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Jetzt erinnerte ich mich daran; wie meine Mutter in unserer Küche meinem Bruder Manuel und mir von sich erzählte. Als am 30. Januar 1933 der Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte und ihm damit den Auftrag zur Regierungsbildung erteilte, ahnte mein Großvater Ottomar, dass schlimme Zeiten herannahen würden. Mit der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes, dem Boykott gegen jüdische Bürger, der Bücherverbrennung und dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen am 1. September 1939 bestätigte sich die düstere Vorahnung meines Großvaters.

Als meine Mutter ein junges Mädchen war, bestimmt sehr hübsch anzusehen, interessierte sich ein junger Mann für sie. Ihr Vater sah das gar nicht gern, denn er hatte große Angst, dass sich seine Tochter Hildegard mit einem Mann einlassen und schwanger werden könnte. Nur so kann man sich erklären, dass meine Mutter als ahnungsloses Mädchen nach einem Rendezvous ihrem Vater ihren Schlüpfer zeigen musste. Da meine Mutter zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgeklärt war, konnte sie diese väterliche Maßnahme nicht verstehen und zweifelte an seinem Verhalten.

Meine Mutter war achtzehn Jahre alt, da verstarb plötzlich und unerwartet auch ihr Vater. Seine Lebensenergie war erloschen. Er hat wohl seine Frau sehr vermisst. Außerdem musste er finanzielle Verluste hinnehmen, so dass er die Ziegelei und sogar sein Haus verkaufen musste. Nach dem Tod meines Großvaters kam meine Mutter zu einem Vormund, denn man wurde zu dieser Zeit erst mit einundzwanzig mündig. Sie arbeitete in einem Kunstgewerbegeschäft in Hamburg als Verkäuferin.

Mein Vater hatte in einer Thüringer Kleinstadt sein Abitur gemacht und war beim Finanzamt als Inspektor tätig gewesen. Dann wurde er als Soldat eingezogen und kam zur Flak (Flugabwehr) nach Norddeutschland. Während eines Ausgangs sah mein Vater meine Mutter in einer Hamburger Straßenbahn. Sie gefiel ihm und er verfolgte sie bis zu ihrem Kunstgewerbegeschäft. An einem anderen Tag ließ er sich von ihr bedienen und es kam zu einer Verabredung.

Am 25. Juni 1943 heirateten meine Eltern standesamtlich im prunkvollen Hamburger Rathaus, das trotz der Bombenangriffe auf Hamburg noch unzerstört geblieben war. Zur kirchlichen Trauung, die in der Nikolaikirche stattfand, fuhren meine Eltern in einer Kutsche. Welch ein Kontrast zur damaligen Kriegssituation! Ein Zeitungsreporter schrieb in einem kurzen Artikel, wie hübsch das Brautpaar in der Kutsche ausgesehen habe. Mit solchen harmlosen Mitteilungen lenkte man die Bevölkerung gern von ihrer misslichen Lage ab. Nach der Trauung feierte man die Hochzeit mit zwölf Gästen im Bürgerbräuhaus. Unter den Hamburger Gästen war auch der Großvater meiner Mutter eingeladen, der seinerzeit den Kontakt zu seiner Tochter aufgeben musste und, die dann später an einer Gallensteinoperation starb. Die Eltern und die Schwägerin meines Vaters aus Thüringen nahmen an der Hochzeit teil. Aus Afrika reiste auch Edgar Preisig, der Bruder meines Großvaters, mit seiner Frau an. Er war der Meinung, man müsse jetzt dem „Großdeutschem Reich“ dienen und arbeitete ab Juli 1943 als Major in der Militärverwaltung in Ostpreußen. Im letzten Kriegswinter gelang ihm und seiner Frau die Flucht vor den sowjetischen Fronttruppen nicht mehr. Sie kamen ums Leben.

Während des Krieges wurde das Flak-Regiment meines Vaters häufig verlegt. Er war in Frankreich und Italien. Als mein Vater nach Rußland abkommandiert werden sollte, gab er an, eine Blinddarmentzündung zu haben und entging so dieser Versetzung.

Ende Juli / Anfang August 1943 wurde Hamburg von den Alliierten sehr stark bombardiert. Die Hansestadt war durch den Feuersturm auf einem Areal von 20 Quadratkilometern völlig zerstört. Es muss für die Zivilbevölkerung die „Hölle“ gewesen sein. Mehr als 40 000 Menschen verbrannten oder erstickten. Deshalb flüchtete meine Mutter aus Hamburg nach Lübeck zu ihren Tanten, den ledigen Schwestern ihres Vaters. Endlich war am 8. Mai 1945 dieser schreckliche Krieg zu Ende. Nachdem Adolf Hitler Selbstmord verübt hatte, unterzeichnete im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst General Wilhelm Keitel die bedingungslose Kapitulation. Zu den Bedingungen gehörte, dass das Deutsche Reich nicht mehr als eigenständiger Staat existierte. In Berlin wurde im Juni der Alliierte Kontrollrat als oberste Regierungsgewalt eingerichtet. Er konstituierte sich aus vier Oberbefehlshabern der vier Besatzungsmächte Frankreich, England, USA und UdSSR. Sie beschlossen die Entnazifizierung, Entmilitarisierung und die Neuordnung Deutschlands. Das war für Deutschland die „Stunde Null“.

Am 3. Juni 1945 wurde mein Bruder Manuel in Lübeck geboren. Er wog bei der Geburt 9 Pfund, was für diese Zeiten sehr beachtlich war. Mein Vater erfuhr nichts davon. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich in amerikanischer Kriegsgefangenschaft in München. Da er Schulkenntnisse in Englisch besaß, konnte er bei den amerikanischen Besatzungskräften bei der Verteilung von Lebensmitteln mithelfen.

Bärbel, die Schwester meiner Mutter, war inzwischen auch verheiratet. Das Medizinstudium hatte sie abgebrochen. Ihr Ehemann hatte als Physiker in der Torpedoversuchsanstalt der Kriegsmarine gearbeitet. Eine Zeit lang hielt sich Bärbel in Eckernförde bei ihm auf. Bei Versuchen arbeitete Hans auch in Danzig. Dort besuchte ihn Bärbel als sie schwanger war. Eigentlich wollte sie am 30.Januar 1945 mit dem Transportschiff „Wilhelm Gustloff“ nach Hamburg zurückkehren. Eine Karte für die Fahrt hatte sie schon gelöst, aber sie war verhindert die Fahrt anzutreten. Die „Gustloff“ sank und dadurch blieb meine Tante Bärbel am Leben. Auch Bärbel bekam ein Baby. Sie gebar im Juni 1945 eine Tochter (Maja).

Meine Mutter kehrte mit ihrem Söhnchen in ihre kleine Hamburger Wohnung zurück. Hamburg war stark zerstört. Es gab sehr viele Ruinen. Menschenschlangen vor Lebens-mittelgeschäften gehörten zum Alltag. Immer knapper werdende Lebensmittelrationen hatten zur Folge, dass der Schwarzhandel und Tauschgeschäfte blühten. Meine Mutter tauschte wertvollen Schmuck gegen Lebensmittel ein.

In dieser Situation meldete sich ihre Schwester mit der kleinen Tochter Maja bei ihr und bat um Aufnahme, da ihre Wohnung nicht mehr existierte. Meine Mutter nahm sie mit ihrer Tochter selbstverständlich bei sich auf. Bald wurde jedoch Bärbels Mann Hans aus der Gefangenschaft entlassen und meine Mutter willigte ein, auch ihm Unterkunft zu gewähren.

Nach einigen Monaten kam dann auch noch mein Vater aus München zurück nach Hamburg. Obwohl meine Eltern verheiratet waren, bekam mein Vater nicht gleich eine Zuzugsgenehmigung. Zuerst wurde er zum Trümmerräumen verpflichtet, dann schrieb er sich als Student in der Universität ein. Außerdem bekam er aber auch eine Anstellung als Inspektor beim Finanzamt. Die wirtschaftliche Lage meiner Eltern war trotzdem nicht sehr gut. Im Nachkriegswinter wurde das Leben stark beeinflusst durch Brennstoffmangel, sowie durch Gas- und Stromsperren. Bärbels Ehemann organisierte Straßenbahnheizungen, um nicht zu frieren. Auf dem Schwarzmarkt waren hohe Preise für Lebensmittel zu zahlen. Anfangs teilten sich beide Familien die Kosten für den Lebensunterhalt. Später führte man getrennte Haushalte. Bärbels Ehemann Hans verschaffte sich durch Porträtmalerei von englischen Soldaten zusätzliche Lebensmittel, die er jedoch nicht teilte. Die Wohnung war für vier Erwachsene und zwei Kleinkinder viel zu eng.

Nun wollte mein Vater nach Thüringen, um dort seine Eltern zu besuchen und noch einige Kleidungsstücke zu holen. Sein Vater Oliver und dessen Frau Marlies lebten in einer Kleinstadt in Thüringen. Oliver arbeitete in einem Kaliwerk als Fördermaschinist. Außerdem bewirtschafteten die Eheleute einige kleine Felder, fütterten zwei Ziegen, zwei Schweine, sowie Kaninchen und Hühner. In der Nachkriegszeit war diese Eigenversorgung natürlich sehr erstrebenswert. Eigentlich wollte mein Vater allein über die „grüne“ Grenze in die russische Besatzungszone. Doch meine Mutter wollte nicht mit einem Kind in Hamburg allein zurückbleiben. War die Situation in der Wohnung mit so vielen Personen unerträglich geworden? Nun hatte auch noch meine Großmutter Marlies herausgefunden, dass mein Vater eine Stelle beim Thüringer Finanzamt antreten könne. Meine Eltern fassten den Entschluss, den Hausrat meiner Mutter für zweitausend Reichsmark an Bärbel abzugeben und nach Thüringen zu übersiedeln. Diesen Entschluss haben sie zeitlebens bereut! Es ging schon los, als sie mit Kind und Gepäck die Demarkationsgrenze der russischen Besatzungszone in einem Waldstück bei Dunkelheit überqueren mussten. Meine Mutter hat meinem Vater sehr übel genommen, dass er davon rannte, als er russische Soldaten von weitem kommen sah. Für meine Mutter war das eine schreckliche Situation. Zum Glück vergriffen sich die Russen nicht an ihr und sie fand auch meinen Vater im Wald wieder. Er begründete seine Flucht damit, dass man einer Frau mit einem Kleinkind bestimmt nichts angetan hätte, was vielleicht stimmte.

Meine Eltern wurden mit meinem kleinen Bruder von meinen Großeltern in ihrem Haus in der Thüringer Kleinstadt aufgenommen. Die oberste Etage des Hauses war an eine fremde Familie vermietet. Meine Eltern und der kleine Manuel bezogen zusammen ein winziges Zimmer. Meiner Mutter blieb jetzt nichts weiter übrig, als sich mit kleinbürgerlichen Verhältnissen abzufinden. Es wurde gespart, wo man nur konnte. Ich habe noch die Dämmerstunden (es sollte Strom gespart werden) und die Fidibusse (Papierstreifen, die benutzt wurden, um Feuer aus dem Ofen zu entnehmen und dadurch Streichhölzer zu sparen) in Erinnerung. Häufig lebte man nur von Steckrübensuppe. Meine Mutter hatte bereits als Sechszehnjährige während des Arbeitsdienstes das Arbeiten als Erntehelferin auf einem Feld kennen gelernt. Jetzt musste sie als junge Frau auf dem Feld arbeiten, was sie aber nur ungern tat. Sie hatte sich bestimmt von dem Umzug nach Thüringen erhofft, in ihrer Schwiegermutter einen Ersatz für ihre früh verstorbene Mutter zu finden. Meine Großmutter war aber eine durch harte Arbeit geprägte Frau und war keine liebevolle Schwiegermutter.

Auch die Hoffnung, dass mein Vater in der Thüringer Kleinstadt beim Finanzamt als Finanzinspektor eine Stellung antreten könnte, erfüllte sich nicht. Mein Vater stand 1947 ohne Arbeit da und überlegte nun, wie es mit ihm und seiner Familie weitergehen sollte. In Thüringen benötigte man im Schuldienst neue Lehrer. Ohne Abitur hätte mein Vater sofort eine Neulehrerstelle antreten können. Da er aber eine höhere Schulbildung besaß, legte man ihm nahe ein Pädagogikstudium in Jena aufzunehmen. Sein Bruder Willy mit seiner Frau Else und ihrem vierjährigem Sohn wohnten in Jena. Zunächst konnte mein Vater bei ihnen unterkommen und mietete später ein möbliertes Zimmer.

Nach der Währungsreform am 20. Juni 1948, bei der im Westen die alte Reichsmark 10 zu 1 abgewertet und die neue Mark eingeführt wurde, normalisierte sich die Lage allmählich. Durch die Geldabwertung blieb meiner Mutter nicht mehr viel von ihrem Ersparten, denn die Sparguthaben in der ehemaligen Währung Reichsmark wurden in einem Verhältnis von 100: 6,5 abgewertet. Allerdings füllten sich die Schaufenster mit den vermissten Waren, vor allen in den Westzonen. In der Ostzone, in der meine Eltern lebten waren Nahrungsmittel dagegen noch lange nur auf Lebensmittelkarten zu haben. Sofort reagierte man in der sowjetisch kontrollierten Besatzungszone und führte dort am 23.Juni ebenfalls eine Währungsreform durch. Diese Maßnahme erstreckte sich auch auf Berlin. Um Berlin ganz unter ihre Herrschaft zu bekommen, begannen die sowjetischen Besatzer mit der Blockade der Stadt. Für die USA war das ein Zeichen für die Absicht der Sowjets, ihren Einfluss in Europa auszudehnen. Die Westalliierten aber versorgten die eingeschlossene Stadt über eine Luftbrücke mit Lebensmitteln und retteten die Bewohner Berlins nicht nur vor einer Hungersnot, sondern sie gaben der UdSSR auch zu verstehen, dass sie in jedem Fall expansiven Tendenzen entgegenwirken würden. Die Teilung Berlins, die schon durch die Einführung unterschiedlicher Währungen eingeleitet wurde, war nun endgültig festgeschrieben. Erst am 12.5.1949 hoben die sowjetischen Besatzer die Blockade von Berlin auf.

Ab 1952 wurde die Demarkationslinie zwischen der DDR verstärkt abgeriegelt, dazu wurden auf DDR-Gebiet ein fünf Kilometer tiefes Sperrgebiet und ein 500 Meter breiter, mit Stacheldraht gesicherter Schutzstreifen geschaffen. Zuerst wurde als Sichtschutz ein Holzlattenzaun aufgebaut, später ein schwer überwindbarer doppelter Stacheldrahtzaun. Tausende Bewohner dieser Sperrgebiete wurden teilweise über Nacht in der so genannten „Aktion Ungeziefer“ zwangsumgesiedelt. Seit 1957 hieß die Demarkationslinie in der DDR offiziell „Staatsgrenze“.

Wende mit 40

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