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KINDHEIT

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Da mein Vater in Jena studierte, sahen sich meine Eltern nur am Wochenende. Dennoch war die Liebe zwischen ihnen nicht erloschen und meine Mutter wurde mit mir schwanger. Nicht zur Freude meiner Großeltern! Meine Großmutter soll, als meine Mutter mit Wehen ins Krankenhaus ging, ihr nachgerufen haben: „Nur eins kannst du gut – Kinder in die Welt setzen!“. Ich wurde im November 1948 geboren. Meine Mutter freute sich über ein Mädchen. Leider wurde meine Mutter kurz nach meiner Geburt wieder schwanger. Dieses Mal blieb ihr nichts anders als eine Abtreibung übrig. Obwohl ihr der Arzt dazu geraten und den Eingriff selbst vorgenommen hatte, konnte sie sich nur schwer damit abfinden und litt noch lange darunter.

Am gleichen Tag als ich geboren wurde, bekam auch Tante Bärbel ihr zweites Kind. Es war wieder ein Mädchen und wurde auf den Namen Corinna getauft. Wer also etwas von Astrologie hält, wird sicher Parallelen im Leben meiner Cousine und meinem entdecken können.

In den westlichen Besatzungszonen Deutschlands trat am 24.Mai 1949 das vom Parlamentarischen Rat ausgearbeitete Grundgesetz in Kraft. Ein demokratischer Staat mit Gewaltenteilung, verbrieften Menschenrechten und geheimen Wahlrecht entstand. Am 15. September 1949 wurde Konrad Adenauer zum ersten Bundeskanzler der „Bundesrepublik Deutschland“ gewählt. Noch im selben Jahr wurde am 7.Oktober die „Deutsche Demokratische Republik“ in der sowjetischen Besatzungszone geschaffen. Die DDR verstand sich als sozialistisches Land und erster deutscher Arbeiter-und-Bauern-Staat. Damit gab es zwei deutsche Staaten.

1950 schloss mein Vater das Pädagogikstudium ab. Er erhielt in seinem Heimatort eine Anstellung als Lehrer. Bald darauf bekamen meine Eltern eine Dienstwohnung im Obergeschoß des Hauptschulgebäudes. Diese Wohnung mussten meine Eltern sich allerdings mit einem weiteren Ehepaar mit Kindern teilen. Zwei Jahre später, mein Vater war inzwischen stellvertretender Schulleiter geworden, erhielt unsere Familie dann eine große Wohnung im oberen Stockwerk eines kleineren Schulgebäudes. Das Haus war außen mit Schiefer verkleidet. Es gab einen Schulhof, der von jüngeren Schülern genutzt wurde. Birken säumten den Schulhof. An die Rückseite des Schulgebäudes grenzte ein Kirchengrundstück mit einem verwilderten Garten.

Ich habe eine schöne Kindheit verlebt. Meine Mutter war nicht berufstätig und konnte dadurch sehr viel Zeit mit uns Kindern verbringen. Manchmal hatte man den Eindruck, als wäre meine Mutter selbst noch Kind geblieben, wenn sie beispielweise mit uns in der Wohnung „Verstecken“ spielte und mithalf, dass sich eins der Kinder etwa im Kleiderschrank verbarg und das andere suchen musste. Meine Mutter sprach immer von Nestwärme, die sie ihren Kindern geben wollte. Oft saßen mein Bruder und ich mit meiner Mutter in der Küche und sie erzählte uns von dem schönen Hamburger Grundstück, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte, vom christlichen Glauben oder von einem Film, den sie am Abend im Fernsehen gesehen hatte. Als ich neun Jahre alt war, klärte meine Mutter meinen Bruder Manuel und mich über sexuelle Dinge auf. Mein dreieinhalb Jahre älterer Bruder war an diesem Thema mehr interessiert als ich. Seit dieser Zeit betrachtete er mich mit anderen Augen.

In unserem Haushalt wurden verschiedene Tiere gehalten. Es gab Katzen, Wellensittiche und Hunde. Ein Stammbaumhund, ein schwarzer Kleinpudel; den wir „Ellen“ nannten, war mir besonders ans Herz gewachsen. Trotz Impfung bekam er die Infektionskrankheit „Staupe“. Ich fühlte mich dann auch gleich elend, als ich sah, wie sich das Tier quälte. Nach mehreren Tagen erholte sich unsere „Ellen“ und es wurde mir wieder möglich, mit dem lieben Tier lange Spaziergänge zu unternehmen.

Meine Mutter konnte nicht besonders gut mit Geld umgehen. Der monatliche Verdienst meines Vaters als Lehrer war für eine vierköpfige Familie sehr knapp und gegen Ende des Monats freute man sich auf den „Geldtag“, um wieder richtig einkaufen zu können.

Geldknappheit war auch in anderen DDR-Haushalten zu spüren. Unmut über die katastrophale ökonomische Situation machte sich allmählich bemerkbar, besonders in den Städten Ost-Berlin, Leipzig, Magdeburg und Jena.

Dagegen zeichnete sich in Westdeutschland das sogenannte Wirtschaftswunder ab. Die Wirtschaft erholte sich dort nach dem Krieg erstaunlich schnell: Die Währungsreform von 1948, der in vollem Gang befindliche Wiederaufbau der Städte und der Industrie und die im Rahmen des Marshallplans geleisteten Wirtschaftshilfen an die Bundesrepublik führten zu einem anhaltenden Wirtschaftswachstum. Zwischen 1953 und 1960 war eine Steigerung des Bruttosozialprodukts um immerhin 61% zu verzeichnen. Als „Vater“ des deutschen Wirtschaftswunders prägte Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard mit seinem Konzept der sozialen Marktwirtschaft den Aufschwung der jungen Republik.

Ganz anders entwickelten sich die Verhältnisse in der DDR.

Viele Jahre später erfuhr ich von einer älteren Kollegin, die Vertrauen zu mir gefasst hatte, ihre Erlebnisse vom 17.Juni 1953. Sie studierte zu diesem Zeitpunkt Pädagogik an der Humboldt- Universität in Berlin. Sie erlebte als junge Frau den größten Militäreinsatz in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals waren fast 500 000 sowjetische Soldaten in der DDR stationiert, ein großer Teil davon (13 Divisionen) kam zum Einsatz. In Berlin fuhren 600 Panzer auf; und 20 000 sowjetische Soldaten waren präsent. Allein durch die psychische Wirkung der rollenden Panzer wurden die Straßen frei geräumt. Die Bevölkerung hatte Angst. Der Seminarleiter meiner Kollegin sagte ihr:„Packen sie so schnell es geht ihre Sachen und fahren sie nach Hause. Man kann die Lage überhaupt nicht einschätzen; sie sind dann wenigstens in Sicherheit“.

Welche Ereignisse fanden im Jahre 1953 statt?

Am 5. März 1953 starb der Diktator Josef Stalin, der für die Verschleppung und den Tod von Millionen von Menschen in der Sowjetunion verantwortlich war. Von ihm hatte Walter Ulbricht seinen Regierungsstil als Zuchtmeister die Dressur des Volkes übernommen. Die „Sowjetisierung“ setzte ein.

Am 20. April 1953 wurde von der Regierung der DDR eine Preiserhöhung für Lebensmittel angeordnet.

Am 13./14. Mai empfahl das SED-Zentralkomitee eine Erhöhung der Arbeitsnorm um 10 Prozent.

Vom 27.Mai 1953 bis Anfang Juni kam es in ersten Industriebetrieben zu Streiks.

Am 3./4. Juni 1953 forderte deshalb die neue sowjetische Führung in Moskau die (einbestellte) DDR-Spitze auf, den Wechsel zu einer gewissen Liberalisierung vorzunehmen.

Am 9. Juni 1953 beschloss daraufhin das SED-Politbüro den von Moskau verlangten „Neuen Kurs“ einzuleiten. Dies bedeutete die Rücknahme von Verschärfungen.

Am 16.Juni 1953 gab schließlich der Ministerrat die Aufhebung des Beschlusses zur Normerhöhung bekannt. Zu spät, denn Berliner Bauarbeiter legten bereits die Arbeit nieder. Ebenfalls an diesem Tag bat eine Ostberliner Delegation im Büro des Rundfunksenders „Rias“ in Westberlin bei der Verbreitung der Streikaufrufe zu helfen. Eine Forderung war: “Der Spitzbart muss weg!“ Der Rias-Chefredakteur Egon Bahr zögerte erst, dann aber berichtete der „Rias“ über Rundfunk von den Ereignissen. Damit ist der 17.Juni 1953 in der DDR erst durch den „Rias“ wirksam geworden - obwohl das von Bahr gar nicht gewollt war.

Am 17.Juni 1953 hatte der Aufstand die ganze DDR erfasst. Über eine Millionen Menschen beteiligten sich. Nun spielten sich dramatische Szenen ab: Panzer rollten, Pflastersteine flogen, Schüsse fielen, Menschen flüchteten.

Am 18.Juni 1953 ließen die Sowjets in allen Zentren des Aufstandes willkürlich gegriffene Demonstranten, Aufständische und Streikführer erschießen. Es wurden mindestens 13 000 Menschen festgenommen, von den Straßen wegverhaftet. Mindestens 1 600 Streikführer oder Sprecher der Arbeiter wurden verurteilt, davon 2 zum Tode, 3 lebenslang, 13 mit bis zu 15 Jahren Zuchthaus. Auch später noch wurden rund 2 500 Menschen verhaftet. Das war die strafrechtliche Rache der SED. Walter Ulbricht hatte nichts gelernt. In seinen Augen hatten seine Untergebenen alles falsch gemacht, hatten die befohlene Normerhöhung für die Arbeiter den Betroffenen nicht schlüssig genug erläutert, hatten die Verschlechterung der Lage nicht eindeutig genug dem „Klassenfeind“ angelastet! Die SED bezeichnete nun den 17.Juni als „Tag X“, vom Westen ferngesteuert. Faschistische Provokateure aus Westberlin hätten die Bauarbeiter aufgehetzt. Die DDR-Regierung wollte nichts von der Forderung nach freien und geheimen Wahlen wissen, denn dann hätte eine schnelle Wiedervereinigung stattgefunden.

Woran war der Aufstand nun gescheitert?

Es war zu wenig Zeit, als dass sich eine wirklich anerkannte Führung des Aufstandes hätte bilden können. Es gab wohl Sprecher, die auch Forderungskataloge zum Sturz der Diktatur formulierten, doch die Führenden konnten sich in den wenigen Tagen nicht profilieren oder nur hinreichend verständlich machen. Meist besaßen sie nicht einmal Lautsprecher. Ein Manko dieses Aufstandes war es auch, dass sich die Intellektuellen abseits hielten.

Am 4.August 1953 beschloss man in der Bundesrepublik den 17. Juni als Feiertag zu begehen. Zu der Zeit war ich gerade 4 Jahre alt. Später wirkte auf mich der Tag der Deutschen Einheit sehr unglaubwürdig. Man verhandelte mit der SED, machte mit der DDR Geschäfte – und einmal im Jahr feierte man den Aufstand gegen eben diese DDR.

Die Unzufriedenheit mit dem DDR-System hatte auch meine Eltern erfasst. Deshalb entschlossen sie sich Anfang der 50-er Jahre nach Hamburg zurückzukehren. Sie erhofften sich vorübergehend von Tante Bärbel, die noch in Hamburg wohnte, aufgenommen zu werden. In den Sommerferien fuhren wir mit gepackten Koffern zu ihr. Auch die Federbetten waren mitgenommen worden. Mein Vater fand aber nicht sofort eine Anstellung als Lehrer. Unter diesen Umständen war meine Tante Bärbel nicht damit einverstanden, ihre Schwester mit Familie bei sich bei sich wohnen zu lassen, obwohl ihr Ehemann Hans sich mittlerweile in Amerika aufhielt. Er hatte durch das Max-Planck-Institut die Möglichkeit erhalten, in den USA zu arbeiten. Nach Kriegsende war meine Mutter bereit gewesen, ihre Schwester mit Kind und dann ihren Schwager Hans in der kleinen Wohnung aufzunehmen. Umgekehrt verweigerte uns nun Tante Bärbel die kurzfristige Unterbringung bei sich. Sie begründete die Ablehnung damit, dass ihr Mann das nicht wünschen würde, obwohl er sich gar nicht in Deutschland aufhielt.

Wenn man Rundfunksendungen aus dem Westen hörte, hätte man aus den Reden von Konrad Adenauer (dem damaligen Bundeskanzler), die weitere Politik in Deutschland heraushören können.

Adenauer war nicht gegen die Wiedervereinigung eingestellt. Aber er ging den Weg, Westdeutschland möglichst schnell und fest an Amerika und damit an den Westen zu binden. Damit wurde die Frage nach der Wiedervereinigung zunächst offen gelassen. Er hat nicht mit dem Osten verhandelt, sondern Tatsachen geschaffen.

Mit dem Aufbau der Bundeswehr (anfangs mit der Verpflichtung von Freiwilligen) im November 1955 war dann das Verhandeln überflüssig geworden. Durch das Gesetz vom 21.7.1956 wurde die allgemeine Wehrpflicht in der BRD eingeführt.

Durch den Eintritt in ein Militärbündnis der NATO waren die Wege zur Wiedervereinigung abgeschnitten.

Die DDR zog nach. Die Nationale Volksarmee, NVA, wurde 1956 durch die Umbildung aus der kasernierten Volkspolizei geschaffen. Die allgemeine Wehrpflicht gab es dann seit dem 24.1.1962. Die gesamte NVA unterstand dem Vereinigten Kommando der Streitkräfte des Warschauer Vertrages.

So entfernten sich die beiden deutschen Teile mehr und mehr von einander.

Mein Vater hatte sich nun für den Osten entschieden; aber mit dem Bau einer Mauer hat man wohl doch nicht gerechnet. Er passte sich den Verhältnissen in der DDR an und war inzwischen SED-Mitglied geworden.

Meine Mutter war nicht mittellos. Sie besaß ein Grundstück in Hamburg-Rahlstedt, dass sie für mehrere tausend DM verkaufte. Trotzdem entschlossen sich meine Eltern in Thüringen zu bleiben. Der Tauschsatz zwischen Ost- und West-Mark war für meine Eltern sehr günstig. Manchmal erhielt man das Vierfache in Ost-Mark und mehr. Als gerade mal Sechsjährige bekam ich davon einiges mit. Ich wurde von meiner Mutter dazu angehalten, nichts darüber zu erzählen. Dadurch verband ich mit der DDR für mich eine gewisse Bedrohlichkeit. Von diesem umgetauschten Geld richteten sich meine Eltern ihre Wohnung ein. Wir besaßen für DDR-Verhältnisse eine sehr große Wohnung. Im Wohnzimmer befanden sich eine vom Polsterer angefertigte Couchgarnitur, ein rechteckiger Tisch mit einer dunkelroten Keramikplatte, eine Liege, ein großer Bücherschrank, eine Vitrine, ein Klavier und ein ausziehbarer Esstisch mit Stühlen. Der eiserne Ofen wurde bald durch einen Kachelofen ersetzt, den mein Vater für seine Dienstwohnung ohne Kosten beantragen konnte. Es wurde auch die Küche verkleinert und ein Badezimmer installiert. Auch das Tapezieren der Räume war kostenlos. Mein Kinderzimmer war mindestens 16 Quadratmeter groß und das Zimmer meines Bruders war noch größer. Wie üblich war die Miete sehr gering. Auch ein Fernsehapparat wurde angeschafft. Fernsehgeräte waren in der DDR Mangelware. Das Gerät wurde von einem Fernsehmonteur gebaut und auch gleich mit einem Schalter versehen, der bei Betätigung ein gestörtes Westbild hervorrufen konnte. Man spürte die kommunistische Diktatur und hasste die Reden von Walter Ulbricht. Schon als Kind merkte man, dass man nicht alles erzählen durfte und dass es am besten war sich unauffällig zu verhalten. Ich entwickelte so langsam die Fähigkeit, genau zu überlegen, mit wem ich über das Westfernsehen reden konnte.

Am 1.September 1955 wurde ich eingeschult. Ich war ganz stolz auf meine Schultüte. Da wir in der oberen Etage der kleinen Schule wohnten, brauchte ich zum Unterricht nur die Treppe herunter zu gehen. Am Ende der meisten Schuljahre bekam ich sinngemäß folgende Beurteilung: „Chris ist eine ruhige und freundliche Schülerin. Bei ihren Mitschülern ist sie infolge ihres kameradschaftlichen Verhaltens sehr beliebt. Ihre schriftlichen Arbeiten fertigt sie stets sauber und gewissenhaft an“. Dabei gab ich mir bei der Heftführung gar keine besondere Mühe. Die Schularbeiten erledigte ich meist gleich nach dem Mittagessen und schaute dabei gleichzeitig Testsendungen im Fernsehen. Im DDR-Fernsehen sendete man um diese Zeit oft alte Ufa-Filme.

In der 4. und 5.Klasse ging ich nachmittags auch zum Klavierunterricht. Dazu musste ich einen längeren Weg durch die Stadt zurücklegen. Als ich dann etwas älter wurde, hörte ich mit der Musikerziehung auf, weil ich mir wenig Zeit zum Üben nahm. Ich spielte lieber mit meinen Freundinnen im Freien.

Trotz der erwähnten Zurückweisung besuchte meine Mutter ihre Schwester jeden Sommer. Meist nahm meine Mutter nur eins ihrer Kinder mit, entweder meinen Bruder oder mich.

Die politische Lage in der DDR hatte sich unter Ulbricht zugespitzt, so dass es mein Vater für klüger hielt, nicht in den Westen zu reisen.

Auch in Ungarn waren die Menschen unzufrieden und erhoben sich 1956 in einem Volksaufstand, um einen demokratischen Sozialismus aufzubauen. Man forderte freie Wahlen, Abschaffung der Zensur, Freilassung der politischen Gefangenen, ein Mehrparteiensystem, Bruch mit den Stalinisten und politische und wirtschaftliche Annäherung an den Westen. Obwohl die Mehrheit der ungarischen Nation auf der Seite der Aufständischen war, wurde der Volksaufstand niedergeschlagen.

Im November 1956 fanden schwere Kämpfe statt. Das Schutzbündnis der Sowjetunion über ihre Satellitenstaaten funktionierte. Der Warschauer Pakt, (der am 14. Mai 1955 unterzeichnet worden war), zeigte nun deutlich, dass keiner der Staaten im sowjetischen Machtbereich frei entscheiden konnte.

Unterhielten sich meine Eltern über diese Problematik? Sprach meine Mutter mit ihrer Schwester darüber?

Ich kann mich noch daran erinnern, dass Tante Bärbel einmal ganz stolz auf die freie Meinungsäußerung in der BRD war. Sie meinte, dass man auf der Straße laut „Heil Hitler!“ rufen könne, ohne dass dann etwas passieren würde. Als Kind konnte ich das natürlich nicht richtig werten. Mit der Freiheit war es aber in der BRD auch so eine Sache, denn man verbot am 17.August 1956 die „Kommunistische Partei Deutschlands“. Die für verfassungswidrig erklärte Organisation wurde aufgelöst.

Obwohl Tante Bärbel einen Besuch im kommunistischen Teil Deutschlands immer abgelehnt hatte, besuchte sie uns im Sommer 1957 zusammen mit ihren beiden Töchtern. Sie äußerte bei dieser Gelegenheit, dass es meinen Eltern ja materiell nicht schlechter ginge als ihr selbst im Westen.

Bärbels Ehemann hatte in Amerika auch andere Frauen kennengelernt. Besonders geschmacklos war jedoch, dass er seiner Frau getragene Kleidungsstücke von seinen Geliebten schickte. Es war kein Wunder, dass sich meine Tante nun für einen ehemaligen Arbeitskollegen ihres Mannes interessierte. Er hieß Kai. Sie mochten sich schon seit langem, doch Bärbel hatte zwei kleine Kinder, und ihr Ehemann Hans hatte nicht die Absicht sich von seiner Frau zu trennen. Deshalb heiratete Kai seine Sekretärin und aus dieser Verbindung heraus entsprang auch ein Sohn. Die Situation in der Ehe von Bärbel und ihrem Hans wurde immer unerträglicher. Hans ging Liebschaften ein und kümmerte sich wenig um seine Töchter, er war ja immer noch in den USA tätig. Bärbel ließ sich nun ihrerseits von Hans scheiden und auch Kai trennte sich von seiner Frau mit dem Kind. In ihren Briefen an meine Mutter berichtete Bärbel nun von ihrer großen Liebe. Bärbel und Kai heirateten. In dieser Ehe bekam Bärbel mit 39 Jahren einen gesunden Sohn. Kai übernahm gegenüber beiden Stieftöchtern die Erziehungspflichten. Die Mädchen nannten ihn liebevoll „Daddy“. Kai war auch Physiker mit Doktortitel. Wegen seiner Arbeit zog die fünfköpfige Familie nach Süddeutschland.

Dort besuchten meine Mutter und ich 1960 noch einmal Tante Bärbel. In diesem Urlaub himmelten wir Cousinen die Schlagersänger Conny Froboess und Peter Kraus an.

1961 hatten wir geplant, dass ich zuerst ins Ferienlager fahren sollte und anschließend mit meiner Mutter Tante Bärbel und meine Cousinen Maja und Corinna in Süddeutschland besuchen sollte. Aber es kam alles anders. Die DDR riegelte am 13.August 1961 ihre Westgrenzen sowie die Sektorengrenze in Berlin ab, um die steigenden Fluchttendenzen zu stoppen und das „Ausbluten“ der DDR nun endgültig zu verhindern. Wenige Tage später begann der Bau der Berliner Mauer an der Grenze der Westsektoren zum Ostsektor. Natürlich bekam meine Mutter eine Absage von der Behörde für ihre Reise nach Süddeutschland. Sie konnte das absolut nicht verstehen und protestierte dagegen auf ihre Weise, indem sie dem Behördenangestellten einen „Vogel“ zeigte und ihn temperamentvoll beschimpfte. Zum Glück kannte der Angestellte meinen Vater recht gut, so dass das Verhalten meiner Mutter keine weiteren Folgen hatte. Meine Mutter war nun sehr traurig darüber, ihre Schwester nicht mehr besuchen zu können. Es entwickelte sich nun zwischen Beiden ein reger Briefwechsel. Manchmal stand meine Mutter am Fenster und beklagte sich über Atemnot. Sie erklärte mir, dass sie am liebsten die Thüringer Berge wegschieben würde, um in ihr flaches Norddeutschland zu gelangen. Dieses „beengte“ Gefühl übertrug sich auf uns Kinder, und wir fühlten uns in der DDR eingesperrt.

Wende mit 40

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