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Unerwünschte Verpflichtungen 1022

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Draußen fiel eine wahre Sintflut vom Himmel herab. Das Wasser gurgelte über das Dach und platschte dann in einem dicken Strahl aus dem Wasserspeier an den sechs Ecken ihres Pavillons. Sirit zog fröstelnd den Schal enger um ihren Oberkörper. Mit jeder Regenzeit schien es schlimmer zu werden. Mehr Regen, dazu eine klamme, nasse Kühle, die schlimmer war als jede Winterkälte in den Bergen. Ihre Gelenke schmerzten, ihre Narben zogen und ihre Augen stachen. Sie seufzte. Es war nicht einfach, älter zu werden. Einen Moment wanderten ihre Gedanken zurück zu ihrer Mutter. Die hatte in Sirits Alter deutlich jünger gewirkt. Wie hatte Mirsken das bloß gemacht?

Sirit lauschte wieder auf den Regen. Dachte daran, dass das, was hier als Wasser herunterkam, in den Bergen als Schnee fiel. Es würde sehr viel Schnee geben. Und das, wo ohnehin schon so viel lag, wie sie gehört hatte. Ideale Voraussetzungen für die Frostgeister.

Botschafter Timpko war noch nicht zurückgekehrt. Hielt ihn der Schnee dort oben fest? Oder … Schlimmeres? Sirit fürchtete um ihre Heimat. Ob es richtig gewesen war, dass sie den politisch unerfahrenen Patta als König vorgeschlagen hatte? Aber Patta war ein Praktiker. Wenn er ein Problem sah, analysierte er es und versuchte dann, es zu lösen. So jemanden brauchte Tolor jetzt. Nein, es war richtig gewesen. es musste richtig gewesen sein.

Ihre Gedanken wanderten zu ihrem letzten Kind. Drachenbrut. Grau.

Würde dieser Drachenherr aussehen wie sein Vater? Oder würde er auch etwas von ihr haben?

Vermutlich würde sie es nie erfahren. Sie kam nicht weg von hier, und der junge Drachenherr würde ganz sicher nicht nach Sawateenatari kommen. Er wurde zu dringend in den Bergen gebraucht. Abgesehen davon war Sirit sich keineswegs sicher, wie Grau bei einer Begegnung reagieren würde. Immerhin hatte sie ihn als Larve in den Bergen ausgesetzt.

Sirit seufzte erneut. Wo bloß Inagoro blieb? Er hatte angekündigt, dass er etwas mit ihr besprechen wollte.

Sie rückte ein wenig dichter an das Kohlebecken und lauschte weiter auf den Regen.

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Endlich tauchte ihr Sohn hinten in dem überdachten Gang auf. Schnellen Schrittes näherte er sich ihrem Pavillon. Sirit zwang sich zu einem freundlichen Lächeln.

Inagoro kannte sie gut genug, um sie zu durchschauen. „Hast du schlimme Schmerzen, Mutter?“ Ungefragt setzte er sich auf den Schemel ihr gegenüber und sah sie an.

Es gab Sirit einen Stich, wie immer, wenn sie die Mehme-Nase sah, die Ähnlichkeit, die er mit Tolioro hatte. Wie immer versuchte sie, stattdessen seinen Großvater Kanata in ihm zu erkennen. Oft gelang es ihr. Aber nicht immer. Auch Tolioro hatte seinem Vater sehr ähnlich gesehen.

„Es ist das Wetter. Du weißt doch, dass mir der Regen nicht bekommt.“

Inagoro zuckte mit den Schultern. „Wir brauchen ihn. Ohne Regen gibt es keine Ernte.“

Sirit nickte stumm.

Inagoros Finger trommelten auf das Holz des Schemels. Überrascht stellt Sirit fest, dass ihr Sohn nervös war. Was, bei der Göttin, gab es Wichtiges, das er sich nicht traute, ihr zu erzählen? „Gibt es Neues aus den Bergen?“, fragte sie beklommen.

„Nein, nichts.“

Inagoro wirkte irgendwie geistesabwesend.

„Aus Tolor?“

„Da scheinen sie mit den Frostgeistern klarzukommen. Haben wohl jetzt ausreichend Zauberer-Unterstützung.“

Soviel hatten Botschafter Timpkos Briefe ihr bereits angedeutet.

„Was ist es dann, was dich so bedrückt?“

„Ich bin seit der Sonnenwende König.“ Inagoro sah überall hin, bloß nicht zu ihr. „Der Thronrat will, dass ich umgehend heirate. Sie sagen, die Erbfolge muss sichergestellt werden.“

Sirit hätte um ein Haar aufgelacht. Das war es also, was ihren sonst so mutigen Sohn so verschreckte. Die Aussicht, dass er eine Königin bekommen würde. Und in der Folge Kinder, natürlich. „Wen haben sie dir denn vorgeschlagen?“

Inagoro hob den Kopf und sah sie endlich wieder an. „Da wir durch mich jetzt ohnehin Zaubererblut auf dem Thron haben, sind eine Menge Restriktionen weggefallen. Jetzt sind praktisch alle Adelshäuser mit im Spiel.“

„Und?“

„Sie haben mir Ketere vorgeschlagen. Die Familie hat mindestens vier Töchter, die für mich infrage kämen. Oder Phukai. Die Enkelin des Herzogs ist zwar erst elf, aber mir wurde versichert, dass die Frauen der Phukai früh fruchtbar werden.“

Sirit zog zischend die Luft ein. Das roch zehn Tagesritte gegen den Wind nach Schwierigkeiten. Die Ketere waren durch Heiraten mit Herzog Komato verbunden. Und damit mit Mauro, der seinerzeit so plötzlich verstorben war, und der über seine väterliche Linie einen zwar schwachen, aber unbestreitbaren Thronanspruch gehabt hatte. Sirit spürte noch immer, wie ihr Blut kochte, wenn sie nur an Mauro dachte. Jemand aus dieser Familie mit freiem Zugang zu Inagoro? Dann würde sie keine ruhige Nacht mehr haben.

Phukai war auch nicht viel besser. Skadene, der alte Herzog, hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er mehr Macht wollte. Und mehr Land. Am besten in Narkassia, an das Phukai angrenzte. Wenn Inagoro eine Frau aus dieser Familie bekam, dann konnte Skadene in aller Ruhe einen Krieg vom Zaun brechen. Egal, wie berechtigt oder unberechtigt dieser Krieg war, Inagoro würde dem Großvater seiner Gemahlin Waffenhilfe nicht verweigern können. Ihr Sohn wusste das so gut wie sie.

„Dir ist so klar wie mir, Mutter, dass ich die Vorschläge des Thronrates nicht einfach ablehnen kann. Ich müsste schon einen verdammt guten Grund dafür haben. Und den habe ich leider nicht.“

„Lass mich überlegen.“

Sirit starrte in die Flammen des Kohlebeckens. Der Regen prasselte noch immer. In der Ferne hörte sie Donnergrollen. Hätten die Götter nicht noch etwas warten können, bevor sie ihr neue Steine in den Lebensweg legten?

Moment mal. Genau das war doch die Lösung!

„Ich habe auch keinen Rat anzubieten. Aber vielleicht jemand anderes. Diejenige, die bereits bei deiner Krönung eingegriffen hat.“

Inagoro zuckte zusammen. „Die Priesterin? Warum sollte sie?“

„Weil“, sagte Sirit sanft, „ganz offensichtlich den Götter von Anfang an etwas an dir gelegen war.“

*

Sirit betrat den Tempel der Flussgöttin mit sehr gemischten Gefühlen. Hier hatte sie mit ihrem Kind Zuflucht gefunden, damals. Ganz geheuer war er ihr deswegen trotzdem nicht.

Die Priesterin stand mitten im Tempel, als ob sie Sirit erwartet hatte, und breitete einladend die Hände aus. „Willkommen im Haus der Flussgöttin, Tochter der Drachenberge.“

Sirit neigte zum Gruß den Kopf. „Ich danke dir für das Willkommen. Es scheint, du hast mich bereits erwartet?“

Die Priesterin lächelte. „Diene ich nicht derjenigen, die durch die Zeiten sieht?“

Sirit lief es kalt über den Rücken. Die Priesterin hatte soeben ihren Verdacht bestätigt. Sie und Inagoro waren nichts weiter als Figuren in einem Spiel, dessen Dimensionen sie nicht einmal ahnen konnte. Aber Göttin oder nicht, Sirit war nicht bereit, sich einfach als Figur gebrauchen zu lassen. Und ihren Sohn schon gar nicht. „Dann weißt du auch, warum ich gekommen bin.“

Die Priesterin lächelte noch breiter. „Du suchst eine passende Frau für deinen Sohn.“

„Solltest du eine kennen? Oder muss ich fragen, ob die Göttin eine bestimmte Kandidatin befürwortet?“

„Ist das nicht dasselbe?“

Sirit antwortete nicht.

Das Lächeln verschwand vom Gesicht der Priesterin. „Komm mit mir, Tochter der Drachenberge. Wir werden uns ein wenig unterhalten müssen.“

Die Gemächer der Priesterin hatten sich nicht verändert. Was das anging, hatte sich auch die Priesterin nicht verändert, trotz der Jahre, die seitdem vergangen waren und die schwer auf Sirit lasteten. Warum war ihr das nicht schon früher aufgefallen?

Sirit beantwortete sich diese Frage selbst. Weil sie wenig mit den Priestern zu tun hatte, und sie nur selten den öffentlichen Zeremonien beiwohnte. Es gab eine weitere Bevölkerungsgruppe, die ähnlich alterlos war. Die Zauberer. Aber die Priester waren keine Zauberer. Oder etwa doch?

Die Priesterin ließ ihr Zeit.

Ihre Augen. Das Geschenk einer Zauberin. Sirit fiel ein, dass die Priesterin nie auch nur im Geringsten vor ihren Spiegelaugen zurückgeschreckt war.

„Welches Interesse haben die Tempel an der zukünftigen Frau meines Sohnes?“, fragte sie bedächtig.

„Keines. Die Frau interessiert uns nicht. Im Grunde interessiert uns auch dein Sohn nicht.“

„Aber ...?“

„Die Generation, die nach ihm kommt. Eine Generation, die nirgendwo in Karapak überleben wird, wenn das Blut der Drachenberge nicht wieder den Thron beherrscht.“

„Das kannst du auch einfacher sagen. Entweder ein Zaubererkönig kommt auf den Thron, oder Karapak wird ausgelöscht.“

Die Priesterin lächelte schmallippig. „Meine Version klingt besser.“

Dieser Tempel war der Flussgöttin geweiht. Und die Flussgöttin sah den Zeitenstrom. Die Priesterin hatte damals auch gewusst, was Sirit viele Monde später brauchen würde, um Inagoros Anspruch auf den Thron zu beweisen. „Du hast die Zukunft gesehen.“

„Eine Zukunft von vielen möglichen.“

„Reicht es nicht, dass bereits mein Sohn Zaubererblut hat?“

„Das Drachenblut fließt nur als winziges Rinnsal in Inagoro. Er braucht die passende Frau, dass es in seinen Nachkommen zu einem Strom wird, der Karapak tragen kann.“

„Wen schlagen die Tempel also vor?“

„Nur dieser Tempel. Die anderen sähen es lieber, wenn der Palast schwach bliebe. Aber sie sehen nicht, was ich sehe, und sie wissen es. Sie werden mich nicht unterstützen, aber sie werden sich auch nicht gegen den Rat meiner Göttin stellen. Ich schlage vor, dein Sohn sucht sich seine Frau in den Grauen Schluchten.“

Sirit zuckte zusammen. „Das ist nicht dein Ernst! Die Vorschläge des Thronrates waren schlecht. Aber deiner ist tödlich.“

„Nicht für Inagoro. Auch für dich nicht. Nur für die Frau, die dein Sohn in sein Bett holen wird.“

Sirit holte zittrig Luft. „Und du … bist sicher? Ganz sicher? Es gibt keine andere Möglichkeit?“

Die Priesterin beugte sich vor und legte Sirit zwei Finger auf die Stirn. Ihre Finger waren kalt wie das Flusswasser der Berge. Um sie herum waberte die Luft. „Es gibt tausend andere Möglichkeiten, Tochter der Drachenberge. Aber bei jeder dieser anderen Möglichkeiten stirbt entweder dein Sohn sehr bald, oder Karapak wird vernichtet, oder beides.“

Einen Moment rebellierte Sirits tolorisches Herz. Was wäre schon dabei, wenn die Feinde ihres Heimatlandes vom Antlitz der Welt verschwänden? Aber dann fiel ihr Rainas herzliche Umarmung ein. Und Taephes Lächeln, wenn sie wieder etwas ausgeheckt hatte und glaubte, ihre Ziehmutter hätte es nicht gemerkt. Und … und Inagoro, der ihr, nachdem sie ihm von den Bergen erzählt hatte, Berge an die Wand ihres Schlafzimmers gemalt hatte. Unbeholfene Berge, von einem Sechsjährigen gemalt, der in seinem ganzen Leben noch keinen richtigen Berg gesehen hatte.

Dieses Spiel musste sie mitspielen.

Sie sah die Priesterin mit festem Blick an. „Dann sei es, wie du sagt. Eine Frau aus den Grauen Schluchten. Allerdings befürchte ich, um das durchzusetzen, wird die Priesterschaft sich offen äußern müssen. Denn mich wird der Thronrat in dieser Entscheidung ganz sicher nicht hören wollen.”

Die Priesterin lächelte. „Gibt es irgendeinen Mann im Thronrat, der sich dem Orakel der Flussgöttin widersetzen würde?”

Sirit lächelte zurück, trotz jener Ahnung in ihr, die von bösen Folgen schrie. „Vermutlich nicht.”

*

Es gab in der Tat keinen, auch wenn mehr als ein Mitglied des Thronrates aussah, als ob es dem Schlaganfall nahe war. Selbst von ihrem Beobachtungsplatz oben auf der versteckten Galerie konnte Sirit genau sehen, wie die Männer die Lippen zusammenkniffen und die Fäuste ballten, wie sie, je nach Gemütslage, rot anliefen oder blass wurden, als die Priesterin im Namen der Göttin ihre Empfehlung gab.

Ausgerechnet die Grauen Schluchten! Das Land am Meer von Narkassia. Ein Land, das nur nominell zu Karapak gehörte. In dem, allen Berichten nach, die hinterlistigsten Halsabschneider den Abschaum des Reiches um sich gesammelt hatten. Ein Land, das in erster Linie von der Seeräuberei lebte. Und ein Land, dessen Fürsten dem Haus Mehme seit zwei Generationen Blutfehde geschworen hatten.

Keine Frage, die Grauen Schluchten würden einem offiziellen Antrag des Thronrates nachkommen und dem Haus Mehme eine Prinzessin liefern. Immerhin gehörten sie nach Recht und Gesetz zum Reich. Aber Inagoro würde von da ab gut daran tun, niemals wieder im Sommerharem zu schlafen, dort weder zu essen noch zu trinken und seine Gattin vor jedem Beischlaf nach versteckten Waffen zu durchsuchen.

Sirit war sich nicht sicher, was schlimmer war: Ihre eigene Ehe mit Tolioro, oder das, was Inagoro als Ehe aufgezwungen wurde. Selbst die Kandidatinnen des Thronrates wirkten gegen diese Alternative wie harmlose Vergnügungsdamen.

Feuerwind

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