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JUGEND UND FACHHOCHSCHULSTUDIUM

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1963 verstarben meine beiden Großtanten, die Schwestern meines Hamburger Großvaters Ottomar. Ich bedauerte den Tod beider Tanten in nur einem Jahr sehr, weil ich brieflich mit ihnen in Kontakt stand. Die ältere war Studienrätin und ihre jüngere Schwester führte ihr den Haushalt.

Ich kann mich noch daran erinnern, als ich etwa acht Jahre alt war, erfüllten mir die Tanten den Wunsch nach Perlonstoff. Der begehrte, rosafarbene Stoff mit Blümchen wurde von unserer Schneiderin zu einem Kleid verarbeitet und ich freute mich riesig darüber. Anders gekleidet zu sein als die meisten DDR-Bürger, machte mir Spaß. Als man in der Schule bei einem Appell das Verbot aussprach, Nietenhosen zu tragen, fand ich das reichlich ärgerlich, denn ich war gerade stolz auf meine eigene, schwarze, enge Nietenhose. Sonst verhielt ich mich in der Schule unauffällig. Ich bekam ganz gute Zensuren. Eine längere Zeit sang ich auch im Schulchor, manchmal auch als Solistin. Es blieb da natürlich nicht aus, dass auch Lieder gesungen wurden, welche die DDR verherrlichten. Das Fach Russisch bereitete mir gar keine Freude. Der Russischlehrer verstand es überhaupt nicht uns für das Fach zu interessieren. Während des Russischunterrichtes schrieb ich mit einem Jungen häufig Zettelchen, die wir austauschten. Wir schwärmten etwas für einander.

Mein Bruder Manuel wechselte nach der 8. Klasse auf ein Gymnasium, um dort das Abitur abzulegen. Auch er muss große Lücken im Fach Russisch gehabt haben, denn nach 10-jährigem Schulbesuch entschloss er sich von der Schule abzugehen und eine Lehre als Rundfunk- und Fernsehmechaniker zu beginnen. Er bastelte in seiner Freizeit schon immer gern, während ich sehr viel Zeit mit Ballspielen und mit anderen Kindern verbrachte. Der Abbruch des Gymnasiumbesuches meines Bruders, hatte auch für mich Folgen. Es wurde nicht mehr darüber gesprochen, ob ich vielleicht das Abitur ablegen sollte.

Im achten Schuljahr nahmen alle meine Mitschüler und ich an den Jugendstunden teil, um am 14.4.63 die Jugendweihe zu erhalten. Für uns Vierzehnjährigen bedeutete die Jugend-weihe, Abschied von der Kindheit zu nehmen und in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Man kleidete sich dazu festlich. Meine Eltern kauften mir ein schickes, rosafarbenes Kleid mit Paillettenstickerei und auch meine ersten Absatzschuhe. Der Festakt mit Reden, feierlicher Orchestermusik und dem sozialistischem Glaubensbekenntnis fand in einem Klubhaus statt. Das Gelöbnis, das wir ablegten, spielte eine geringe Rolle, entscheidend waren das Fest und die Geschenke von den Verwandten und Bekannten.

Nach der Jugendweihe wurde man von den Lehrern im Unterricht gesiezt.

Die allgemeine Bedeutung der Jugendweihe bestand vor 1933 darin, eine Feier von Atheisten und Konfessionslosen für ihre schulentlassenen Kinder zu gestalten. In der DDR hatte man 1955 diese feierliche Veranstaltung beim Übergang der Jugendlichen in das Leben der Erwachsenen eingeführt. Angeblich konnten alle Jugendlichen bei voller Glaubens- und Gewissensfreiheit daran teilnehmen. Ich habe es aber erlebt, wenn auch nicht bei meinen Klassenkameraden, dass Strenggläubige auf die Jugendweihe verzichteten (Pfarrerstochter). Das war aber die Ausnahme. Der Jugendweihe gingen Jugendstunden voraus, in denen Fragen des Lebens, der Natur und der Gesellschaft besprochen wurden.

Im Rahmen der Jugendstunden fuhren wir auch zur Gedenkstätte des Konzentrationslagers „Buchenwald“ bei Weimar. Ich war darüber entsetzt, wie in Deutschland die Gegner der nationalsozialistischen Diktatur in einem unmenschlichen KZ-System vernichtet worden waren. Man erzählte uns, dass in dem Zwangsarbeits- und Vernichtungslager Funktionäre und Mitglieder der Parteien und Organisationen der Arbeiterklasse gefangen gehalten wurden, aber auch Menschen, die aus rassischen oder religiösen Gründen verfolgt wurden, nach Kriegsausbruch besonders aus okkupierten Ländern.

Wir erfuhren, dass der Führer der KPD, Ernst Thälmann, nach elfjähriger Gefangenschaft 1944 bei einem Hofgang durch Genickschuss ermordet worden war.

Wir sahen das Krematorium des Konzentrationslagers und wir bekamen eine Vorstellung davon, wie bestialisch die SS ihre Opfer vernichtet hatte. Bilder zeigten Grausamkeiten an Menschen, aber auch die Berge von Haaren und Schuhen gaben darüber Auskunft, wie die Häftlinge „fabrikmäßig“ und geplant umgebracht wurden. Ich werde die Lampe des Lagerkommandanten Koch, die mit der tätowierten Haut eines Häftlings bespannt war, nie vergessen! Ein Hohn war dann noch die Beschriftung des Eingangstors „Arbeit macht frei“. Menschen in einem Steinbruch arbeiten zu lassen, bei einer Hungerration! Die Massenvernichtung war geplant durchgeführt wurden. 1944 bestanden über 28 Hauptlager mit 2 000 Außenlagern und Außenkommandos vor allem für die Rüstungsindustrie. Von etwa 18 Millionen KZ-Häftlingen fielen 11 Millionen dem faschistischen Terror zum Opfer.

Man erzählte uns auch etwas über die „Hölle“ von Auschwitz. Der Massenmord richtete sich vor allen gegen die Juden. Es war eines der berüchtigsten KZ`s, in dem die Qualen und das Grauen für die Gefangenen unbeschreiblich waren.

Mir wurde klar, dass der von Deutschland durch das Nazi-Regime begonnene 2.Weltkrieg mit der massenmörderischen Vernichtung von Menschen in den KZ`s ein furchtbares und einzigartiges Schandmal in der deutschen Geschichte darstellt.

Nun wurde aber die ganze faschistische Vergangenheit so hingestellt, dass die DDR-Bevölkerung ein besseres Deutschland aufbauen würde, und dass uns mit den faschistischen Gräueltaten nichts verbindet. Das half uns Jugendlichen sehr bei der Vergangenheitsbewältigung und bei der Distanzierung von dem verbrecherischen Nazi-Regime.

Am 19.Mai 63 wurden einige meiner Klassenkameraden und ich in der Evangelisch-Luthe-rischen Pfarrkirche meines Heimatortes konfirmiert. Der Pfarrer suchte für mich den Bibelspruch aus – „Christus spricht: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich“(Joh. 14/6).

In den Religionsstunden kamen mir jedoch Zweifel an der leiblichen Auferstehung Jesu und an einem Weiterleben nach dem Tode.

Ich beobachtete die Lebensführung meiner Eltern. Meine Mutter hatte sich ihren kindlichen Glauben an Gott bewahrt. Sie betete still zu Gott, vermied es aber aus Bequemlichkeit regelmäßig am Gottesdienst und am christlichen Leben der Kirchengemeinde teilzunehmen.

Mein Vater hingegen war der Auffassung, dass es keinen Gott gäbe. Er war durch kommunistische Auffassungen aufgeklärt worden, beispielweise von Marx, der „Die Aufhebung der Religion als illusorisches Glück“ forderte und die Religion als „das Opium des Volkes“ darstellte.

Ich habe also beide Feiern, die zur Jugendweihe und die zur Konfirmation, angenommen. Ich wollte daran teilnehmen, weil ich mir natürlich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte im Mittelpunkt zu stehen und Geschenke zu bekommen. Die Feier zur Jugendweihe fand in einem größeren Rahmen statt. Geschenke erhielt ich von Verwandten, aber auch von Nachbarn und Arbeitskollegen meines Vaters. Man schenkte auch Blumentöpfe mit Glückwunschkarten. Unter anderem auch Primeln, auf die meine Mutter allergisch mit einem Hautausschlag reagierte.

1963 wurden weitere Anschaffungen gemacht, wie eine Waschmaschine und unser „TRABANT“, finanziert durch das Westgeld, das meine Mutter nach dem Tod ihrer Lübecker Tanten geerbt hatte. Die Waschmaschine und unser Auto erhielten wir über eine GENEX- Katalogbestellung. Der halbe Ostpreis musste dann in Westgeld bezahlt werden.

Im Sommer 1963 besuchten uns Tante Bärbel und Kai mit ihrem dreijährigen Sohn Carl in Thüringen. Während des Aufenthaltes tat mir mein Vater leid, denn er wurde nun von meiner Mutter, ihrer Schwester Bärbel und Kai bedrängt, den christlichen Glauben anzunehmen. Mein Vater lehnte ab und wurde dann als überzeugter Kommunist hingestellt, was er trotz SED-Mitgliedschaft wiederum durchaus nicht war. Um seine Tätigkeit als Stellvertretender Schuldirektor zu halten, musste er Parteimitglied sein. Deshalb fand ich die Einstellung meiner Mutter falsch, wenn sie meinen Vater in Diskussionen von ihrem Glauben überzeugen wollte. Gerade meine Mutter genoss den Vorteil des reinen Hausfrauendaseins, was in der DDR ungewöhnlich war. Und das ermöglichte ihr mein Vater. Meine Mutter wurde nicht dem Druck in der DDR ausgesetzt, sich zum Arbeiter-und-Bauernstaat zu bekennen; somit war es für sie leicht sich der evangelischen Kirche nahe zu fühlen.

Als Vierzehnjährige lernte ich im Sommer meinen ersten Freund kennen. Mit einer Freundin spielte ich gerade Federball, als ihr Cousin Kurt auftauchte, der aus einer anderen Nachbarkreisstadt mit dem Motorrad angereist war. Er hatte schon eine Lehre bei der Deutschen Reichsbahn aufgenommen. Vom ersten Augenblick an verknallte sich Kurt in mich. Ich fand es ganz nett, angehimmelt zu werden, aber meine Gefühle ihm gegenüber waren nicht so überschwänglich. Unsere Freundschaft dauerte zwei Jahre. Wir besuchten uns gegenseitig und meine Mutter war begeistert davon, dass ich einen Verehrer hatte. Außer Küssen und Streicheln spielte sich zwischen uns nichts weiter ab. Schließlich drängte Kurt darauf, dass wir uns verloben sollten. Das war mir dann doch zu viel. Mit sechzehn Jahren wollte ich noch keine Bindung auf Dauer eingehen. Ich bemerkte auch Kurts rasende Eifersucht, weshalb ich auf einen Tanzstundenkurs mit meinen Klassenkameraden verzichtete. Als ich im Juli 1965 ins Ferienlager an die Ostsee fuhr, schrieb er mir täglich einen Brief, weil er befürchtete, ich könnte einen anderen Jungen kennenlernen. Ich fühlte mich eingeengt. An dem Tag, an dem ich vom Urlaub zurückkam, (Kurt empfing mich mit einem riesigen Rosenstrauß), gab ich ihm den Laufpass. Es musste ihn sehr getroffen haben, denn ich hörte später von ihm, dass er sich während der Rückfahrt auf dem Motorrad mit Selbstmordgedanken getragen hatte. Aber ich wollte frei sein, denn nach den Sommerferien begann meine Ausbildungszeit.

Ab dem 9.Schuljahr hatten wir Schüler die Möglichkeit regelmäßig bei Abendvorstellungen ins Theater zu gehen. Manche Stücke, wie zum Beispiel „Die Räuber“ von Schiller besprachen wir dann im Deutschunterricht.

Dagegen fanden Schülerkonzerte nachmittags statt und die allgemeine Unruhe war dementsprechend, was ich bedauerte.

Nach der Jugendweihe wurden wir Schüler von den Lehrern mit „Sie“ angesprochen. Daran mussten wir uns erst einmal gewöhnen. Es sollte uns dadurch verdeutlicht werden, dass wir in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen worden sind.

Auf meinen Zeugnissen der 9. Und 10.Klasse stand sinngemäß immer diese Beurteilung: „Durch Fleiß und zielstrebige Lernarbeit erreichte sie gute Ergebnisse. Sie ist offen, ehrlich und kameradschaftlich. Am gesellschaftlichen Leben nahm sie aktiv teil. Sie arbeitete mehrere Jahre in den unteren Klassen als Gruppenpionierleiterin. Außerdem war sie als FDJ-Sekretärin tätig.“

Für künftige Bewerbungen waren die letzten Sätze meiner Beurteilung von Vorteil, mit Ideologie hatte es kaum etwas zu tun.

Eigentlich wünschte ich mir einen Beruf, indem man kreativ tätig sein kann. Ohne dass mir jemand gezeigt hätte, wie man eine Nähmaschine bedient, schneiderte ich mir Kleider, Röcke und Blusen. Sollte ich den Beruf einer Schneiderin erlernen? Es gab dazu sogar eine Berufsausbildung mit Abitur im Vogtland. Später hätte ich dann auf dem Gebiet der Textilbranche studieren können. Sollte ich so weit von meinen Eltern weggehen? Mein Vater aber hatte nun seine Kolleginnen vor Augen, die genauso viel Geld verdienten wie er, und er riet mir deshalb zum Lehrerberuf. Da ich so die Aussicht hatte, dann schon mit 19 Jahren fertige Unterstufenlehrerin zu sein, versuchte ich diesen Weg. Das Institut für Lehrerbildung befand sich in der Stadt, in der Kurt wohnte, 20 km von meinem Heimatort entfernt. Bei der Aufnahmeprüfung waren über 300 Bewerber anwesend. Ein Drittel der Bewerber sollte aber nur genommen werden. Ich schaffte die Aufnahmeprüfung auf Anhieb, war aber trotzdem mit der Situation unzufrieden, weil mir die ganze Atmosphäre am Institut für Lehrerbildung nicht gefiel.

In der Zeit als ich meine Freundschaft mit Kurt hatte, verliebte sich mein Bruder Manuel in eine Pfarrerstochter, die mit ihren Eltern in das unserem Haus gegenüberliegende Gebäude eingezogen war. Sie hieß Angela. Die Pfarrersfrau war die Tochter einer vermögenden Fabrikantenwitwe, die in der BRD lebte. Durch diese westliche Unterstützung ging es der Pfarrersfamilie materiell sehr gut. Angela war ein Jahr jünger als ich und wir hatten bald Kontakt miteinander. Wir trafen uns häufig zum Kartenspielen und mein Bruder gesellte sich auch dazu. Bald befreundeten sich auch meine Mutter mit Angelas Mutter. Sie betonten immer, dass sie sich so gut wie zwei Schwestern verstünden. Die Pfarrersfamilie wurde auch zum Fernsehen bei uns eingeladen. Mein Vater versuchte dann eine gute Miene aufzusetzen, obwohl er von den Besuchen absolut nicht begeistert war, denn die ortsansässigen Mitbürger registrierten alles. Nun blieb die Liebe Manuels zu Angela anscheinend nicht nur platonisch. Die fünfzehnjährige Angela hatte sich ihrer Mutter anvertraut und es gab eine große Aussprache zwischen Manuel, meiner Mutter und Angelas Eltern. Seit diesem Gespräch trafen sich Angela und Manuel nicht mehr.

Zu diesem Zeitpunkt starb auch noch mein Großvater Oliver. Er litt längere Zeit an einem Leistenbruch, den er nicht rechtzeitig hatte operieren lassen. Bevor er starb, soll er laut kirchliche Lieder gesungen haben. Es war das erste Mal, dass ich einen Todesfall vor Ort erlebte. Meine Familie und ich sahen ihn auch auf seinem Totenbett. Das unangenehme Gefühl, dass ich beim Anblick der Leiche empfand, lässt sich schwer beschreiben. Zur Beerdigung kamen natürlich auch Onkel Willy, Tante Else und Cousin Jörg aus Jena. Jörg war inzwischen Student an einer Hochschule. Bei der Trauerfeier sprach der Pfarrer (Angelas Vater) die letzten Worte. Der Sarg wurde aus der Kapelle hinausgetragen. Wir standen alle am offenen Grab. Der Pfarrer richtete noch einmal tröstende Worte an die Angehörigen. Meine Großmutter Marlies und mein Onkel Willy warfen stillschweigend Erde auf den Sarg, in der Grube. Nun warf auch mein sonst so ruhiger Vater Erde auf den Sarg und rief dabei: „Von der Erde bist du endgültig genommen, und zur Erde kehrst du zurück“! Nicht nur ich war über seinen Ausbruch entsetzt. Diejenigen, die wirklich an die Auferstehung glaubten, fühlten sich von meinem Vater gewaltig vor den Kopf gestoßen. Wollte mein Vater mit diesen Worten dem Pfarrer und den Gemeindemitgliedern seine Weltanschauung offenbaren? Oder hatte er so an seinem Vater gehangen, dass er über seinen Tod besonders verbittert war? Ich fand seine Worte jedenfalls sehr befremdend.

Ich wurde nachdenklich. Steckte in den Worten meines Vaters, dass das Leben erkämpft und durchgestanden werden muss? Wurde mir am Grab klar, dass das Leben doch mühsam war und dass man jeden Tag leben soll, als nehme man bald Abschied von allem?

Nach dem Tod meines Großvaters trug sich mein Vater mit dem Gedanken, in sein Elternhaus zu seiner Mutter zu ziehen. Damit entfernte er sich auch aus der Nachbarschaft des Pfarrhauseshalts. Denn das Elternhaus befand sich am Ortseingang und nicht im Zentrum des Ortes, wie die derzeitige Schulwohnung. Ich war überhaupt nicht begeistert von dem Umzug, denn ich sollte nur eine Dachkammer als Zimmer bekommen, weil ich sowieso im Internat für Lehrerbildung wohnen und nur am Wochenende nach Hause kommen würde. Ich hatte auch Bedenken, wie sich meine Mutter mit ihrer Schwiegermutter verstehen würde, denn das Verhältnis zwischen den beiden war nicht das Beste. Trotzdem fand der Umzug schließlich statt.

Beruflich lief es für meinen Vater nicht so gut. Sein Vorgesetzter wurde zur Kaderabteilung des Kreises berufen und mein Vater hatte angenommen, dass er vom Stellvertretenden zum Direktor aufrücken würde. Man setzte ihm aber eine Staatsbürgerkundlehrerin als Chefin vor die Nase. Deshalb wechselte mein Vater an eine Sonderschule für Lernbehinderte. Dort wurde er dann nach einer Einarbeitungszeit Direktor.

Tante Bärbel schrieb meiner Mutter in einem Brief, dass beide, sie und meine Mutter, ein Wertpapier in DM ausgezahlt bekämen. Es reichte allerdings nicht für einen neuen TRABANT; aber meine Tante schickte uns einen OTTO-Katalog, in dem wir nach Herzenslust Kleidungsstücke aussuchten, die meine Tante dann beschaffte. In meinem jugendlichen Alter war ich jetzt auffallend modisch gekleidet.

In unserer Kleinstadt gab es eine Tanzbar. Sie war einmal eine Kommissionsgaststätte (mit Staatsbeteiligung) gewesen. Man munkelte von dem Besitzer, dass er bei einem Brand in den 50-er Jahren nachgeholfen hätte, um von der Versicherungssumme die Tanzbar neu zu bauen. Der korpulente Mann leitete zusammen mit seiner Frau die Bar sehr erfolgreich. Es spielte eine gute Tanzkapelle aus der Bezirkshauptstadt. Man renovierte auch jedes Jahr im Juli die gesamte Bar und ließ das Mobiliar von einem Dekorateur neu herrichten. Die Besitzer waren nicht einmal darauf angewiesen, Eintritt zu erheben, weil die Gäste von der gesamten Umgebung gerne die Tanzbar aufsuchten. Sonnabends und Sonntag hatte die Bar nachmittags geöffnet. Ich besuchte die Tanzgaststätte auch gern, trank aber häufig nur zwei Gläser Apfelsaft. Eine weitere Möglichkeit in unserem Ort auszugehen, war für uns das Jugendklubhaus. Dort gefiel es mir aber nicht so gut.

Kurz vor meinem Studienbeginn lernte ich Pierre in der Tanzbar kennen. Ich wunderte mich etwas über seine sehr kurzen Haare. Man hatte ihm den Kopf geschoren. Er war 4 Jahre älter als ich, arbeitete auf Montage und wirkte schon sehr Lebens erfahren. Bei unserer ersten Verabredung erzählte Pierre, dass er eine Weile in einer Strafanstalt zugebracht hatte, weil er als Grenzverletzer erwischt worden war. Er wollte zu seinem Bruder in die BRD gelangen. Hier in der DDR besaß er keine Eltern mehr, nur noch eine Schwester und eine Großmutter, die bettlägerig war und die er auch versorgte. Für das, was er durchgemacht hatte, konnte ich Pierre nicht verurteilen, aber trotzdem gab es zwischen uns Reibereien. Er warf mir meine Abhängigkeit von meinen Eltern vor und ich stritt mit ihm darüber, dass er so viel Alkohol trank.

Inzwischen war Kurt zur Armee einberufen worden. Er hatte sich für 3 Jahre freiwillig verpflichtet. Brieflich bat mich Kurt, ob er mir schreiben dürfte. Damit war ich einverstanden, aber ich machte ihm klar, dass wir uns nicht treffen würden. Kurt kannte Pierre und äußerte sich abfällig über ihn.

Im September 1965 begann mein erstes Studienjahr. Die Fachhochschule lagerte die Erststudenten aus. Wir waren 8 km von der Stadt untergebracht, in der Kurt und auch Pierre wohnten. Der Ort am Harz war sehr klein und man nutzte ein altes Gutshaus als Schlaf- und Speiseräume. Die Unterrichtsräume lagen in einem Neubau. Die Bedingungen empfand ich als kasernenähnlich. Ich war in einem 6-Bettzimmer untergebracht. Es enthielt 3 Doppelbetten, Schränke, einen großen Tisch und 6 Stühle. Waschen mussten wir uns in einem Waschraum. Unsere Internatsleiterin war ein echter Drachen. Sie teilte uns abends zum Schlüsseldienst ein; um 22 Uhr mussten alle Türen verriegelt sein. So bewachten wir Studenten uns gegenseitig. Die meisten der Studenten waren 16 Jahre alt. Einige Ältere hatten Abitur, eine abgeschlossene Berufsausbildung oder den Wehrdienst. In Ausnahmefällen konnten sie längeren Ausgang beantragen. Er musste genehmigt und im Ausgangsbuch eingetragen werden.

Der einzige Lichtblick war, dass Gudrun, eine Freundin aus einem Ferienlager, auch in meinem Zimmer untergebracht war.

Als wir einmal gerade beim Abendbrot im Essensaal waren, holte mich unsere Internatsleiterin in den Nebenraum. Es war dort ein Mann in Zivil, der mir seine Ausweismarke zeigte. Er war bestimmt von der Staatssicherheit. Ich war erschrocken. Er wollte von mir Angaben über Pierre erhalten, um ihm angeblich bei der Eingliederung in die Gesellschaft zu helfen.

Im Herbst wurden die Studenten unserer Fachhochschule nach Mecklenburg zum Kartoffeleinsatz abkommandiert. Während dieser Zeit schickte mir Pierre oft Briefe, in denen er mir schrieb, dass er mich sehr vermisse.

In den 8 Wochen meines Kartoffeleinsatzes zogen nun meine Eltern und Manuel in das Haus meiner Großmutter. Die Mieter der oberen Etage waren ausgezogen, so dass mein Vater die Gelegenheit zum Umzug nutzte. Nach meiner Rückkehr von Mecklenburg musste ich mich erst einmal an die neuen Gegebenheiten gewöhnen.

Da auch einige Abiturientinnen in unserem Studienjahrgang waren, hatten wir ganz schön zu tun, um mit ihnen Schritt zu halten. Besonders merkte ich meine Lücken im Fach Russisch. In den 6 Jahren Russisch-Unterricht, die vorausgegangen waren, hatten wir praktisch eine tote Sprache gelernt. Eine Kommunikation mit Russen war nicht erwünscht. Wir übten uns darin, pädagogische Fachtexte zu übersetzen. Unsere Dozentin war in Rußland geboren und sprach sehr schnell. Ich hatte Schwierigkeiten, sie zu verstehen.

Auch den Psychologiedozenten fand ich unsympathisch. Innerlich sträubte sich in mir alles, wenn er in seinen Kontrollarbeiten die Definition von Begriffen wörtlich verlangte. Und wenn ich im Fach Marxismus-Lenininsmus einmal nach meinem Gewissen die Frage beantwortet hätte: “Warum hat die Partei, die SED, immer recht?“ So wäre mit meiner Antwort mein Studium mit Sicherheit beendet gewesen. Damit wurde man zum Lügen gebracht.

Ich freute mich immer auf den Samstagmittag. Dann holte entweder Manuel Gudrun und mich mit dem TRABANT meiner Eltern ab oder Gudruns Vater mit seinem Dienstwagen. Er war Verwaltungsleiter eines Krankenhauses und ihre Mutter Schulsekretärin. Wenn Manuel uns beide abholte, suchte er sich noch eine Mitfahrerin aus, die ihm gefiel. Zuerst knüpfte Manuel zu Gerlind eine engere Beziehung. Dann trennten sie sich wieder. Auch zu Gudrun fühlte sich Manuel eine Zeit lang hingezogen.

Dann guckte sich Manuel Rike aus. Sie war die Beststudentin in unserem Studienjahrgang. Politisch war sie zum Glück nicht verbohrt, denn Rike stammte von einem Großbauernhof. Sie erzählte uns einmal, dass ihr Vater mit Zwang in die Kollektivierung zu einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft gepresst worden war. Man wollte Rike davon überzeugen, sich als Kandidat der SED aufstellen zu lassen. Ich fand es gut, dass sie dies konsequent ablehnte. Auch sie bewohnte unser Zimmer und lernte unaufhörlich. Meine übrigen Mitbewohnerinnen waren nicht so ehrgeizig und wir neckten Rike. Wir legten ihr zum Beispiel eine Kleiderbürste unter das Bettlaken, weil sie immer stöhnte, wenn abends das Licht ausgeschaltet wurde und wir dann noch schnatterten. Ich war überrascht, dass Manuels Wahl auf sie fiel.

Meine Beziehung zu Pierre wurde immer intensiver. Ich stellte Pierre meinen Eltern vor und sie waren einverstanden, wenn mich Pierre zu Hause besuchte. Nach meinem siebzehnten Lebensjahr hatte ich eine so enge Bindung zu ihm, dass ich mit ihm schlief. Doch im Februar1966 zankten wir uns dann wegen einer Belanglosigkeit (Bilder beim Fotografieren waren nichts geworden) und steigerten uns so, dass ich ihm eine Trennung vorschlug, was dann der Schluss unserer Beziehung war.

Nun konnte ich wieder ungebunden tanzen gehen. Oft hielt ich mich mit einer Nachbartochter oder mit Gudrun in der Tanzbar auf. Ich merkte nun eigentlich erst, wie begehrt ich war. Laufend machte ich neue Bekanntschaften, aber zum Geschlechtsverkehr ließ ich es nicht kommen. Mir genügte zu spüren, wenn die Männer gern so weit gegangen wären, ich aber ablehnen konnte.

Ich lernte einen Lehrer kennen, der gerade seine Tropentaulichkeitsprüfung in der Tasche hatte, um in Afrika zu unterrichten. Er holte mich einige Male mit dem Auto vom Institut für Lehrerbildung ab und wir fuhren in den Harz. Meine Eltern haben ihn nicht kennengelernt, weil ich das nicht für nötig hielt, da er ja sowieso für längere Zeit wegging. Aus diesem Grund brach ich auch den Kontakt mit ihm ab.

Einige Soldaten der NVA, die in meinem Heimatort stationiert waren, lernte ich auch kennen. Einen gebürtigen Berliner fand ich besonders nett, aber er war verheiratet. Wir trafen uns nur, um spazieren zu gehen. Ein anderer (Klaus) kam aus Leipzig. Er war ein Angeber. Es muss ihm anscheinend zu Kopf gestiegen sein, dass sein Vater eine politische Kariere machte und einen WOLGA fuhr. Er hätte gern unsere Bekanntschaft fortgesetzt, da er aber kein guter Tänzer war, hatte ich keine Lust dazu. Ich erhielt aber trotzdem noch längere Zeit Briefe von ihm.

Wenn ich über meine Jugend nachdenke, so komme ich zu folgender Erkenntnis:

Ich war jung, und junge Menschen kümmern sich mehr um sich selbst als um ihre nächsten; die Mitmenschen sind ihnen nur Mittel, sich ihrer selbst bewusst zu werden. Deshalb sind junge Menschen auch nicht so wählerisch in ihrem Umgang; er ist bei ihnen mehr eine Sache des Zufalls; sie nehmen eher sich bietende Gelegenheiten wahr, als dass sie selbst bewusst eine Wahl treffen.

An einem Frühlingsabend sollte ich aber ein unschönes Erlebnis haben. Nach dem Tanzen auf dem Nachhauseweg versuchte ein Soldat, der mich auf meinem langen Nachhauseweg begleitete, mich zu vergewaltigen. Plötzlich drückte er mich an eine Mauer und versuchte mich zum Geschlechtsverkehr zu zwingen. Ich wehrte ihn so ab, dass einige Knöpfe an seiner Uniform abrissen. Da er nichts erreichen konnte und er zu einer bestimmten Zeit in der Kaserne sein musste, gab er auf. Nun beschimpfte er mich noch, aber das nahm ich nicht weiter tragisch.

Meine Lust zum Tanzen zu gehen, wurde damit aber nicht gemindert. Nach diesem Vorfall achtete ich aber sehr darauf, mit wem ich nach Hause ging.

Ich war siebzehn, frei und ungebunden. Gudruns Eltern luden mich ein, die Sommerferien mit ihnen und Gudrun in einem Privatquartier an der Ostsee zu verbringen. Ich freute mich sehr darauf. Es wurde ein wunderschöner Urlaub. Das Haus befand sich in der Nähe eines herrlichen Strandes der Ostseeküste auf Usedom. Die Frau des Vermieters war in einer Bar tätig, in der sie uns auch Plätze freihielt. Gudrun und ich gingen oft tanzen, dorthin oder anderswo. Ich konnte mich vor Bewerbern nicht retten. Darunter waren ein bulgarischer Musiker, der in der Tanzkapelle spielte, ein ungarischer Medizinstudent und ein junger Arzt aus Jena. Dieser verschaffte mir einen Antrag für eine verbilligte Rückfahrt mit der Reichsbahn. Ich musste mich allerdings als medizinisch-technische Assistentin ausgeben. Der Jenaer Arzt war nur einige Tage auf dem Zeltplatz tätig. Er schrieb mir dann noch einen Brief, allerdings ohne Absender. Während unseres Urlaubsaufenthaltes in dem Ostseebad hatten wir herrliches Wetter. Da ich ein dunkler Typ bin, wurde ich schnell von der Sonne gebräunt. Und wenn man braungebrannt aus dem Urlaub nach Hause kommt, fiel man natürlich auf.

Nach meinem Ostseeurlaub bekamen meine Eltern in den Sommerferien Besuch von meinem Onkel Hein aus Bad Odesloe. Er war ein Cousin meines Vaters und etwa genauso alt wie er. Ich erweckte bei ihm anscheinend Jugendgefühle. Sehr oft schenkte er mir nun modische Kleidungsstücke und kleine Dinge. Mein Onkel war bei einer Hamburger Versicherungsanstalt tätig. Er verdiente sicher nicht allzu viel Geld, und trotzdem hatte er die Gabe, seine Mitmenschen mit Aufmerksamkeiten zu erfreuen. Er erzählte mir, dass er seine Frau oft mit kleinen Geschenken unter dem Kopfkissen überrascht hatte. Seine erste Frau hatte er aus Liebe geheiratet. Sie hatten eine gemeinsame Tochter. Seine Frau verstarb aber früh. Deshalb suchte er für sich und seine Tochter eine zweite Frau. Meinem Onkel machte es nichts aus, dass seine zweite Frau drei Kinder mit in die Ehe brachte. Doch bald stellte sich heraus, dass er mit seiner zweiten Frau laufend Unstimmigkeiten hatte. Deshalb reichte er die Scheidung ein. Da mein Onkel Anhänger kommunistischer Ideen war, gab er seine leibliche Tochter in ein Kinderheim in die DDR. Ich kann mir vorstellen, dass er damit bei dem Mädchen Konflikte verursacht hat. Mein Onkel Hein war immer ein sehr reiselustiger Mensch. Er reiste jahrelang gern in die DDR. Vielleicht auch deshalb, weil er durch seine kleinen Geschenke hier Anerkennung erhielt. Er besuchte oft seine Tochter, die inzwischen schon eine Familie besaß. Mein Onkel fuhr auch gern nach Jena. Er verstand sich recht gut mit meiner Tante Else. Auch kannte er ein Ehepaar in Leipzig, das er gern besuchte.

Mit diesem Onkel ging ich auch einmal tanzen. Er war kein guter Tänzer. Auf dem Nachhauseweg balancierte er auf dem Bürgersteig und wollte mir damit imponieren. Das Gegenteil war aber dann der Fall. Er stürzte hin und fiel so unglücklich, dass er seine Lippe verletzte und recht unschön aussah. Meinem Onkel war der Vorfall meinen Eltern gegenüber sehr peinlich, denn er fürchtete, dass man annehmen konnte, ich hätte ihn auf irgendeine Art abgewehrt. Diese Gedanken fand ich anfangs absurd. Doch als meine Großmutter Marlies, meine Eltern, Onkel Hein und ich gemeinsam an einem Abend eine Flasche Johannisbeerlikör tranken, änderte ich meine Meinung. Denn als wir alle zu Bett gegangen waren, kam mein Onkel in mein Zimmer und schlüpfte unter meine Bettdecke. Was sollte ich tun? Ich alberte so herum, dass er Angst bekam, mein Vater könnte uns hören. Da er mit mir in dieser Stimmung nichts anfangen konnte, verließ er bald mein Zimmer, ohne ans Ziel seiner Wünsche gekommen zu sein. Er setzte dennoch unsere Freundschaft fort. Er schrieb mir auch oft. Später erfuhr ich, dass unser Briefwechsel von der Staatssicherheit überwacht wurde.

Mit dem Herbst 1966 begann mein 2.Studienjahr. Mein Bruder Manuel war inzwischen zur Armee eingezogen worden. Das Abholen mit dem Auto hatte sich erübrigt, weil ich jetzt in dem eigentlichen Ort des Lehrerinstitutes studierte; von hier aus konnte ich ohne weiteres per Anhalter nach Hause kommen. Die Unterbringung im Internat war aber nicht besser. Im Gegenteil, wir waren jetzt 8 Studentinnen in einem Zimmer. Man kann sich bei dieser Situation vorstellen, dass ich es da oft vorzog, per Anhalter nach Hause zu fahren. Allerdings fuhr mich dann immer mein Vater frühmorgens mit dem Auto zu unserem Studienort zurück.

Nun fing auch unser Praktikum an. Ich sollte von einer erfahrenen Mentorin angeleitet werden, die in einer Dorfschule unterrichtete. Gudruns Mutter, die Schulsekretärin war, hatte gleich mit einer ausgezeichneten Lehrerin an ihrer Schule gesprochen, so dass Gudrun das Praktikum bei ihr absolvieren konnte. Da ich die Vorstellung hatte, dass es in einer 2. Klasse am günstigsten wäre zu unterrichten und ich keine Lust hatte, die Praktikumstage auf einem Dorf zu verbringen, bat ich meinen Vater mit einer Kollegin zu sprechen, die mich als Praktikantin könnte. Das war wohl eine falsche Entscheidung, denn meiner Mentorin fehlten einige Fertigkeiten, obwohl sie schon einige Jahre unterrichtete. Mein Abschluss im Praktikum war nicht so gut wie Gudruns. Außerdem musste ich mit den Schülern einige psychologische Befragungen durchführen und gezielte Maßnahmen einsetzen, um eine Partnerwahl innerhalb der Klassengemeinschaft auszuwerten. Darüber schrieb ich dann meine wissenschaftliche Hausarbeit, die später mit „gut“ bewertet wurde.

Am Wochenende ging ich aber nach wie vor zum Tanzen. Ich lernte auch einige junge Männer kennen, die gern näher mit mir in Kontakt gekommen wären. Aber davon hielt ich nicht viel. Beim Tanzen machte ich die Bekanntschaft mit einem angehenden Zahnarzt. Er besuchte gerade seinen Vater, der praktischer Arzt in unserem Heimatort war. Knut lebte in Berlin, war verheiratet, hatte zwei kleine Kinder, führte aber eine unglückliche Ehe. Da er nicht so groß war wie ich, kam er sowieso nicht für mich in Frage, aber wir führten einen regen Briefwechsel.

Während der Wintermonate machten Gudrun und ich im Hallenbad unseres Studienortes den Rettungsschwimmerschein.

Das 2. Studienjahr war überstanden. Es nahten wieder die Sommerferien. Gudruns Eltern fuhren wie jeden Sommer zu ihren Privatvermietern an die Ostsee. Ich durfte wieder mitfahren und freute mich schon auf den Aufenthalt auf Usedom. Gudrun hatte sich um einen Einsatz als Rettungsschwimmer in einem kleinen Badeort auf der Insel Rügen bemüht. Sie wollte wohl auch einmal ohne ihre Eltern die Ostseeküste erleben. Sie war schon vorher losgefahren und wollte dann später in den anderen Ort zu ihren Eltern kommen. Es stellte sich aber heraus, dass Gudrun ihre Absicht geändert hatte und noch länger als Rettungsschwimmerin tätig sein wollte. Um zu erfahren, was los war, fuhr ich per Anhalter von der Insel Usedom zu Gudrun auf Rügen. Sie handelte dort auch eine Rettungsschwimmerstelle für mich aus und wir bekamen so unseren Ostseeaufenthalt finanziert. Unsere Aufgabe bestand vorwiegend darin, die Luft- und Wassertemperatur zu messen und Badegäste darauf aufmerksam zu machen, dass es verboten sei eine Luftmatratze zu benutzen. (Es war wohl wirklich einigen Badenden die Flucht aus der DDR mit einer Luftmatratze geglückt!) Gudrun und ich schliefen in einem muffigen alten Fischerhaus, aber das nahmen wir in Kauf. In dem Ort gab es auch junge Männer, mit denen wir etwas unternahmen, aber sie waren nicht so interessant wie die, die ich im vorigen Sommer kennengelernt hatte.

Welche Vorstellung hatte ich eigentlich von einem Mann, den ich lieben könnte? Er sollte intelligent, groß und äußerlich ansprechend sein.

Es begann mein 3.Studienjahr. An einem Septemberabend im Jahre 1967 lernte ich meinen späteren Ehemann Hanno in meinem Heimatort in der schon erwähnten Tanzbar kennen. Er absolvierte mit einigen anderen Kommilitonen einer Technischen Hochschule ein Praktikum im Kaliforschungsinstitut. Er war etwa so groß wie ich. Nach dem Tanzen brachte er mich nach Hause, ohne dass er versuchte mir einen Kuss zu geben. Von der Bekanntschaft war ich nicht sonderlich beeindruckt, aber ging trotzdem zu unserem für zwei Tage später verabredeten Treffen. Wer nicht erschien war Hanno! Dass mich einer versetzte, war mir noch nicht passiert. Also ging ich ziemlich ärgerlich nach Hause. Nach einer Woche, ich befand mich aber gerade im Internat, klopfte Hanno mit einem Stockschirm an das Küchenfenster unseres Hauses. Meine Mutter guckte neugierig hinaus und sah Hanno mit seiner Baskenmütze, der auf sie wie ein „Kirmesbursche“ wirkte. Beide verabredeten nun ein neues Treffen mit mir. Es blieb aber nicht nur bei dieser Verabredung, sondern wir trafen uns nun öfters, um ins Kino oder zum Tanzen zu gehen. An einem Abend im Oktober aß Hanno bei uns Abendbrot, bevor wir etwas unternahmen. Von der harmonischen Atmosphäre in unserer Familie war er beeindruckt.

Anfang November war Hannos Praktikum beendet und er wohnte nun hauptsächlich im Internat der Hochschule in halle. Von dort aus schrieb er mir einen Brief mit der Frage, wann wir uns wiedersehen könnten und dass er mir das Weiterentwickeln unserer Beziehung überlassen würde. Darüber war ich leicht verärgert und ich schrieb einen entsprechend kessen Brief zurück, in dem ich ein Passbild einlegte. Nun erhielt ich wieder einen Brief, der mich befremdete. Hanno hatte auch ein Passbild von sich in den Antwortbrief hineingelegt mit dem Kommentar: “Da du nun mal sammelst, habe ich dir diesmal auch ein Passbild von mir eingelegt. Ich gucke Dich so an, wie es als Reaktion auf Dein Bild zu erwarten gewesen wäre“. Auch seine Zweideutigkeiten, hinsichtlich eines Besuches von mir in seinem Studienort in Bezug auf das Schlafen, irritierten mich. Ein Arbeitskollege meines Bruders hatte eine Freundin, die auch an der Technischen Hochschule in Merseburg studierte. Da der Arbeitskollege seine Freundin an einem Wochenende im Dezember besuchen wollte, machte es ihm nichts aus, mich in seinem Auto mitzunehmen. Hanno hatte zwar geschrieben, dass er sich um ein Gästezimmer für mich bemühen wolle, aber da seine drei Mitstudenten am Wochenende nach Hause gefahren waren, erübrigte sich die Bestellung eines Zimmers für mich. Ich war erstaunt, dass ich so ohne Weiteres im Internat bei Hanno übernachten konnte. Was war das immer noch für ein Theater mit dem Schlüsseldienst in unserem Internat. Ich hatte wohl nicht in Betracht gezogen, dass ich es bei Hanno mit einem 23-jährigen jungen Mann zu tun hatte. Er nutzte meine Lage aus und so kam es zwischen Hanno und mir zum Geschlechtsverkehr. Später erzählte er mir, dass er - genauso wie ich - schon einmal mit einer Bekannten ein intimes Verhältnis gehabt hatte. Ich merkte, dass Hanno unerfahren war, was ich aber nicht als negativ empfand. Allerdings versetzte er mich in Aufregung, dass ich eventuell schwanger werden könnte. Er schlug mir kurz nach dem Geschlechtsverkehr vor, im Nebenzimmer eine Essigspülung vorzunehmen! Er bereitete dazu eine Schüssel mit Essigwasser vor und verließ den Raum. Ich hielt das für Quatsch und plätscherte etwas mit dem Wasser herum, damit er beruhigt war.

Nach diesem Wochenende erhielt ich von Hanno einen sentimentalen Brief, in dem er mir schrieb, dass er kein leichtfertiger Mensch sei. Als ich ihm mitteilen konnte, dass meine Periode pünktlich gekommen war, schrieb er mir in einem weiteren Brief, dass er nichts dagegen hätte, wenn ich an den Wochenenden, an den wir uns nicht treffen könnten, zum Tanzen ginge. Was ich auch tat. Ich lernte zu dem Zeitpunkt einen zwei Jahre älteren großen Jungen aus einem anderen Ort kennen, der mir auch gefiel. Ihm und auch Hanno erzählte ich von der Existenz des anderen. Ich entschied mich dann aber doch für Hanno. Noch vor Weihnachten besuchte er mich. Da er keine Unterkunft hatte, übernachtete er in meinem Elternhaus, was unsere Beziehung fester werden ließ. Hanno schrieb mir jetzt nette Liebesbriefe.

Weihnachten und Silvester feierte jeder in seinem Heimatort. Ich feierte mit einigen Mädchen Silvester im Jugendklubhaus. Dort war ich an dem Abend die absolute Favoritin. Um 12 Uhr wünschten mir sehr viele Jugendliche ein frohes neues Jahr und benutzten die Glückwünsche für einen Kuss. Sogar einige Kapellenmitglieder, die genau meine Musik-richtung spielten, küssten mich. Sie hatten ja immer genügend Zeit beim Musizieren die Tanzenden zu beobachten. Ich freute mich über jeden Beatle-Titel, den die Kapelle spielte. (Die Musiker hielten sich auch nicht an die vorgegebene Quote von DDR-Melodien). Silvester 1968 war für mich ein herrlicher Höhepunkt. War es so etwas wie ein Abschied vom ungebundenen Dasein?

Auch in der Politik sollten Veränderungen eintreten. Während der DDR- Ministerratsvorsitzende Stoph 1967/68 in einem Briefwechsel mit dem Bundeskanzler Kiesinger noch den Versuch unternommen hatte, mit der Bundesrepublik zu einem gegenseitigen Abkommen und damit zur Anerkennung der DDR als gleichberechtigter deutscher Staat zu gelangen, wurde nun die Abgrenzung gegenüber dem westdeutschen Staat vorangetrieben. Am 20. Februar 1967 erließ die DDR-Regierung das „Gesetz über die Staatsbürgerschaft der DDR“, mit dem entgegen der Position der Bundesregierung, dass es nur eine einheitliche deutsche Staatsbürgerschaft gäbe, vollendete Tatsachen geschaffen wurden. Nur ein Jahr später gab sich die DDR eine neue Verfassung: Der ostdeutsche Staat bezeichnete sich hier als „sozialistischen Staat deutscher Nation“, in dem „unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch- leninistischen Partei“ der Sozialismus verwirklicht werde.

Mitte Januar feierte Hanno seinen 24.Geburtstag. Am 20. Januar 1968 sollte ich meinen Antrittsbesuch bei meiner zukünftigen Schwiegermutter machen. Hannos Mutter arbeitete als Industriekauffrau in einer Schuhfabrik. Sie hatte dort die ganze Buchhaltung zu führen. Später lernte ich ihre Zuverlässigkeit und Korrektheit schätzen. Ihr Mann war im Krieg vermisst. Sie hatte zuletzt einen Brief aus Stalingrad von ihm erhalten. Sie und Hanno wohnten in einer 2-Zimmerwohnung in einer Kreisstadt im nördlichen Vorharz. Ich fuhr mit dem Bus einige Stunden durch den Harz, um sie zu besuchen. Da Hanno von Halle mit dem Zug anreiste und über eine Stunde später als ich eintraf, hatte er mir brieflich mitgeteilt, wie viele Stationen ich mit der Straßenbahn zu fahren hätte, um zu seinem Zuhause zu gelangen. Seine Mutter, eine kleine Frau, erwartete mich schon. Ich war der erste Damenbesuch, den Hanno seiner Mutter präsentierte. Wir waren beide ziemlich verlegen. Nachdem sie mich in der Wohnung begrüßt und ein kurzes Gespräch mit mir geführt hatte, verschwand sie für eine längere Zeit in der Küche. Die Atmosphäre wurde erst gelöster, als Hanno auftauchte. An diesem Wochenende lernte ich auch Hannos Freund kennen, der später nach seinem Studium in Berlin lebte. An meine Existenz musste sich Hannos Mutter erst einmal gewöhnen.

Zwischen ihr und Hanno gab es häufig Auseinandersetzungen. Er warf ihr vor, dass seine Kindheit nicht harmonisch verlaufen war. Hanno war ein Einzelkind.

Seine Mutter hatte während der Schwangerschaft herausgefunden, dass ihr Ehemann sie mit einer anderen Frau betrog. Deshalb sagte sie oft Hanno gegenüber: “Ach hätte ich doch lieber Holz gehackt, als schwanger zu werden!“ Sie lebte während ihrer Schwangerschaft in einer Kleinstadt in Sachsen noch im Haushalt ihrer schon recht betagten Eltern. Sie hatte auch einen Bruder, der einige Jahre älter war als sie. Die Großmutter Hannos riet ihrer Tochter nicht zur Scheidung, denn sie meinte, vielleicht käme Hannos Vater gar nicht aus Stalingrad zurück, was dann auch der Fall war. Es gab nie eine Bestätigung seines Todes. Er war Ingenieur gewesen und seine Eltern betrieben in einem Dorf am Harz eine Schmiede. Um das Erbteil unter Kontrolle zu halten, zog Hannos Mutter mit ihrem Sohn in das Wohnhaus der Schmiede. Sehr viele Verwandte väterlicherseits waren während des Krieges in dem Haushalt schon aufgenommen worden. Hannos Mutter suchte sich Arbeit im Büro der erwähnten Schuhfabrik. Sie benutzte den Bus, für die 3 Kilometer Fahrt zur Arbeit. Als Hanno sechs Jahre alt war, verbrühte er sich in der Küche mit heißem Wasser den Oberkörper und erlitt starke Verbrennungen. Das nahm seine Mutter zum Anlass, ihn nach seiner Genesung in ein Kinderheim zu geben. Sie verstand es, ihm zu erklären, dass es eine Notwendigkeit wäre und dass sie trotzdem eine sehr verantwortungsvolle Mutter sei. Sie holte aber ihren Jungen nicht regelmäßig am Wochenende nach Hause. Hanno hat darunter sehr gelitten. Er fühlte sich im Kinderheim nicht wohl, aber auch der Kontakt zu den Spielkameraden im Dorf riss ab. Als die Großeltern gestorben waren, wurde das Schmiedegrundstück verkauft und Hannos Mutter zog in eine kleine Stadtwohnung.

Hanno und ich hatten nun Kompromisse einzugehen, um die Liebe mit dem Studium in Einklang zu bringen. Dies gelang wohl Hanno nicht sehr gut, denn ich lenkte ihn von seinem Studium ab. Wenn ich Hanno längere Zeit nicht sah, schrieb er mir immer nette Liebesbriefe. Umso entsetzter war ich über einen Brief, den er spontan nach einem schlechten Studienergebnis geschrieben haben musste. Der Brief hatte zum Inhalt, dass ich ihn nur vom Studium abhalten würde. Meine Reaktion darauf war, dass ich Hanno am 29. März 1968 bei einem Besuch bei mir erklärte, dass es besser für uns wäre, uns zu trennen. Meine Entscheidung bereute ich dann allerdings und fuhr Karfreitag per Anhalter zu Hannos Studienort, wo wir uns dann doch wieder versöhnten. Das nahende Osterfest verbrachte jeder in seinem Familienkreis.

Nach Ostern erhielten wir einen kurzen Besuch von meiner Tante Bärbel. Sie war der Meinung, dass ich unbedingt die Verbindung zu Hanno aufrecht erhalten solle, da er später ja Diplomchemiker sein würde. Sie erzählte auch von ihren Töchtern. Maja war inzwischen Kindergärtnerin und Corinna studierte (genauso wie ich), um Grundschul-lehrerin zu werden.

Am 20.4.1968 verlobten sich mein Bruder und Rike in ihrem Heimatdorf. Manuel war noch bei der Armee und musste dazu Urlaub beantragen. An der Verlobungsfeier nahm Hanno nicht teil, weil er angeblich an dem Sonnabend bei einem Seminar sein musste. Er schickte aber eine Glückwunschkarte und beauftragte einen „Fleurop-Blumendienst“ zur Übersendung eines Blumenstraußes. Er schien sich noch von meiner Familie fernhalten zu wollen.

In der DDR verfolgte man die 68-er Bewegung in der BRD mit großem Interesse. Die Westlinken träumten von einer Revolution, bewirkten aber wenigstens eine gesellschaftliche Reform. Anfangs imponierte mir die Respektlosigkeit, die frechen Diskussionen im Westfernsehen, das Aufmüpfige meiner Altersgenossen, indem sie zum Beispiel ein Spruchband „Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren“ in der Öffentlichkeit zeigten. Als dann allerdings Molotow- Cocktails flogen und die „Rote Armee Fraktion“ auftauchte, konnte ich diese Bewegung nicht mehr gut heißen.

In der DDR wäre man schon über eine Reform des Sozialismus glücklich gewesen. Die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ unter dem liberalen Regierungschefs Alexander Dubcek, der eine Abschaffung der Zensur, eine Trennung von Partei und Staat sowie die Errichtung einer „sogenannten Marktwirtschaft“ vorsah, zerstörten für mich Hoffnungen. Die spätere Selbstverbrennung des Studenten Jan Palach auf dem Wenzelsplatz in Prag war für mich erschütternd. Man hatte sich vom „Prager Frühling“ einen Aufbruch nach Westen erhofft und die Tolerierung von langen Haaren, Jeans, Beat- und Rockmusik und der gleichen. Ich wünschte mir sehr eine offene Atmosphäre, in der man seine Meinung frei äußern konnte. Durch die Zerschlagung des „Prager Frühlings“ durch sowjetischen Panzertruppen, aber auch NVA-Soldaten aus der DDR, wurde man wieder in die Realität versetzt, dass man in einer Diktatur lebte, in einem Staat der von einer Mauer, Stacheldraht, Wachtürmen und Todesstreifen umgeben war. Ich war enttäuscht, dass es einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz nicht geben könnte.

Im Juli 1968 bestand ich die staatliche Abschlussprüfung als Unterstufenlehrerin mit „gut“. Am 1.September 1968 begann ich meine Tätigkeit als Lehrerin in der 2.Klasse einer Polytechnischen Oberschule in einem kleinen Dorf etwa 20 km von meinem Heimatort entfernt. Da die Busverbindung sehr schlecht war, kaufte ich mir ein Moped. Meine Großmutter Marlies lieh mir das Geld dafür, das ich ihr dann von meinem Gehalt zurückzahlte. Mein Anfangsgehalt war sehr gering. Als Studentin hatte ich etwas über 100 M Stipendium im Monat, und von meinen Eltern erhielt ich noch 100 M dazu. Nun betrug mein Gehalt etwa 450 M. Davon bekamen meine Eltern monatlich 100 M Kostgeld, 100 M zahlte ich an meine Großmutter für das Moped ab und dann fielen noch die Fahrtkosten an. Also stand ich finanziell nicht gut da.

Hanno glaubte aber, dass ich ihn beim Ausgehen freihalten könne, da ich ja schon Geld verdiente. Er besaß aber ein Sparbuch, mit über zweitausend Mark, die er vom Verkauf des schon erwähnten Schmiedegrundstückes von seiner Mutter erhalten hatte.

Damit einige Lehrer auf dem Dorf sesshaft werden sollten, gab es einen staatlichen Wohnungszuschuss für Landlehrer. Ich nahm mir also dort ein Zimmer zur Untermiete, um dieses Geld zu erhalten. Das Zimmer nutzte ich aber nur sehr selten.

Meine Tätigkeit mit den Dorfkindern gefiel mir. Ich bereitete mich auch sehr sorgfältig auf meinen Unterricht vor. Als Lehrer war man verpflichtet, sich politisch zu schulen. Das geschah einmal im Monat im sogenannten „Parteilehrjahr“. Ich hasste es, daran teilzunehmen. 1968 sollten wir beispielweise Stellung zu den Geschehnissen des „Prager Frühlings“ beziehen. Solche Veranstaltungen arteten in meinen Augen immer in Heuchelei aus. Wenn ich nicht dazu aufgefordert wurde, meine Meinung zu sagen, schwieg ich. Als ich später einmal in meine Kaderakte Einblick erhielt, hatte man mein „Bewusstsein“ als nicht gefestigt eingestuft. Wenn wir in den Wintermonaten nachmittags Versammlungen hatten, fuhr ich per Anhalter nach Hause. In dieser verlassenen Gegend erschienen aber nur wenig Autos auf den Straßen. Deshalb meldete ich mich bei der Fahrschule an.

Hanno war jetzt mit seinen Abschlussprüfungen und seiner Diplomarbeit in Anspruch genommen, aber war dennoch oft bei mir.

Am 5.April 1969 besuchte uns Hannos Mutter zum ersten Mal in meinem Elternhaus. Im Mai 1969 feierten wir zu Pfingsten unsere Verlobung, obwohl mein Onkel Hein von einer Verbindung zwischen Hanno und mir abgeraten hatte. Er sollte mit seiner Meinung recht behalten.

Im November 1969 erhielt Hanno sein Zeugnis als Diplomchemiker und wurde im Kaliforschungsinstitut meines Heimatortes angestellt. Er nahm sich ein Zimmer zur Untermiete. Das Weihnachtsfest verbrachten wir bei Hannos Mutter. Obwohl sie sich mit den Geschenken große Mühe gegeben hatte, war ich froh, als ich wieder abfahren konnte. Ich hatte mit Hanno nicht abgesprochen, dass wir auch noch Silvester bei seiner Mutter bleiben sollten. Einen diesbezüglichen Wortwechsel mit Hanno nahm ich zum Anlass, zu meinen Eltern zu fahren. Hanno feierte nun den Jahreswechsel bei seiner Mutter und ich mit meinen Eltern, Manuel und Rike.

Es sollte zwischen Hanno und mir noch zu weiteren Auseinandersetzungen kommen.

Als wir uns z.B. im Februar 1970 eine Modenschau ansahen und anschließend unsere Mäntel an der Garderobe abholen wollten, fand ich nicht gleich die Garderobenmarke. Hanno beschimpfte mich, wie „doof“ ich sei. Sogar die Garderobiere regte sich über Hannos Worte auf. Beim Nachhauseweg war unsere Stimmung dementsprechend schlecht.

Nach einigen Tagen erhielt ich von Hanno einen kurzen Brief, in dem er sich zwar nicht entschuldigte, mich aber zu seinem Betriebsfasching einlud. Ich bereitete mich auf die Faschingsfeier mit einem „Hippie“-Kostüm vor. Das bestand aus einer schwarzen Nabelhose, einem kurzem Oberteil, einer riesigen Brille, die mit Blumen verziert war und einigen Ketten. Hanno kam in Frack und Zylinder. Der Fasching verlief recht nett. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter hatten für diesen Abend eine witzige „Bierzeitung“ herausgegeben.

Am 14.Januar 1970 heirateten Rike und Manuel. Rike war im dritten Monat schwanger. Es wurde eine große Feier ausgerichtet. An der standesamtlichen Zeremonie nahmen nur die engsten Familienmitglieder teil. Zur anschließenden kirchlichen Trauung erschienen viele Gäste aus Rikes Dorf. Die Trauung nahm noch Angelas Vater vor. Die Hochzeitsfeier fand in einem großen Raum einer gepflegten Gaststätte statt. Es gab Musik, so dass man tanzen konnte. Aber an diesem Abend verstand ich mich mit Hanno überhaupt nicht, und wir gingen schon um 22 Uhr, jeder zu seiner Unterkunft. Da ich nicht schlafen konnte, nahm ich unseren Pudel und besuchte Hanno mitten in der Nacht in seinem Untermietezimmer, und wir versöhnten uns wieder. Als meine Eltern von der Hochzeitsfeier nach Hause kamen und mich mit dem Hund vermissten, bekamen sie einen Schrecken. Deshalb suchten sie in ihrem nicht mehr nüchternem Zustand Hanno auf, um sich nach mir zu erkundigen. Beruhigt nahmen sie unseren Hund mit nach Hause. Noch in den Winterferien fuhren Hanno und ich in den Thüringer Wald zum Skilaufen. Wir hatten herrliches Wetter und der Wintersport machte uns Spaß. Vom 3.März bis 25.Juni 70 nahmen Hanno und ich an der Kreisvolkshochschule an einem Lehrgang für Maschineschreiben für Anfänger teil. Als wir die Teilnehmerbestätigungen des Lehrgangs erhielten, freute ich mich, dass ich mit einer besseren Note als Hanno abgeschnitten hatte. Im Frühjahr gab es wieder Krach. Konnten wir Hannos „Untermieterdasein“ und mein Wohnen bei meinen Eltern nicht miteinander in Einklang bringen? Oder passten wir einfach nicht zusammen?

Im Juni1970 erhielt Hanno eine Einraumwohnung in einem Hochhaus mit Fernheizung.

Wende mit 40

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