Читать книгу Feuerwind - Chris Svartbeck - Страница 8
Marle
ОглавлениеMarle begleitete ihr Volk nach Tolor. Bis zur Grenze ging sie ihren Leuten voran. Die tolorischen Grenzfesten waren leer. Keine Posten bewachten die Pässe. Patta brauchte seine Soldaten dringender zur Bekämpfung der Frostgeister. Marle beriet sich mit den Sippenältesten. Sie beschlossen, zusammenzubleiben und die nächste größere unter den Ortschaften aufzusuchen, die von den Toloriern aufgegeben worden war. Immer vorausgesetzt, diese Ortschaft war gut gegen Frostgeister zu verteidigen. Danach würden sie König Patta Botschaft schicken, wo seine unfreiwilligen Gäste den Winter verbringen würden, und um ein oder zwei Feuerbälle für den Notfall bitten. Nach dem letzten Winter waren selbst die Sippenältesten bereit, den karapakischen Zauberern notfalls dafür einige Kinder zu geben.
Marles Kopf war während dieser Besprechung immer tiefer gesunken, und als die Ältesten von den Kindern sprachen, verließ sie die Runde, gebeugt wie eine alte Frau. Ihre Mutter eilte ihr nach und versuchte, mit ihr zu reden. Marle antwortete ihr nicht.
Am nächsten Morgen war Marle verschwunden. Zwei Hunde hatte sie mitgenommen, und ein paar Vorräte. Mehr nicht.
Der Weg nach Tolor war lang und beschwerlich gewesen. Jetzt, wo sie ihn alleine zurückging, wirkte er endlos. Nie zuvor hatte sie das Schweigen der Berge so drückend gefunden. Marle war froh, dass die Hunde bei ihr waren. Sie kuschelte sich in den kalten Nächten zwischen sie, sie sprach mit ihnen, und sie fand es tröstlich, dass wenigstens die Hunde sie nicht vorwurfsvoll ansahen.
Vier Tagesreisen vor Ganen wechselte sie auf den Weg in die Hochlagen vor den Drachenzahnbergen. Dorthin, wo die Eisleute zuletzt zugeschlagen hatten.
Das zerstörte Dorf war von bunten Bergblumen überwachsen. Aus dem dachlosen Inneren eines Hauses ragte der Spross einer jungen Bergbirke. Außer einigen verkohlten Balken, den Scherben der Tontöpfe und den Knochen der Ziegen und Hunde deutete nur noch wenig auf die Tragödie hin, die sich hier abgespielt hatte. Marle suchte nach Hinweisen auf die Eisleute, fand aber keine. Natürlich nicht. Wenn hier Spuren gewesen waren, dann waren sie bereits vor etlichen Monden mit dem Schnee verweht.
Wo immer die Eisleute steckten, hier waren sie kein zweites Mal gewesen. Aber Marle würde sie finden. Egal, wie tief sie sich im Berg verbargen, auch die Eisleute mussten essen. Irgendwann mussten sie herauskommen. Und dann würden sie Spuren hinterlassen, die Marle finden konnte. Oder die Hunde. Marle machte sich daran, systematisch einen Berg nach dem anderen abzusuchen.
Sie brauchte fast einen ganzen Mond, bevor sie die ersten Hinweise fand. Einen Mond, in dem Marle und die Hunde fast nur von erbeuteten Mäusen und Vögeln lebten, weil die ganze Gegend leergejagt war und sämtliche Vorräte in den zerstörten Dörfern geplündert. Ein einziges Mal gelang es Marle, einen unzerstörten Vorratskrug mit Getreide vom Vorjahr zu finden. Sechs Tage lang konnte sie sich Brotfladen damit backen. Ein Festmahl.
Wenn der Winter kam, die Vögel fortzogen und die Mäuse unter dem Schnee verschwanden, würde sie verhungern. Allerdings war Marle sich ziemlich sicher, dass sie im Winter ohnehin nicht mehr hier sein würde.
Es war die braune Hündin, die die entscheidende Fährte fand. Hinter den Felsen lauerte Marle geduldig volle zwei Tage, bis endlich ein Jäger der Eisleute auf dem schmalen Pfad erschien, eine erlegte Bergziege auf dem Rücken tragend. Sie sah, wie er auf eine scheinbar geschlossene Felswand zuging und plötzlich darin verschwand.
Marle wartete bis kurz vor Sonnenuntergang, bevor sie ihm folgte. Hinter Brombeerranken in einer Mulde versteckt fand sie einen schmalen Eingang zu einer Höhle, den sie ohne ihre Beobachtung vermutlich vollkommen übersehen hätte. Gerade wollte sie hineinschlüpfen, als die braune Hündin Laut gab. Dann ertönte hinter ihr ein erstickter Schrei, und ein Pfeil prallte kaum eine Handbreit neben ihrem Gesicht auf den Felsen. Ein Wachtposten! Verdammt, das hätte sie sich eigentlich denken können. Marle fuhr mit gezücktem Dolch herum. Aber die Hunde hatten bereits ganze Arbeit geleistet. Der Rüde stand über einem liegenden Mann, die Zähne an dessen Kehle. Marle trat vorsichtig näher. Unweit des Mannes lag ein Bogen mit einem weiteren Pfeil am Boden. Die Hündin jaulte leise, weinerlich. Zwischen ihren Rippen steckte ein Messer. Marle sah den Mann an. „Wenn du leben willst, musst du reden.“ Der Mann zischte nur verächtlich und schloss die Augen.
„Mir auch recht.“ Mit sicherere Hand ließ Marle das Messer über seine Kehle fahren. Der Hund wich ein Stückchen zurück, hielt dann inne und begann, das sprudelnde Blut zu lecken.
Die Hündin war verloren. Marle hatte nicht die Mittel, ihre Verletzung zu versorgen. Ein rascher Blick zum Himmel – der Sonnenuntergang stand unmittelbar bevor. Die gleiche Klinge, die zuvor die Kehle des Eismannes zerschnitten hatte, gab jetzt der Hündin ein rasches Ende. Dann durchsuchte Marle die Habseligkeiten des Toten. Wie sie gehofft hatte, fand sie ein kleines Talglicht.
Der Hund winselte und zog ängstlich den Schwanz ein, folgte ihr aber in den finsteren Stollen. Es schien ein natürlicher Spalt im Fels zu sein. Der Boden war glatt, der Gang musste häufig benutzt worden sein. Vorsichtig schirmte Marle das Talglicht mit der freien Hand ab. Sie durfte auf keinen Fall bemerkt werden.
Ohne den Hund hätte sie es nicht geschafft. Sein leises Knurren warnte sie gerade rechtzeitig. Hastig drückte sie sich in eine Nische und löschte die Flamme.
Einer der Eisleute erschien, Bogen und Köcher auf dem Rücken, in der linken Hand ein weiteres brennendes Talglicht. Offenbar die Ablösung für die Wache. Wenn der Mann bis an die Oberfläche kam, würde er sofort Alarm schlagen. Marle zückte ihren Dolch.
Der Hund hätte sie beinahe verraten. Marle sah den Eismann vorbeigehen. Kaum einen Schritt hinter ihrem Versteck hielt er plötzlich inne, wendete den Kopf hin und her und sog prüfend die Luft ein. Marle sprang. Der Hund sprang gleichzeitig. Keiner von ihnen hätte alleine eine Chance gehabt. So aber packte der Hund das Handgelenk des Mannes, und Marles Dolch konnte ungehindert sein Ziel erreichen. Das Talglicht rollte über den Boden, erlosch aber nicht.
Marle spürte ihr Herz wild pochen. Das war knapp gewesen. Und es verringerte die Zeit, die sie hatte, denn es würde den Eisleuten auffallen, wenn der abzulösende Wachtposten nicht zurückkam. Sie sah den Hund an. So sehr es ihr widerstrebte, sie musste alleine weitergehen. Der Geruch des Hundes würde sie verraten. Die Eisleute hielten keine Hunde. Sie aßen sie nur.
Der Rüde gehorchte, wie er es gewohnt war, und legte sich neben dem Toten auf den Boden. Marle nahm das brennende Talglicht auf und ging weiter den Gang hinab.
Irgendetwas hatte sich verändert. Marle hielt inne und schirmte die kleine Flamme mit der Hand ab. Der Gang vor ihr war so dunkel wie der Gang hinter ihr. Aber jetzt, wo ihre eigenen Schritte sie nicht mehr ablenkten, hörte sie es. Leise, ferne Geräusche, die von Menschen kündeten. Vorsichtig ging sie weiter, zwei, drei Biegungen. Vor ihr war ein rötlicher Schimmer. Marle stellte das Talglicht auf den Boden und schlich weiter. Noch zwei Biegungen, und der schmale Felsspalt öffnete sich jäh zu einer gewaltigen Höhle, die zu einem unterirdischen Bach hin abfiel. Am Ufer dieses Baches standen fellbedeckte, halbkugelige Hütten. Kleine Feuer erleuchteten die Silhouetten von Menschen. Männerstimmen, Frauenstimmen, lachende Kinder. Einen Moment fühlte Marle sich in einen seltsamen Traum versetzt. Dann hörte sie ein ihr nur zu gut bekanntes Zischen. Hornstachler! Hektisch sah sie sich um. Zwei Mannslängen vor ihr bewegte sich etwas, was sie für einen Felsbrocken gehalten hatte, hob sich bis weit über ihren Kopf, wankte leicht und zischte wieder, bevor es mit einem schabenden Geräusch wieder zu Boden fiel. Marle regte sich nicht. Wenn der Hornstachler lauter wurde, würden die Eisleute nachsehen wollen, was hier los war, und sie entdecken. Sie wagte es nicht, auch nur den Kopf zu drehen. Systematisch suchte sie mit den Augen. Da hinten! Auch dort bewegte sich einer der Felsen. Ein zweiter Hornstachler. Sie wartete. Der erste Hornstachler kroch unruhig hin und her. Er schien weder angebunden noch verkrüppelt zu sein. Was also hielt ihn hier unten, in der für ihn so schmerzhaften Tiefe? Dann entdeckte sie es. In wenigen Schritten Abstand waren schlanke, mehr als armlange Ruten in den Boden eingelassen. Sie sahen aus wie Eis, konnten aber keines sein. Eis bog sich nicht derart. Eis summte auch nicht. Aber genau das taten diese Ruten. Und ihr Summen wurde lauter, wenn der Hornstachler näher kam. Was immer dieses Summen war, es schien die Hornstachler zu quälen, denn das Wesen wich sofort zurück, wenn das Summen lauter wurde. Marle versuchte, auszumachen, wie die Ruten verteilt waren. Sie waren rechts und links von dem Felsspalt aufgestellt. Als sie vorsichtig zur Seite sah, erkannte sie einen weiteren Felsspalt, der ebenfalls von zwei Ruten bewacht wurde. Und eine lange, dünne Reihe von Ruten, die das Innere der Höhle vor den Hornstachlern sicherte. Die Wesen hatten nur einen schmalen, steinigen Rand an der Höhlenwand, auf dem sie sich bewegen konnten. Einen Rand, der auf keinen Fall breit genug war, um ihnen irgendwo eine schmerzfreie Zone außerhalb der Reichweite der summenden Stäbe zu geben.
Marles Herz krampfte sich zusammen. Das war schlimmer, als sie gedacht hatte. Und jetzt? Sie war sich ziemlich sicher, dass sie die Eisruten nicht einfach entfernen oder zerstören konnte, ohne dass jemand es merkte. Entsetzt merkte sie, dass sie überhaupt keinen Plan hatte, wie sie diese Hornstachler befreien sollte. Sie hatte ja nie damit gerechnet, es überhaupt so weit zu schaffen.
„Verstehst du mich?“, flüsterte sie.
Der Hornstachler richtete sich wieder auf und kroch näher. Für einen Moment spielte der Widerschein der Feuer über seine Haut. Sie war schmutziggrau, mit dunkleren Stellen gesprenkelt. Aber auf dem Kopf hatte es rötlich geglänzt. Marle kannte diesen speziellen Hornstachler! Sie erinnerte sich an seine Geburt, hatte ihn sogar in ihren Armen gehalten, weil er so merkwürdig anders war als seine Geschwister. Keiner der anderen hatte mehr Farben als blassgrau und weiß gehabt. Dieser hatte sich unterschieden, durch einen unregelmäßigen, fleischroten Fleck mitten auf dem, was bei einem Menschen die Stirn gewesen wäre. Das hatte ihm auch, im Gegensatz zu allen seinen Geschwistern, einen Namen gegeben.
„Fleck!“, flüsterte Marle überrascht. Ob er sich erinnerte? „Fleck, erkennst du mich? Ich war bei deiner Mutter, als du geboren wurdest.“
Der Hornstachler wiegte seinen Körper, zischte aber nicht, als sie einen halben Schritt näher kam.
Marle versuchte, seine Ausmaße abzuschätzen. Würde er überhaupt noch durch den Gang durchpassen? Gerade noch, schätzte sie. Der andere, dunklere, der weiter hinten blieb, war ein wenig kleiner, der würde wohl kein Problem haben. Aber Zähne hatten die Hornstachler nur an einem Ende. Und sie waren zu groß, um sich im Gang umzudrehen. Auf ihrer Kehrseite waren sie wehrlos. Wenn diese Wesen eine Chance haben sollten, musste Marle ihnen den Rücken decken.
Bei den Eisleuten wurde es lauter. Jemand rief, fröhlich, fast übermütig. Marle zuckte zusammen. Feierten die etwa ein Fest? Aber dann begriff sie und verfluchte gleichzeitig ihre Dummheit. Die Eisleute waren nachtaktiv. Sie hätte es wissen müssen. Die Überfälle waren immer in der Nacht erfolgt. Das Lager war gerade dabei, richtig aufzuwachen. Und es konnte nicht mehr lange dauern, bis man die rückkehrende Wache vermisste und nachsah. Dann war sie geliefert.
Dann war auch die letzte Chance für diese Hornstachler vertan.
„Warte“; beschwor sie das Wesen. „Warte hier. Ich komme zurück, so schnell ich kann. Und dann hole ich dich hier raus.“
Sie hetzte zurück, so schnell es ging, ohne dass das Talglicht erlosch, zu der Stelle, wo sie den Hund bei dem Toten zurückgelassen hatte. Sie nahm alle Waffen des Toten an sich. Dann griff sie nach dem Halsband des Hundes und eilte mit ihm zurück.
Schon vor der letzten Biegung hörte sie die Hornstachler zischen. Natürlich, der Hund. Sie zerrte den Hund in eine Seitennische und beschwor ihn, sich nicht fortzurühren. Jetzt kam es nicht mehr darauf an, nicht entdeckt zu werden. Jetzt zählte nur noch Schnelligkeit. Sie nahm einen Stein auf, lief zu der ersten Eisrute, schlug zu. Ein hohes, helles Sirren und Klirren ertönte. Die Hornstachler kreischten auf. Marle spürte, wie ihre Ohren stachen und schmerzten. Egal. Die zweite Rute. Sie schlug erneut zu. Dieses Mal war das Sirren und Klirren so laut, dass Marle wie die Hornstachler gequält aufschrie. Sie lief zu den Wesen. „Kommt! Der Weg ist frei! Ihr könnt hier wieder heraus!“
Der zweite Hornstachler, dessen Haut überall schmutzigschwarz war, fauchte sie wütend an und zog sich zwei, drei Schrittlängen zurück. Der andere schnellte vor, landete direkt vor ihr und zischte. Marle sah hoch und blickte genau in den runden Schlund mit den vielen kleine, scharfen Zähnen. „Ich habe doch nur das zerstört, was euch hier gefangen hielt!“, schrie sie verzweifelt. „Ich will euch nichts tun. Ich will euch helfen! Seht doch, der Gang ist frei, ihr könnt hinaus!“ Der Hornstachler rührte sich nicht. Marle hörte die Rufe der Eisleute näher kommen. Denk nach, beschwor sie sich. Denk nach! Dann fiel es ihr ein. Sie begann, das Wiegenlied von den Windschwingen zu summen. Der Hornstachler erstarrte. Marle lief zurück zum Eingang, immer noch summend. Sie hörte ein Geräusch hinter sich, sah sich um. Der schwarze Hornstachler hatte sich nicht gerührt, aber Fleck folgte ihr. Jetzt hatte er den Gang erreicht, zögerte. „Geh schon endlich! Beeil dich, sonst kriegen sie dich wieder. Ich bin nicht sicher, ob ich sie lange aufhalten kann.“ Als er sich immer noch nicht vorwärts wagte, stemmte sie sich mit aller Kraft gegen ihn und schob. Das half. Endlich setzte er sich in den Gang in Bewegung. Marle legte einen Pfeil auf die Sehne. Keinen Moment zu früh. Der erste der Eisleute war bereits so dicht herangekommen, dass sie sein Gesicht erkennen konnte. Verzerrt, wütend, den Mund zu einem Schrei geöffnet, der ihr gellend in den Ohren klang. Marle schoss ihm genau in diesen Mund.
Hinterher wusste sie nicht, wie sie es durch den ganzen Gang geschafft hatte. Die meiste Zeit war es so dunkel gewesen, dass sie ohne den Hund, an dessen Halsband sie sich krallte und der sie führte, nicht einmal gewusst hätte, ob sie vorwärts oder zurück lief. Und wenn es zwischendurch hell wurde, dann nur, weil ihre Feinde wieder nahe genug herangekommen waren, dass ihre Lichter sie zu Marles Zielscheiben machten. Wieder und wieder musste sie warten, musste kämpfen, weil der Hornstachler an den engen Stellen nur langsam voran kam. Da machte es schon fast nichts mehr aus, dass sie selbst langsamer wurde, weil ein Pfeil ihre Hüfte getroffen hatte, und ein anderer ihre linke Hand. Sie brach beide Pfeile ab und machte weiter. Es gab keine andere Option. Endlich erreichte sie das Ende des Spalts und stolperte ins Freie. Sternenklar wölbte sich der Himmel über den Bergen. Es würde noch mindestens drei Kerzen dauern, bis die Nacht vorüber war.
Noch während sie in den Himmel sah, traf sie ein weiterer Pfeil im Rücken. Der Hund bellte scharf auf und stürzte zurück zum Höhleneingang. Sie hörte jemanden schreien. Wie dumm von mir, dachte sie, während sie sich aus dem taunassen Gras wieder aufzurichten versuchte. Ihre Silhouette musste vor dem Sternenhimmel eine ideale Zielscheibe geboten haben. Mühsam drehte sie sich um und spannte den Bogen. Weitere Schreie. Dann jaulte der Hund auf, verstummte jäh. Marle war alleine.
Bis zum Sonnenaufgang hielt Marle durch. Der Höhleneingang war schmal, mehr als ein Mann zur Zeit konnte ihn nicht passieren. Nach den ersten drei Toten waren die Eisleute vorsichtiger. Sie konnten es sich leisten, hatten Zeit. Marle nicht. Sie spürte, wie ihr Leben langsam im Gras versickerte. Wenn die Eisleute noch etwas Geduld hatten, würde Marle ihnen wie eine reife Frucht in die Hände fallen. Buchstäblich. Der Himmel wurde heller. Marle zwang sich, wach zu bleiben, weiter zu lauern, weiter zu leben. Sie wollte nicht im Nachtdunkel sterben. Wenn sie starb, dann sollte es unter der Sonne ihrer Heimat geschehen. Der Himmel rötete sich. Marle verschoss ihren letzten Pfeil. Dann konnte sie nur noch warten. Einer der Eisleute sah aus der Höhle. Als kein Pfeil heranflog, sprang er mit einem triumphierenden Heulen hinaus. Marle drehte sich schwerfällig um, sah dorthin, wo sich gerade ein goldfarbener Saum über die Berge schob, wo das Licht aufstrahlte und die Farben über den Himmel spielten, und wartete auf den Tod.
Ein weiterer Schrei hinter ihr, überrascht und wütend, der in einem Gurgeln abbrach. Marle rührte sich nicht. Niemand kam. Die Sonne schob sich höher. Schließlich löste sich die goldene Scheibe von den Berggipfeln. Und vor Marle wuchs eine dunkle Gestalt aus dem Boden. Der Hornstachler. Der rote Fleck auf seiner Stirn schien im Sonnenlicht zu leuchten. Die dunkle Haut seines Körpers war an verschiedenen Stellen aufgeplatzt, hing in Fetzen herab von dem schneeweißen Raupenkörper, der darunter wieder zum Vorschein kam. Wenigstens dieser hier war gerettet. Der andere … Eine Träne rann über Marles Wange. „Es tut mir so leid, dass ich deinem Bruder nicht helfen konnte. Er wollte einfach nicht … und ich … ich kann nicht zurück … es geht nicht mehr … ich sterbe … Es tut mir so leid!“
Der Hornstachler hob sein vorderes Ende höher und öffnete sein Maul. Wieder sah Marle seine Zähne. Die Hornstachler waren immer hungrig. Das wusste sie noch sehr gut. Weit und breit gab es hier keine Tiere mehr, die der Hornstachler hätte essen können. Und sie schuldete ihm etwas. „Ja“, flüsterte sie.
*
Hoch oben auf dem nahen Gipfel schauten zwei große weiße Drachen zu, wie der Hornstachler die Menschenfrau verschlang. Der kleinere von ihnen hob fast spielerisch eine Kralle, an der ein Leichnam hing. „Wir hätten meinem Sprössling doch auch die erlegten Eisleute geben können.“
Der größere kratzte sich im Nacken und streckte genüsslich seine Flugmuskeln. „Wozu? Die da wäre ohnehin gestorben. Und ich finde, so hat die ganze Sache etwas von einem gerechten Ausgleich.“
„Und jetzt?“
„Jetzt bringen wir deinen Sprössling an einen sicheren Platz, damit er sich verpuppen kann. Groß genug ist er schließlich geworden.“
„Das meine ich nicht. Was machen wir jetzt mit den Menschen? Denen, die in unseren Bergen geblieben sind, meine ich.“
Der größere Drachen entblößte die Zähne zum Drachen-Äquivalent eines Grinsens. „Wir werden sie etwas zappeln lassen. Aber wir lassen sie natürlich bleiben. Ohne Menschen wäre es hier einfach nur schrecklich langweilig.“