein. Sie haben eine Reihe kleinerer Zimmer nach hinten hinaus. Hier schläft nie jemand. Fast wäre man versucht zu sagen, wenn es ein Gespenst in Thornfield Hall gäbe, so ginge es bestimmt hier um.«

»Das glaube ich auch. Es gibt hier also kein Gespenst?«

»Ich habe zumindest noch nie von einem gehört«, erwiderte Mrs. Fairfax lächelnd.

»Und auch keine Berichte, dass es einmal eines gegeben hat? Keine Sagen oder Spukgeschichten?«

»Nicht dass ich wüsste, obwohl es heißt, die Rochesters seien einst eine nicht eben friedfertige, sondern eher gewalttätige Sippe gewesen. Vielleicht ruhen sie aber gerade deshalb heute so friedlich in ihren Gräbern.«

»Ja, ›sanft schlafen sie nach des Lebens Fieberschauern‹«, murmelte ich. »Wohin gehen Sie, Mrs. Fairfax?«, rief ich, denn sie entfernte sich.

»Aufs Dach. Wollen Sie mitkommen und sich die Aussicht von dort oben einmal ansehen?« Wieder folgte ich ihr, diesmal über eine sehr schmale Treppe zu den Mansarden und von dort weiter über eine Leiter und durch eine Falltür auf das Dach des Hauses. Ich befand mich nun auf gleicher Höhe mit der Krähenkolonie und konnte in die Nester hineinsehen. Als ich mich über die Zinnen beugte und hinunterblickte, lag der Park wie eine Landkarte ausgebreitet vor mir. Ich sah den leuchtend grünen, samtenen Rasen, der die grauen Mauern des Hauses unten eng umschloss; die sich wie ein Park weit ausdehnende Wiese, auf der sich die alten Bäume als dunkle Punkte abhoben; den schon herbstlich gefärbten Wald mit seinem moosbedeckten Pfad, der grüner leuchtete als das Laub an den Bäumen; die Kirche beim Tor, die Straße, die stillen Hügel. Alles lag friedlich im Sonnenlicht des schönen Herbsttages unter einem tiefblauen, perlweiß marmorierten Himmel, der am Horizont mit der Landschaft verschmolz. Der Anblick bot nichts Außergewöhnliches, doch er war lieblich und wohltuend. Als ich mich abwandte und wieder durch die Luke hinunterstieg, konnte ich kaum die Sprossen der Leiter erkennen; verglichen mit dem Blau des Himmels, zu dem ich eben emporgeblickt hatte, und den sonnenbeschienenen Wäldern, Weiden und grünen Hügeln, deren Mittelpunkt Thornfield Hall bildete und über die mein Blick voller Entzücken gewandert war, kam mir die Mansarde nun dunkel und trostlos vor wie eine Gruft.

Mrs. Fairfax blieb einen Augenblick zurück, um die Falltür zu schließen. Tastend fand ich die Mansardentür und stieg die enge Bodentreppe hinunter. Auf dem langen Gang, auf den sie führte und der die Vorder- und Hinterzimmer des dritten Stocks voneinander trennte, zögerte ich. Er war schmal, niedrig und düster, mit nur einem einzigen winzigen Fenster ganz hinten am anderen Ende, und sah mit den Reihen kleiner, geschlossener schwarzer Türen zu beiden Seiten aus wie ein Korridor in Ritter Blaubarts Schloss.

Während ich langsam weiterging, drang ein Laut an mein Ohr, den ich in einer so stillen Umgebung am allerwenigsten erwartet hätte: ein Lachen. Es war ein ganz eigenartiges Lachen – klar und deutlich, leer und freudlos. Ich blieb stehen. Es verstummte, aber nur für einen Augenblick. Dann setzte es erneut und diesmal lauter ein – denn beim ersten Mal war es zwar deutlich vernehmbar, aber doch recht leise gewesen. Es endete in einem schrillen Gelächter, das in all den einsamen Räumen widerzuhallen schien, obgleich es nur aus einem kam, und ich hätte die Tür des Zimmers zeigen können, aus dem die Töne drangen.

»Mrs. Fairfax!«, rief ich entsetzt, denn ich hörte sie jetzt die Treppe herunterkommen. »Haben Sie dieses laute Lachen gehört? Wer ist das?«

»Sehr wahrscheinlich einer von den Dienstboten«, antwortete sie. »Vielleicht Grace Poole.«

»Haben Sie es gehört?«, fragte ich erneut.

»Ja, ganz deutlich; ich höre sie oft. Sie näht in einem dieser Zimmer. Manchmal ist Leah bei ihr; die beiden machen öfters viel Lärm, wenn sie zusammen sind.«

Noch einmal ertönte das Lachen, diesmal wieder leiser und abgehackt. Dann verlor es sich in einem unverständlichen Gemurmel.

»Grace!«, rief Mrs. Fairfax.

Ich erwartete eigentlich nicht, dass irgendeine Grace antworten würde, denn dieses Lachen war so tragisch, so übernatürlich, wie ich es noch nie gehört hatte; und nur weil es heller Mittag war und nichts Gespenstisches die sonderbaren Laute begleitete – nur weil weder Ort noch Zeit Anlass zur Angst gaben, verspürte ich keine abergläubische Furcht. Doch was gleich darauf geschah, zeigte mir, wie töricht selbst mein Befremden gewesen war.

Die mir am nächsten gelegene Tür ging auf, und eine Magd kam heraus – eine Frau zwischen dreißig und vierzig, gesetzt und stämmig, mit roten Haaren und einem harten, reizlosen Gesicht: Eine weniger romantische oder geisterhafte Erscheinung hätte man sich kaum vorstellen können.

»Zu viel Lärm, Grace«, sagte Mrs. Fairfax. »Denken Sie an die Anweisungen!« Grace knickste schweigend und ging wieder hinein.

»Wir haben sie zum Nähen eingestellt, und damit sie Leah bei der Hausarbeit hilft«, fuhr die Witwe fort. »In mancher Hinsicht könnte man etwas gegen sie einwenden, aber ihre Arbeit macht sie recht gut. Übrigens – wie sind Sie heute Morgen mit Ihrer neuen Schülerin zurechtgekommen?«

Damit kam das Gespräch auf Adèle, und wir unterhielten uns über sie, bis wir wieder in die hellen, freundlichen unteren Regionen gelangten. Adèle lief uns in der Eingangshalle entgegen und rief:

»Mesdames, vous êtes servies!« Und rasch fügte sie hinzu: »J’ai bien faim, moi!«

Wir gingen in Mrs. Fairfax’ Zimmer, wo das Essen bereits aufgetragen war.

Jane Eyre. Eine Autobiografie

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