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Dave Eggers’ Roman »The Circle« – Eine Dystopie mit Realitätscharakter?

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»Was ist die größte Gefahr für unsere Freiheit in der heutigen Zeit? Es ist unsere Ansicht, dass wir das Recht hätten, alles, was wir über jemanden wissen wollen, auch wissen zu dürfen.«27

Dave Eggers (*1970)

2013 erschien der zukunftsweisende Roman Der Circle und wurde sogleich millionenfach verkauft. Gibt man diesen Titel in eine Suchmaschine ein, erhält man eine nahezu unüberschaubare Liste an Rezensionen, Kommentaren und Kritiken in Form von geschriebenen Texten oder aufgezeichneten Videos. 2017 kam sogar eine Literaturverfilmung mit einer Starbesetzung – Tom Hanks und Emma Watson – in die Kinos. Der Autor Dave Eggers hat mit seinem Roman offenbar einen Nerv getroffen. Er bringt eine Fülle an ernst zu nehmenden Gedanken, Einsichten und Sorgen bezüglich des ambivalenten Potenzials moderner Technologien auf den Punkt. Eine Besonderheit seines Buches liegt darin, dass die Geschichte derart authentisch erzählt wird, dass die Leserinnen immer stärker das Gefühl beschleicht, dieses dystopische Szenario könne in der Zukunft tatsächlich eintreten. Es handelt von perfektionierter Überwachung und lückenloser Technikabhängigkeit, die den Menschen rundum als Fortschritt präsentiert werden. Gleichzeitig zeichnet Eggers ein Psychogramm der zumeist jungen und intelligenten Menschen, die sich mit euphorischem Engagement der Entwicklung der revolutionären Technologien verschreiben. Die meisten Protagonisten sind naiv, denn sie realisieren nicht, was sie durch die vermeintlichen Verbesserungen, die meist irreversibel sind, eigentlich verlieren. Die junge Generation, die sich enttäuscht von der Politik abgewendet hat und ihr Rebellentum wie ihren Beitrag zur Verbesserung der Welt auf das Entwickeln futuristischer Technologien beschränkt, stellt somit die treibende Kraft in diesem Szenario dar.

Auf die Frage, was denn die größte Gefahr für unsere Freiheit heute darstelle, antwortete Eggers in einem Interview, es sei die Auffassung, »alles, was wir über jemanden wissen wollen, auch wissen zu dürfen«. Dieser Anspruch beziehe sich nicht nur auf uns als Individuen, sondern auch auf profitorientierte Unternehmen, die mit dem Sammeln und Verkauf von Daten bewusst einen Eingriff in unsere Privatsphäre vornehmen. Ist Eggers’ fiktionale Dystopie bloß eine spannende Geschichte oder enthält sie einen wahren Kern?

Der Circle ist ein Weltkonzern, der sich durch den Zusammenschluss von Google, YouTube, Facebook, Apple und Twitter als digitales Monopol etabliert hat. Mit seinem Hauptsitz im einflussreichsten High-Tech-Zentrum der Welt, dem Silicon Valley, ist der Circle zum weltweit mächtigsten Konzern aufgestiegen. Ohne Zweifel: Wenn ein Unternehmen die bekannteste Suchmaschine (Google) inklusive der beliebtesten Videoplattform der Welt (YouTube), das mit Abstand am meisten genutzte soziale Netzwerk (Facebook), den größten Hersteller von Computern und Smartphones (Apple) und einen sogenannten Mikrobloggingdienst (Twitter) unter einem Dach fusioniert, ist die Monopolstellung in vielen digitalen Zukunftsbereichen auf lange Sicht geklärt. Gleichzeitig hat ein solches Unternehmen Zugang zu den meisten Daten der digitalen Kommunikation.

Der Circle genießt auf dem Globus ein ansehnliches Image – er verkörpert die Zukunft und strahlt die Aura des »Alles-Ist-Machbar« aus. Daher wirkt er wie ein Magnet auf junge, talentierte Abgänger von Eliteuniversitäten, die mit ihren kreativen Ideen die Karriereleiter erklimmen, berühmt werden und reichlich Geld verdienen möchten. Die brillantesten Köpfe stellen ihre Produkte und Geschäftsideen auf großen Konferenzen vor und werden je nach Einschätzung der »drei Weisen« sofort eingestellt – oder sie müssen ihr Glück woanders versuchen. Diese drei Weisen stellen die oberste Autorität des Konzerns dar, da sie es waren, die den Circle zum größten Konzern der Welt gemacht haben. Jede wichtige Entscheidung läuft über dieses Direktorat. Hier wird eine erste Problematik deutlich: Wenn lediglich drei Menschen die Richtung eines globalen Unternehmens vorgeben, existiert keine wirksame Kontrollinstanz. Vordergründig und mit großem Erfolg halten die drei den Schein aufrecht, dass ihre Gesinnung rein philanthropischer Natur sei: Der Fortschritt der Menschheit steht stets öffentlichkeitswirksam im Fokus. In Wirklichkeit verfolgen sie primär profitorientierte Pläne und lassen selbst ihre engsten Mitarbeiterinnen über ihre Aktivitäten im Dunkeln. Diese wissen stets nur so viel, wie für ihren Tätigkeitsbereich notwendig ist. Ty, der als Mitglied des Direktorats unter dem Decknamen Kalden im Circle-Areal bekannt ist, erkennt die Gefahr, die von seinem Konzern ausgeht. So werden etwa Politiker, die das Monopol des Circle zerschlagen möchten oder sich gegen bestimmte neue Vorhaben des Großkonzerns stellen, plötzlich in den Medien in vernichtende Skandale verwickelt. Kein Wunder: Hat man Zugang zu allen erdenklichen Daten eines Menschen, bleibt kein Vergehen, kein peinliches Foto und kein Besuch auf dubiosen Internetseiten unbeobachtet. Es ist sogar möglich, unliebsamen Personen Verfehlungen anzuhängen, die gar nicht stattgefunden haben. Zu guter Letzt sorgen hochdotierte Spenden an politische Parteien dafür, dass prominente Politikerinnen die Intentionen des Circle verharmlosen oder ignorieren. Für Ty geht das zu weit, er tritt für eine Verlangsamung des Prozesses und für das Recht auf Privatsphäre ein. Er wird jedoch scheitern, da seine einzige Vertrauensperson und Hauptfigur des Buches, Mae Holland, die durch ihre Popularität einiges verändern könnte, mittlerweile blind den Anweisungen des Circle folgt und Ty verrät.

Eggers warnt in seinem Buch vor monopolartigen Konzernen, die sektenähnliche Strukturen annehmen und ihre Konsumenten als Anhängerschaft einspannen. Im Roman werden die Mitarbeiter durch interne digitale Rankings dazu motiviert, an den Events des Unternehmens zu partizipieren, herausragende Leistungen zu erbringen und unablässig mit kreativen Einfällen hervorzutreten, um in der Hierarchie des Unternehmens aufzusteigen. Der Circle wird zu einem zentralen Bestandteil im Leben seiner Angestellten, die sich zunehmend von der Außenwelt abkapseln. Bei den meisten herrscht der Glaube, sie seien ihrer Zeit einfach voraus und keiner »da draußen« sei in der Lage, sie wirklich zu verstehen. Damit unterstützen sie weitgehend unbewusst die Circle-Blase, in der alles, was von innen kommt, glorifiziert und alles Externe grundsätzlich abgelehnt wird. Überdies immunisieren sie sich auf diese Weise gegen jeglichen Widerspruch von außen. Mercer, der einstige Freund der Hauptfigur Mae, bringt eine solche externe kritische Beobachtung gegenüber dem Circle-Kollektiv zum Ausdruck:

Einzeln wisst ihr nicht, was ihr kollektiv macht. […] Du lässt dich bereitwillig an die Leine legen. Und du wirst bereitwillig sozial völlig autistisch. Du kriegst die einfachsten menschlichen Kommunikationssignale nicht mehr mit. […] Ich sag dir jetzt was, und es schmerzt mich, dir das sagen zu müssen. Aber du bist nicht mehr sehr interessant. Du sitzt zwölf Stunden pro Tag an einem Schreibtisch, und dabei kommt nichts anderes rum als ein paar Zahlen, die in einer Woche nicht mehr existieren oder in Vergessenheit geraten sind. Du hinterlässt keine Spuren. Es gibt keinen Beweis, dass du gelebt hast. […] Du kommentierst Sachen, und das ist der Ersatz dafür, sie selbst zu tun.28

Dieser Versuch der Aufrüttelung zerschellt jedoch an Ignoranz und wird als bloße Neidreaktion abgetan. Durch das einzigartige Gemeinschaftsgefühl im Circle, die motivierenden Aufstiegsmöglichkeiten und das Feilen an Zukunftstechniken, die die Welt verbessern sollen, erreicht der Konzern, dass seine Mitarbeiterinnen den Vorhaben und Projekten bedingungslos vertrauen. Sie übersehen dabei, dass die langfristigen Konsequenzen ihres Handelns eine digitale Diktatur ermöglichen: Ausgehend von einem Megakonzern, der nicht auf demokratischem Weg zustande gekommen ist und der sich gegen politische Regulationsversuche mit allen Mitteln geschickt zur Wehr setzt.

Die meisten Mitarbeiter sind nur in ihre eigenen Projekte eingebunden. Sie sehen nicht das große Ganze, was allein dem Direktorat vorbehalten ist. So erarbeitet jede Entwicklergruppe lediglich einen von vielen Mosaiksteinen, die zusammengenommen dem Konzern seine dominante Rolle am Markt, aber auch im politischen Kontext ermöglichen. Ich werde hier die wichtigsten Programme, die im Laufe der Handlung schrittweise, aber doch zügig in die gesellschaftlichen Prozesse integriert werden, grob vorstellen. Anschließend gehe ich von der Fiktion in unsere Realität über und zeige die Parallelen auf.

Hinter den drei Leitsätzen des Unternehmens »Geheimnisse sind Lügen, Teilen ist heilen und Alles Private ist Diebstahl« steht das Dogma, dass Menschen sich besser verhalten, wenn sie sich dessen bewusst sind, dass sie beobachtet werden. Daher ist einer der zentralen Bestandteile der »Unternehmensphilosophie« die Transparenz des Menschen. Einer der Vorstände des Circle äußert sich diesbezüglich wie folgt:

Ich denke seit Jahren darüber nach, und mir ist noch kein Szenario eingefallen, wo ein Geheimnis mehr nützt als schadet. Geheimnisse führen zu antisozialen, unmoralischen und destruktiven Verhalten. […] Was wäre, wenn wir alle uns so verhielten, als ob wir beobachtet würden? […] [W]ir wären endlich gezwungen, bessere Menschen zu sein.29

Folglich werden überall auf der Welt winzige Kameras angebracht, zu denen jeder im Netz Zugriff hat. Unter dem Deckmantel der Kriminalitätsbekämpfung wird zusätzlich hochentwickelte Gesichts- und Spracherkennungssoftware integriert. Fortan hat jeder Mensch nur mehr einen digitalen Account, mit welchem er wählen gehen, seine Steuern zahlen oder seine Zahlungsabläufe bzw. Einkäufe abwickeln kann. Im Sinne eines Nebeneffekts wird auf diese Weise zugleich das Bargeld, das als antiquierte Form des Tauschhandels gebrandmarkt wird, abgeschafft. Auch die Korruption soll damit unmöglich gemacht werden. Der gesundheitliche Zustand jedes einzelnen Menschen wird anhand von Sensoren im Körper permanent dokumentiert und an medizinische Einrichtungen zur Analyse weitergeleitet. Je mehr Daten für die präventive Gesundheitsuntersuchung zur Verfügung stehen, desto effektiver kann einer Person geholfen werden, so das Credo. Um die Sicherheit bei Kindern zu erhöhen, wird ihnen nach der Geburt ein Chip implantiert, der ihren jeweiligen Aufenthaltsort verrät. Später werden selbst schulische Testergebnisse der Kinder digital dokumentiert, um Vergleiche zwischen ihnen und zwischen den unterschiedlichen Schulen anstellen zu können. Zugleich wird eine Applikation entwickelt, die blitzschnell sämtliche Informationen über eine Person, ihre Vorlieben und Charaktereigenschaften bereitstellt, um dem Nutzer einen aussagekräftigen Eindruck zu vermitteln. Diese »Neuerungen« werden den Konsumentinnen grundsätzlich unter den bekannten Leitmotiven der Bequemlichkeit, Pragmatik und Sicherheit angeboten. Bereitwillig und unbedacht nehmen sie im Roman diese Angebote, die zumeist kostenfrei und als praktischer Service angeboten werden, an.

Ich möchte die Frage stellen: Befinden nicht auch wir uns diesbezüglich bereits mitten in einem Paradigmenwechsel? Wie ist es denn um unsere Privatsphäre unter der Berücksichtigung von Datenvorratsspeicherungen von Regierungen und Geheimdiensten, von hinterlassenen Internetspuren, von der Dokumentation von Kaufgewohnheiten bis hin zu intelligenten persönlichen Assistenten wie Alexa und Siri bestellt? Und was mich auf den folgenden Seiten besonders beschäftigen wird: Für wie einflussreich halten sich die großen digitalen Unternehmen? Wie kommen sie zu dieser Einschätzung und was sind ihre konkreten Zukunftsprojekte?

Der Mensch als Rohstoff

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