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Tam Lin 2020
ОглавлениеChristian Handel
Tanner
»Der Kleine ist süß.« Kara wirft mir über den Rand ihrer Tasse hinweg einen vielsagenden Blick zu.
Statt einer wortreichen Antwort schnaube ich einfach und lasse mich ihr gegenüber auf einen Küchenstuhl fallen. Sie hat auch mir einen Kaffee gemacht, genauso, wie ich ihn mag: heiß, schwarz und bitter wie meine Seele. Genüsslich nippe ich daran.
Kara lässt mich dabei nicht aus den Augen. »Er wird dir noch Ärger machen.«
»Jetzt ist er ja weg.«
»Aber er wird wiederkommen.«
»Unwahrscheinlich.« Betont gelangweilt ziehe ich ihre Zeitung über den Tisch zu mir.
»Ihre Majestät ist in der Stadt?«, stelle ich überrascht fest, nachdem ich die Titelseite überflogen habe. Ein bisschen wundert mich das schon. Warum hat sich Robin nicht gemeldet? Titania besucht Berlin nur selten und Robin weicht ihr noch seltener von der Seite.
»Das hast du beim letzten Mal auch gesagt.«
Erst denke ich, Kara spricht von der Königin, doch dann sehe ich, dass sie sich zum Küchenfenster gebeugt hat und durch den Blauregen hindurch nach unten auf die Straße blickt. Die gerade Jaron entlangschlendert, übernächtigt, niedlich und vermutlich mit einem verträumten Ausdruck auf dem Gesicht.
Das ist das Problem. Er ist schon zu oft mit mir gekommen – und ja, ihr dürft das gern wörtlich nehmen. Wenn ich nicht aufpasse, entwickelt sich aus seiner kleinen Schwärmerei für mich noch etwas Ernsthafteres.
»Es macht eben Spaß mit ihm«, verteidige ich mich trotzdem.
»Das habe ich gehört.« Kara lehnt sich wieder im Stuhl zurück und schnappt sich die Zeitung. Doch anstatt sie zu lesen, legt sie sie aufs Fensterbrett. Auch ihren geliebten Milchkaffee rührt sie nicht an und ich ahne, was kommt. So leicht lässt sie mich heute nicht vom Haken.
»Keine Sterblichen, Tanner. Jedenfalls nicht öfter als einmal.«
»Du klingst wie Mauricio.«
Mauricio ist mein ehemaliger Mentor, derjenige, der mir alles beigebracht hat, was ein Inkubus wissen muss. Obwohl nicht er es war, der mich verwandelt hat. Mauricio hätte mich nie gebissen, er ist stockhetero. Dem Bastard, der mich infiziert hat, bin ich nie wieder begegnet und das ist für uns beide sicher auch besser so. Obwohl ich inzwischen die Vorzüge meines neuen Lebens durchaus zu schätzen weiß. Besonders, wenn mir ein schnuckeliger Kerl wie Jaron über den Weg läuft. Zwar bin ich als Hochelf geboren, doch Mitte der 1980er Jahre wurde ich zu einem Nachtwandler, der seine magischen Kräfte mehrt, indem er Sex hat. Viel Sex. Und ich brauche viel Macht, seit mich der Graue Rat vor ein paar Jahren zum Ringträger bestimmt hat. Deshalb bin ich auch nach Berlin gezogen, in eine Altbauwohnung in Schöneberg. Die Stadt ist nicht nur so weltoffen und multikulturell, dass selbst der schrägste Vogel problemlos in der großen Masse unsichtbar werden kann. Sie ist eine Art modernes Babylon: frei, wild und unglaublich liebenswert - zumindest viele Seiten davon. Dem Charme der kunterbunten Großstadt kann sich nicht einmal eine Schwanenjungfrau wie Kara entziehen. Nicht, dass Kara eine typische Schwanenjungfrau wäre.
»Ich bin nur dein Gast und ich will dir keine Vorschriften machen«, sagt sie und sieht mich dabei so an, als wolle sie mir klarmachen, dass sie sich trotz ihrer Worte wünschte, sie könne genau das tun. »Aber ich kann auch nicht einfach nur hier sitzen und stumm dabei zusehen, wie du uns alle in Gefahr bringst.«
Mit uns alle meint Kara die Magische Gemeinschaft. Seit dem Aufkommen von Internet, Überwachungskameras und Smartphones brauchen die Wächter immer mehr Magie, um die Geheimhaltung unserer Existenz sicherzustellen. Und immer, wenn einer von uns einen Menschen zu sehr in das eigene Leben lässt, besteht die Gefahr, dass wir entdeckt werden.
Unrecht hat Kara nicht. Ich bin nicht an einer Beziehung interessiert, aber Jaron beginnt, mehr als Sex zu wollen. Ich will ihm nicht wehtun und auch wenn ich inzwischen ein Nachtwandler bin, so fließt noch genug Hochelfenblut in mir, dass es mir unmöglich ist, eine Lüge auszusprechen.
»Ich habe alles unter Kontrolle«, teile ich Kara mit.
Dass absolut gar nichts unter Kontrolle ist, stelle ich eine halbe Stunde später fest, während ich mich für einen Ausflug mit Kara an den Schlachtensee umziehe. Als ich mir nämlich das Lederbändchen mit dem Ring umbinden will, stelle ich fest, dass es verschwunden ist. Es liegt weder auf dem Nachtschränkchen, noch sind Band und Schmuckstück auf den Boden gefallen. Fuck! Jaron muss den Ring mitgenommen haben. Diese kleine Kröte!
Jaron
Jaron unterdrückt ein Gähnen, als er ins Café kommt, wo trotz der frühen Stunde schon geschäftiges Treiben herrscht. Der Duft von Kaffeepulver und süßen Zimtschnecken weht ihm entgegen, ebenso wie das fröhliche Lachen dreier junger Frauen, die gemeinsam frühstücken. Das Rattern der am Café vorbeifahrenden S-Bahn dringt hingegen nur gedämpft durch die Scheiben. Die Nacht steckt Jaron in den Knochen. Er fühlt sich angenehm matt und obwohl er geduscht hat, haftet der Geruch von Tanner noch auf seiner Haut.
Jaron muss ein Grinsen unterdrücken, wenn er an ihn denkt. Sein dunkelhaariger Lover ist ein paar Jahre älter als er, Anfang dreißig, jedenfalls vermutet Jaron das. Er kann sich nicht erinnern, Tanner gefragt zu haben, und obwohl er versucht hat, ihn auf einer der zahlreichen Dating-Apps zu finden, hatte er damit bisher kein Glück. Tanner scheint aus dem Nichts aufzutauchen und auch wieder dorthin zu verschwinden, wenn es ihm beliebt. Das ist natürlich Unsinn, Jaron ist das klar, schließlich war er bereits ein paar Mal bei ihm zu Hause. Trotzdem: Irgendetwas an Tanner ist nicht greifbar, auch wenn er nicht sagen könnte, was. Vielleicht hat Jaron sich deshalb den Ring geschnappt. Als er ihn auf dem Nachtschränkchen liegen sah, so geheimnisvoll in der Sonne glitzernd, konnte er nicht widerstehen.
Jetzt, nachdem er Arzu begrüßt und sich eine der violetten Barista-Schürzen umgebunden hat, nestelt er an dem schwarzen Lederbändchen um seinen Hals. Nein, er hat den Ring nicht gestohlen, das kann man so nicht sagen. Ausgeliehen wäre treffender. Schließlich will er Tanner wiedersehen. Bald. Und wenn es so weit ist, wird er ihm diesen seltsamen Ring zurückgeben. Der Goldreif ist wie eine Schlange gestaltet, die sich selbst in den Schwanz beißt. Ihre Augen bestehen aus winzigen Kristallen. Der Ring sieht aus wie von einem Mittelaltermarkt; eigentlich passt er gar nicht zu Tanner, aber … irgendetwas daran hat Jaron angelockt.
Vielleicht der gleiche Zauber, der ihn auch immer wieder zu Tanner zieht? Jaron fühlt sich von dem verführerischen Glitzern in seinen Augen angezogen wie die Motte vom Licht. Er möchte in seinem Duft versinken, liebt es, von seinen starken Armen gehalten zu werden, wünscht sich, dass Tanner ihn nie wieder loslässt. Wenn sie sich auf der Tanzfläche begegnen, ist das wie Magie.
Jetzt muss er über sich selbst grinsen. Was für alberne Gedanken. Er ist vierundzwanzig, steht mit beiden Beinen im Leben und glaubt nicht an Zauberei. Vielleicht einmal davon abgesehen, dass es einem schon wie Magie vorkommt, in Berlin einen attraktiven Kerl kennenzulernen, mit dem man gern Zeit verbringt, mit dem der Sex großartig ist und der nicht entweder bereits in einer Beziehung oder beziehungsunwillig ist.
Und wenn Tanner noch hundert Mal so tut, als würde sich da nichts Ernsthaftes zwischen uns entwickeln, sinniert er, als er am Tresen beginnt, die Kundschaft zu bedienen. Inzwischen haben wir schon viel zu viel Zeit miteinander verbracht und viel zu tolle Gespräche geführt, um das alles nur auf sexuelle Anziehung zu schieben.
Weil er sich erneut in Erinnerungen an letzte Nacht verliert, bemerkt Jaron nicht, dass eine neue Kundin an den Tresen tritt. »Was für ein außergewöhnlich schönes Schmuckstück.«
Erst jetzt, als sie ihn anspricht, bemerkt er, dass er den Ring unter dem T-Shirt hervorgezogen hat und ihn zwischen den Fingern hält.
Die Stimme der Frau vor ihm ist samtig und dunkel. Jaron lässt den Ring los, als habe er sich am Metall verbrannt. Er räuspert sich, konzentriert sich auf die Frau. Sie ist attraktiv. Die nachtschwarzen Haare und die braune Haut heben sich extrem von ihrem cremefarbenen Kostüm ab. Ihr Blick ist so intensiv, als wolle sie durch seine Augen direkt in seinen Kopf schauen.
»Was darf es sein?« Jaron muss sich abmühen, die Worte herauszupressen, obwohl er sie sonst hunderte Male am Tag spricht.
»Darf ich ihn mir mal genauer ansehen?« Die Kundin streckt lächelnd die Hand über den Tresen. Es fällt ihm schwer, ihr Alter zu schätzen. Dreißig? Vierzig? Älter?
»Den Ring«, fügt sie hinzu, als er nicht reagiert.
Sein Nacken beginnt zu kribbeln und ihm bricht unter den Achseln der Schweiß aus.
»Ich …« Jaron schluckt, sucht nach Worten. »Ich …«
»Ja?« Die Stimme der Frau hat etwas Besänftigendes, Lockendes. Etwas, das ihn auf unangenehme Art an Tanner erinnert.
»Tut mir leid.« Er steckt den Schlangenring schnell wieder unter das Hemd. »Das geht nicht. Möchten Sie einen Kaffee? Einen Tee?«
Überrascht hebt die Frau eine Braue, starrt ihn an, als könne sie nicht glauben, was gerade geschieht. Dann kneift sie die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Jarons Beine verwandeln sich in Pudding. Er muss sich mit beiden Händen am Tresen abstützen, um nicht einzuknicken. Das Gesicht der Frau wird zu seiner ganzen Welt.
»Gib mir den Ring.« Ihre Stimme hat nun nichts Lockendes mehr. Sie ist fordernd geworden.
Doch der Ring gehört nicht ihm. Er gehört Tanner.
»Nein.« Keine Ahnung, woher er die Kraft für dieses Wort nimmt.
Erst in diesem Moment begreift er, dass alle Geräusche um ihn herum verstummt sind. Er wendet den Kopf und sein Herz setzt einen Schlag aus. Niemand um ihn herum bewegt sich. Seine Kollegin, die anderen Gäste, selbst die Passanten draußen auf der Straße: Alle wirken, als seien sie eingefroren. Alle, außer der Frau vor ihm. Und Jaron.
»Wer sind Sie?«
»Gib mir den Ring!«
Jaron schüttelt den Kopf und weicht ganz langsam Schritt für Schritt zurück, bis er gegen das Regal stößt, das hinter ihm an der Wand steht.
Blitzschnell, als wäre sie eine Gazelle, geht die Frau vor ihm in die Hocke, springt nach oben, hoch in die Luft, und landet scheinbar mühelos in geduckter Haltung auf dem Tresen.
»Sofort!« Wieder streckt sie ihre Hand aus, doch Jaron ist schreckerstarrt.
Dann geht alles ganz schnell: Die Eingangstür des Cafés fliegt mit einer Wucht auf, die die Scheiben klirren lässt.
»Weg von ihm!«
Das ist Tanners Stimme. Tief. Laut. Machterfüllt?
Was macht er hier? Alles um Jaron herum beginnt sich zu drehen. Die Fremde auf dem Tresen wirft einen Blick zur Tür. Sie dreht dabei den Kopf unmöglich weit nach hinten.
»Robin?« Wieder Tanners Stimme. Diesmal klingt er überrascht.
Das Wesen – Jaron weigert sich, die Gestalt auf dem Tresen weiter als Frau zu bezeichnen – faucht wütend, während es erneut zu ihm herumfährt.
»Dann eben so!«, brüllt das Monster im cremeweißen Hosenanzug und stürzt auf ihn zu, während um Jaron herum die Luft mit einem Geräusch aufplatzt, das ihn an reißenden Stoff erinnert. Giftgrüne Wolken quellen aus dem Riss in der Welt und hüllen ihn ein. Ehe er reagieren oder auch nur um Hilfe schreien kann, spürt er ein gewaltiges Gewicht gegen sich prallen. Die Frau! Das Monster …
»Jaron.« Tanners Stimme dringt gedämpft wie aus weiter Ferne zu ihm. Dann verschlingen ihn die giftgrünen Wolken und er und das fremde Wesen, das ihn umklammert, verschwinden aus der Welt.
Tanner
Was für ein beschissener Tag! Karas Worte gehen mir wieder und wieder durch den Kopf, während ich durch meine Wohnung streife wie ein eingesperrter Tiger: Er wird dir noch Ärger machen …
Schon klar, Jaron hat das nicht mit Absicht gemacht. Der Ring ist schuld. Das verdammte Ding macht schon seit über tausend Jahren Ärger. Es lockt und verführt und bringt alles und jeden dazu, ihn besitzen zu wollen. Und wenn man den Schlangenreif dann hat, träufelt dieser langsam, aber stetig sein Gift in einen hinein. Der Ring korrumpiert. Das ist der Grund, weshalb der Graue Rat beschlossen hat, dass kein Hüter ihn länger als dreizehn Monde lang tragen darf. Und ich habe es geschafft, ihn schon nach drei Monden zu verlieren.
»Du hast ihn nicht gefunden.« Kara klingt enttäuscht, als sie gegen Mittag in die Wohnung zurückkommt. Auch ihre Hände sind leer.
Frustriert schüttle ich den Kopf.
»Scheiße.«
»Das kannst du laut sagen.« Erschöpft lasse ich mich auf die Couch fallen.
Kara setzt sich neben mich. Sie verströmt eine Ruhe, die mir unheimlich guttut. In den vergangenen zehn Jahren hat sie mir geholfen, schon so manches Drama durchzustehen. Dieses Problem allerdings ist für uns beide eine Nummer zu groß.
»Wo ist dein Federkleid?«, frage ich, als sie sich neben mich setzt und ihren Kopf an meine Schulter lehnt.
»Noch bei Tomasz.«
Tomasz ist Modedesigner und einer von uns: ein ehemaliger Waldkobold, der sich darauf spezialisiert hat, Kleidung aus Spinnenseide und Mondlicht zu entwerfen. Für gute Freunde lässt er sich aber auch dazu herab, den Mantel einer Schwanenjungfrau zu flicken, wenn diese nach ihrem letzten Ausflug zu viele Federn gelassen hat. Er ist der Beste und macht Kara immer einen Freundschaftspreis. Das heißt allerdings auch, dass sie auf eine Zeit warten muss, in der es für Tomasz günstig ist, ihren Auftrag zwischen seine anderen, besserbezahlten zu schieben. Kara sitzt bereits seit fünf Wochen bei mir fest und wie es aussieht, wird das auch noch eine ganze Weile lang so bleiben. Ein bisschen habe ich gerade ein schlechtes Gewissen, dass ich froh darüber bin, das alles nicht allein durchstehen zu müssen.
»Ich weiß, wo der Ring ist«, gebe ich schließlich zu. Wenn ich Kara nicht vertrauen kann, wem dann? Bald wird sich ohnehin herumsprechen, wer sich das letzte Überbleibsel des sagenumwobenen Nibelungenschatzes gekrallt hat. Ihre Majestät war noch nie gut darin, die Klappe zu halten. Und dann erfährt auch der Graue Rat, dass ich bei meiner Aufgabe versagt habe.
»Wie meinst du das?«, fragt Kara.
Sie glaubt natürlich, der Ring sei bei Jaron. Wo er hoffentlich auch noch ist. Die Sache ist nämlich die: Der Ring kann nicht gewaltsam an sich gebracht werden, wenn ihn bereits jemand trägt. Der muss ihn dann schon freiwillig weitergeben. Und ich hoffe für uns alle, dass Jaron das noch nicht getan hat. Solange er den Ring bei sich behält, ist er sicher.
Nun ja. So sicher man als Mensch in den Händen einer Feenkönigin sein kann. Hoffentlich hat sie ihm noch keinen Eselskopf angehext.
»Robin ist vor mir im Café aufgetaucht, in dem Jaron arbeitet«, verrate ich dann.
»Shit!«
»Du sagst es.«
»Dann befindet sich der Ring der Nibelungen jetzt …«
»… in der Hand von Titania«, beende ich den Satz.
Aus dieser Nummer wieder rauszukommen, wird alles andere als einfach.
***
Kara und ich sind sämtliche Möglichkeiten durchgegangen: Mauricio kann uns nicht helfen, Lay können wir nicht vertrauen. Den Grauen Rat anzurufen wäre vermutlich meine letzte Rettung. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob das etwas bringt: Titania befindet sich gerade in Kontinentaleuropa und damit auf dem Hoheitsgebiet des Grauen Rates. Sie ist und bleibt allerdings immer noch die Feenkönigin von England und genießt als solche eine gewisse Immunität. Außerdem hat sie nicht den Ring gestohlen, sondern dessen Träger. Und der ist zu allem Überfluss auch kein Geschöpf der Anderswelt, sondern ein stinknormaler Mensch. In den vergangenen Jahren bin ich oft genug mit dem Rat zusammengestoßen und lege keinen Wert darauf, bei seinen Mitgliedern endgültig in Ungnade zu fallen. Jedenfalls nicht, wenn es noch eine andere Möglichkeit gibt, alles wieder zu richten. Kara und ich beschließen deshalb, dass wir zunächst den Versuch wagen, das Ganze allein hinzubiegen. Und deshalb machen wir das Einzige, das jetzt noch irgendeinen Sinn ergibt: Wir stehen Seite an Seite vor dem großen Spiegel in meinem Badezimmer und legen Eyeliner auf.
***
Es ist zwanzig Minuten nach Mitternacht, als ich im Regierungsviertel ankomme. Nicole, eine Freundin aus der Nachbarschaft, hat mir ihren Wagen geliehen: einen pechschwarzen Lamborghini. Wenn man den Zorn einer Feenkönigin auf sich ziehen will, macht man das besser mit Stil. Einen beträchtlichen Teil meiner Magie habe ich dafür aufgebraucht, einen Schutzzauber auf den Wagen zu legen und ihn für die Sinne der Menschen unsichtbar zu machen. Gut, dass Jaron gestern bei mir war, sonst hätte ich jetzt vermutlich keine Kräfte mehr übrig. Andererseits, wenn ich ihn gestern nicht mit zu mir nach Hause genommen hätte, wäre der Ring auch nicht weg. Düster vor mich hin brütend beobachte ich die Digitalanzeige im Armaturenbrett dabei, wie sie das Verstreichen der Minuten quälend langsam zählt.
Um 0:40 Uhr starte ich den Lamborghini wieder und fahre die Lennéstraße hinunter Richtung Berliner Philharmonie, bis ich zum Tiergartentunnel komme. Auch über diesem liegt ein Schutzzauber. Der stammt jedoch nicht von mir. Er wird dafür sorgen, dass ihn in der nächsten halben Stunde kein menschliches Wesen benutzt. Titania ist so berechenbar.
Als ich mich davon überzeugt habe, dass weder Menschen noch Feen oder Kobolde meine Anwesenheit wahrnehmen können, fahre ich hinunter in den Tunnel, wo ich mich auf halber Strecke hinter einer Kurve verstecke. Dann warte ich ab.
***
Ich höre Titania und ihre Meute kommen, lange bevor ich sie sehe. Das Dröhnen ihrer Motorräder hallt durch den Tunnel.
Die Feenkönigin steht auf Wettrennen, besonders in Großstädten. Ich steige aus dem Wagen und lehne mich mit verschränkten Armen gegen die Fahrertür.
Als die ersten beiden Motorräder um die Kurve jagen, reagieren die Fahrer sofort. Sie legen Vollbremsungen hin, die Maschinen unter ihnen kommen ins Schlingern. Die Anführerin ganz vorne reißt ihre Hand in die Höhe und plötzlich scheint die Luft sich zu verdicken; dichter zu werden und zäh wie Honig. Die Magie fängt den Schwung der Maschinen ab, verhindert, dass sie die Bodenhaftung verlieren und unter ihren Fahrern wegrutschen.
Die Zeit scheint sich gleichsam zu verdichten und auszudehnen wie eine zähflüssige Masse. Manipuliert von königlicher Magie kommen sieben Raser zum Stehen.
Ich weiß sofort, welcher von ihnen Titania ist. Früher ritt sie auf einer edlen Stute ihrem Zug voran, Sattel und Zaumzeug mit Glöckchen geschmückt, sie selbst in einen waldgrünen Mantel gehüllt. Jetzt trägt sie eine enggeschnittene, nachtschwarze Motorradkluft und einen Helm mit verspiegeltem Visier. Nur das Motorrad, von dem sie absteigt, ist so schneeweiß wie ihr Reittier von damals.
Wütend stiefelt sie auf mich zu. Sie macht sich nicht die Mühe, ihren Helm abzunehmen. Sie klappt lediglich das Visier nach oben.
»Das war knapp«, sagt sie, nachdem sie nur noch wenige Schritte von mir entfernt ist. Sie hat gezögert, ehe sie das Wort ergriffen hat, ich habe es deutlich gesehen. Vermutlich, weil sie sichergehen wollte, ihre Stimme wieder unter Kontrolle zu haben.
Ehrerbietig verbeuge ich mich vor meiner ehemaligen Königin. Ein bisschen Schmeichelei schadet jetzt vermutlich nicht. »Eure Hoheit.«
»Mein untreuer Ritter.«
Sie weiß genau, dass ich den Hof nicht freiwillig verlassen habe. Andererseits war meine Verwandlung in einen Inkubus nicht das Schlechteste, was mir widerfahren konnte.
»Erhebe dich«, gesteht sie mir schließlich gnädig zu und ich richte mich auf.
Wir mustern uns. Ihre Augen sind immer noch so schön wie eh und je: geheimnisvoll und grün wie Lindenblätter nach einem Sommerregen. Kein einziges Fältchen kann ich um sie herum erkennen.
»Hast du den Verstand verloren?«, fragt sie mich dann so emotionslos, als erkundige sie sich nach der Uhrzeit.
»Ihr habt etwas, das ich zurückhaben will.« Keine Zeit, um den heißen Brei herumzureden.
Titania rümpft die Nase. »Ich wüsste nicht, was das sein sollte.«
»Das wisst Ihr sehr wohl, Hoheit.«
»Im Grunde genommen gehört dieser Ring …«
»Ich meine den jungen Mann!«
Als wären wir Spiegelbilder, reißen Titania und ich gleichzeitig die Augen auf. Wir sind beide davon überrascht, dass ich es gewagt habe, sie zu unterbrechen. Dann verfinstert sich ihr Gesicht.
Sei es drum, ich lebe seit über dreißig Jahren in Berlin, ich bin nicht mehr einer ihrer Hofschranzen. Deshalb weigere ich mich, jetzt klein beizugeben. Keinesfalls überlasse ich ihr Jaron. Oder den Ring. Also drücke ich den Rücken durch und schiebe das Kinn nach vorne.
Titania zieht sich nun doch den Motorradhelm vom Kopf und reicht ihn einem ihrer Begleiter, der inzwischen auch abgestiegen ist und neben ihr steht. Kurz frage ich mich, ob es sich bei ihm um Robin handelt, aber die Person hat das Visier nicht gehoben.
Im Licht der Neonröhren, die an der Decke des Tunnels angebracht sind, leuchtet Titanias Haarmähne wie Kupferdraht. Natürlich kann ich keine einzige graue Strähne darin entdecken. Sie ist makellos wie eine Marmorstatue, doch wie dieser fehlt ihr die lebendige Schönheit einer Sterblichen.
»Ich wusste gar nicht, dass dir der Junge gehört«, zieht sie mich schließlich auf.
»Er gehört mir auch nicht.«
Titania hebt bedauernd die Hände. »Dann wüsste ich nicht, wie ich dir helfen kann.«
Gut. Sehr gut sogar. Wenn sie nicht bereit ist, Jaron einfach so gehen zu lassen, hat sie noch keine Möglichkeit gefunden, ihn dazu zu bewegen, ihr den Ring zu überlassen. Zumindest hoffe ich das.
Also gehe ich aufs Ganze. »Er hat mir sein Herz geschenkt.«
Titania legt den Kopf in den Nacken und lacht. »Dummer Junge.«
Ich bin mir nicht sicher, ob sie Jaron oder mich meint. Obwohl ich darauf vorbereitet bin, verletzt mich das scharfkantige Eis in ihrer Stimme. »Hast du ihm von uns erzählt?«
Wieder einmal bedaure ich, dass ich nicht lügen kann. »Noch nicht.«
»Dann ist doch alles in bester Ordnung.«
Titania ist bereits im Begriff, sich umzudrehen, als ich meinen letzten Trumpf ausspiele. »Ich fordere das Recht, herauszufinden, ob ich ihn halten kann.«
Titania und ihr Gefolge erstarren in ihren Bewegungen. Mein Herz beginnt schneller zu klopfen. Ich habe es tatsächlich durchgezogen. Jetzt muss ich aufpassen. Falls sie mir die falsche Frage stellt …
»Er hat dir sein Herz geschenkt und du ihm das deine?«, fragt Titania misstrauisch.
Vorsicht, Tanner, mahne ich mich selbst. »Ich habe bereits verrücktere Dinge getan.«
Wie eine Raubkatze schleicht sie auf mich zu, bis sie direkt vor mir steht. Sie streckt die Hand aus, streichelt meine Wange. Ihre Fingernägel sind scharf wie Krallen, doch ich weiche nicht zurück. »Du bist ein Inkubus.«
Als könnte ich das jemals vergessen.
»Ich habe bereits verrücktere Dinge getan«, wiederhole ich stoisch.
Die Königin lässt ihre Fingerkuppen auf meiner Wange liegen. »Als du sagtest, du willst versuchen, ihn zu halten …« Sie blickt mir direkt in die Augen.
Ich erwidere ihren Blick. »Das alte Recht«, bestätige ich. »Die Tam Lin-Prüfung.«
Titanias Lächeln wird traurig. »Du bist keine Janet, Tanner.«
»Nein«, antworte ich. »Doch es ist seit alters her Brauch, dass sich jeder an dieser Prüfung versuchen kann. Verweigert mir die Feenkönigin von England dieses Recht?«
Im Tunnel herrscht Totenstille.
Erst nach drei, vier Herzschlägen zieht Titania ihre Hand zurück. »Nein.« Sie lächelt, doch es liegt keine Wärme darin. »Natürlich nicht.«
»Gut«, antworte ich. »Dann fordere ich, noch vor Einbruch der Dämmerung die Tam Lin-Prüfung ablegen zu dürfen.«
***
»Tam Lin war ein schottischer Edelmann, an dem Titania vor vielen hundert Jahren einen Narren gefressen hatte«, erkläre ich Kara, nachdem ich sie mit dem Lamborghini aufgelesen habe. »Sie entführte ihn ins Elfenreich und hielt ihn wie ein Schoßtier.«
»Diese Angewohnheit hat mich an den Hochelfen schon immer am meisten gestört. Entschuldige, ich wollte dich nicht unterbrechen. Sprich weiter.«
»Ein Menschenmädchen verliebte sich in ihn. Janet. Tam Lin verriet ihr, wie sie ihn retten konnte: Sie wartete den Zug der Feenkönigin ab und als sie ihren Liebsten im Tross entdeckte, zog sie ihn vom Pferd und hielt ihn fest.«
»Das ist alles?« Kara zupft an den gewaltigen Schulterpolstern ihrer Jacke, die aus künstlichen schwarzen Federn bestehen. Heute ist sie der schwarze Schwan.
»Es ist nicht alles«, korrigiere ich sie, während ich mit dem Wagen auf die Warschauer Straße abbiege. »Er verwandelte sich in schneller Abfolge in die wildesten Tiere: in einen Löwen, eine Schlange, einen Keiler. Janet wusste, sie würde ihn nur erlösen, wenn sie ihn nicht losließe. Auch nicht, als er sich in eine Feuersbrunst verwandelte.«
»Eine Feuersbrunst?!«
Ich nicke grimmig. »Keine Angst: Die Flammen haben Janet nicht verbrannt. Du kennst doch Titania: Die Hälfte von dem, was sie abzieht, ist nur Show.«
Kara verdreht die Augen.
»Das wusste Janet allerdings nicht.«
Beide hängen wir dunklen Gedanken nach, während wir durch die Nacht fahren. »Wenn es dir gelingt, ihn zu halten …« Ihre Worte verklingen, weil sie den Satz nicht zu Ende führt.
»Ich weiß«, antworte ich schließlich. »Dann muss ich vor dem Grauen Rat für ihn bürgen.«
Menschen, die trotz all unserer Vorsichtsmaßnahmen hinter das Geheimnis unserer Existenz kommen, erwarten nur zwei mögliche Schicksale: das eine ist der Tod, schnell und endgültig. Das andere ist, ein Geheimnishüter zu werden. Ein Mensch, der fortan ein Teil unserer Welt ist. Das geht jedoch nur, wenn ein Feenwesen sich dazu bereit erklärt, auf diesen Menschen aufzupassen, ihn alles zu lehren, was er wissen muss. Bringt dieser Mensch dennoch unsere Existenz in Gefahr, hat er sein Leben verwirkt. Und das seines Bürgen. Die Gesetze der Anderswelt sind hart und kompromisslos. Sie haben uns über Jahrhunderte am Leben erhalten.
»Ist es ihr gelungen?«, fragt Kara plötzlich leise. »Janet, meine ich. Hat sie Tam Lin gerettet?«
Ich nicke, während ich den Lamborghini vor einem Baumarkt parke. Obwohl es mitten in der Nacht ist, quillt der große Parkplatz fast über vor Autos. »Die Königin musste Tam Lin freigeben. Aber sie war ziemlich angepisst deswegen.«
»Oh oh …«
»Ich weiß.« Niemand legt Wert darauf, den Zorn der Feenkönigin von England auf sich zu ziehen. Trotzdem plane ich, genau das heute Nacht zu tun. In einem der berühmtesten Nachtclubs der Welt.
***
Wenn man tagsüber an ihm vorbeiläuft, kommt man vermutlich nicht darauf, dass sich in dem gewaltigen quaderförmigen Betonklotz vor uns ein in bester Weise völlig verrückter Partytempel befindet. Mitten in der Nacht sieht die Sache anders aus. Die Menschenschlange, die für den Einlass ansteht, reicht vom Gebäude quer durch den kompletten Innenhof und noch ein Stück die Straße entlang. Einige Typen schieben mit Getränkedosen befüllte Einkaufswagen an ihr vorbei und verkaufen Bier und Cola. Wer heute Nacht tanzen will, muss mit mehreren Stunden Anstehzeit rechnen. Es sei denn, man ist ein Nachtwandler und kennt bestimmte Leute – und Zaubersprüche.
***
Es dauert eine Weile, bis Kara und ich in der Masse von Menschen die ersten Feenwesen ausmachen. Der Club ist proppenvoll. Direkt nach unserer Ankunft habe ich geglaubt, ein paar Meter von mir entfernt einen Satyr an der Bar stehen zu sehen. Beim Näherkommen erkannte ich aber selbst im grünlichen Zwielicht, dass die kleinen Bockshörner auf seiner Stirn nur aufgeklebt waren.
»Ich wünschte, ich hätte Ohropax mitgenommen«, beklagt sich Kara, nachdem sie mit zwei Mineralwassern von der Bar zurückgekommen ist. Ein Glas drückt sie mir in die Hand. Das Getränk ist so kühl, dass ich nur vorsichtig daran nippe.
»Nicht deine Musik, ich weiß«, antworte ich ihr dann entschuldigend. Trotzdem bin ich dankbar, dass sie mich begleitet. Selbst stehe ich eigentlich auch nicht wirklich auf Techno, aber ich liebe die Atmosphäre hier. Auch wenn sich Design, Musik und Kleidungsstil von den Feenhöfen stark unterscheiden, habe ich mich der Anderswelt und ihren rauschenden Festen selten näher gefühlt. Die Dunkelheit und die bunten künstlichen Lichter, vor allem aber der wummernde Bass, der mich umspült, als sei er körperlich – all das lockt den Inkubus in mir. Im Gehen richte ich mit schnellem Griff die Beule in meiner schwarzen Jeans. Dafür ist jetzt keine Zeit. Heute geht es um dein Herz, Tanner, nicht um deinen Schwanz.
Dieser Gedanke lässt mich kurz zusammenzucken. Um mein Herz? Schnaubend schüttle ich den Kopf. Ich bin heute nicht ganz ich selbst.
»Was ist?«, will Kara wissen, doch in diesem Moment entdecke ich Robin. Wieder trägt sie cremeweiß. Doch jetzt fallen ihre Kleider deutlich knapper aus als heute Morgen. Sie bestehen aus einem hauchzarten Stoff, der bei jeder ihrer Bewegungen hin und her wallt, als befänden wir uns unter Wasser. Spinnenseide.
Neben ihr steht Titania, immer noch im schwarzen Motorradleder, aber diesmal ohne Helm. Ihr zum Zopf geflochtenes Kupferhaar reicht ihr bis hinunter zur Hüfte. Die Typen, die sie umringen, kenne ich nicht, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich bei ihnen ebenfalls um Hochelfen handelt.
Kara entdeckt Jaron früher als ich. Ihr Arm schießt nach vorne, mit ausgestrecktem Zeigefinger deutet sie auf ihn. Er sieht blass aus und ich hoffe, dass das nur am künstlichen Licht liegt. Sie haben ihm doch sicher nichts getan?
»Er hat den Ring noch«, flüstert sie mir zu.
Erleichterung durchströmt mich, als ich sehe, dass sie recht hat. Der Schlangenreif hängt an seinem Lederbändchen um Jarons Hals. Schnell trinke ich noch einen Schluck Mineralwasser, dann drücke ich Kara mein Glas in die Hand. Zeit zu handeln. Und zwar schnell.
***
Der Sage nach hat sich Janet am Wegrand versteckt und ist erst im letzten Moment zwischen Büschen hervorgesprungen, um ihren Geliebten vom Pferd zu ziehen, als die Feen an ihr vorbeizogen. Ob Titania und ihr Gefolge mich bereits entdeckt haben, schert mich nicht. Sie wissen, dass ich kommen werde, vermutlich halten sie bereits Ausschau nach mir. Ich schiebe mich also durch die Tanzenden hindurch, ohne auf das Gemurre und die Beschimpfungen zu achten, die ich dabei ernte. Als ich vor den Feen stehe, mache ich mir nicht die Mühe, Titania förmlich zu begrüßen. Robin, die mir einen schuldbewussten Blick zuwirft, zeige ich die kalte Schulter. Stattdessen gehe ich an einer attraktiven Elfenritterin und ihrem Begleiter vorbei, packe Jaron am Handgelenk und ziehe ihn mit mir auf die Tanzfläche.
»Tanner!« Ich kann spüren, wie er zittert. Wir stehen uns gegenüber, die anderen Feiernden nehmen kaum Notiz von uns. »Was -«
Schnell lege ich ihm einen Finger auf die Lippen. »Später. Später erkläre ich alles. Jetzt ist keine Zeit dafür.«
Er blickt mich verwirrt und verängstigt an. »Warum -«
»Nein.« Es klingt harscher als beabsichtigt, aber – auch wenn Jaron das nicht weiß – wir haben nur diese eine Chance. Ich spüre die Blicke der anderen im Nacken, den von Kara, von Robin, von Titania. Glühende Nadelstiche auf meiner Haut. Doch ich drehe mich nicht um.
»Vertraust du mir?«, frage ich Jaron stattdessen.
Ich konzentriere mich ganz auf ihn, blicke ihm direkt in seine wunderschönen Augen. Sie sind geweitet, ob aus Angst oder wegen dem, was die Feen ihm vielleicht verabreicht haben, kann ich nicht sagen.
»Ja.«
Bei seiner Antwort schmerzt mir das Herz. Sein Vertrauen habe ich nicht verdient. Er hat nicht die geringste Ahnung, auf wen – und was – er sich eingelassen hat, als er vor ein paar Wochen das erste Mal mit zu mir nach Hause gekommen ist. Ich wollte ihm das alles ersparen. Er hätte nie erfahren sollen, dass die Welt nicht so ist, wie er sein Leben lang geglaubt hat.
Mein Blick fällt auf den verfluchten Ring an seiner Brust.
Das wäre die andere Möglichkeit, die dir bleibt, raunt mir eine verräterische Stimme in meinem Kopf zu. Bitte ihn darum, dir den Ring zurückzugeben. Er ist ein kleiner, verliebter Junge. Er weiß nicht, wer du in Wirklichkeit bist. Er wird es tun.
Ich könnte den Ring an mich nehmen, ihm den Rücken zudrehen und mein eigenes Leben weiterführen, als wären wir uns nie begegnet. Titania würde Jaron vielleicht mit an ihren Hof nehmen, als ein weiteres ihrer unzähligen menschlichen Spielzeuge. Er wäre am Leben. Er …
Allein diese Gedanken schnüren mir die Kehle zu. Auf keinen Fall überlasse ich Jaron der zweifelhaften Gnade einer Feenkönigin.
Vertraust du mir?, habe ich ihn gefragt und er hat ohne jedes Zögern geantwortet. Jetzt ist es an mir, dieses Vertrauen zu verdienen. »Komm her.«
Jaron folgt meiner Bewegung sofort. Er lehnt seinen Kopf gegen meine Schulter und ich drücke ihn eng an mich, spüre seinen rasenden Herzschlag durch das dünne, verschwitzte T-Shirt, das er trägt. Sein Herz, das im gleichen irrsinnigen Tempo schlägt wie das meine. Das begreife ich erst jetzt, wo mir sein vertrauter Duft in die Nase steigt: Ich hatte wirklich Angst um ihn. Ich habe Angst um ihn.
Jaron verwandelt sich nicht in eine Feuersbrunst. Auch nicht in ein Krokodil oder einen Tiger.
Stattdessen fluten Visionen meinen Geist: Er und ich, gemeinsam in den dunklen Laken meines riesigen Bettes. Wir beide am Strand. In einem Restaurant. In der winzigen Küche einer kleinen Wohnung – seiner Wohnung? –, in der wir am Esstisch sitzen und Gemüse schnippeln. Jaron und ich vor dem Grauen Rat. Zu zweit in einem Tretboot auf der Spree. Zu dritt mit einem attraktiven Rotschopf eng umschlungen in einem Club, vielleicht in diesem. Dann sind wir wieder allein, nur er und ich, auf der Couch in meiner Altbauwohnung. Auf meinem Schoß steht eine große Schüssel Popcorn. In dieser Vision ist er kein junger Mann mehr, aber immer noch an meiner Seite.
Der Anblick ist so schön, dass es mir einen Stich ins Herz versetzt.
Die Visionen machen mir Angst. Jaron ist mir so nah in ihnen. Nicht nur körperlich. Er ist mir näher als irgendjemand seit langer, langer Zeit. Ich denke an Kevin, der mich verlassen hat, nachdem ich verwandelt wurde. Weil er glaubte, ein Hochelf und ein Inkubus würden in verschiedenen Welten leben. Es hat mir das Herz gebrochen und solch einen Schmerz wollte ich nie, nie wieder spüren. Sich jetzt auf einen Menschen einzulassen, einen Sterblichen …
Er wird dir noch Ärger machen.
Jetzt, während ich Jaron halte, begreife ich zu meiner Überraschung, dass ich diesen Ärger will.
Jarons Arme halten auch mich fest umschlungen. Er will in meiner Nähe sein. Und ich bin bereit. Bereit, ihn in mein Leben zu lassen. Egal, wie irgendwann alles ausgeht.
Und ich begreife noch etwas: Wir haben gewonnen! Soll Titania doch vor Wut im Kreis springen. Den jungen Mann in meinen Armen lasse ich nicht mehr los. Nicht, solange auch er mich ebenfalls halten will.
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Christian Handel wurde 1978 in der Schneewittchen-Stadt Lohr am Main geboren, die im sagenumwobenen Spessart liegt. Inzwischen lebt er allerdings in Berlin und ist selbst davon überrascht, wie sehr er sich als Landpflanze im Großstadtdschungel wohlfühlt. Privat wie in seinem Schreiben begeistert er sich für Stoffe über starke Frauen, märchenhafte Motive und queere Themen. Die von ihm herausgegebene Anthologie Hinter Dornenhecken und Zauberspiegeln (Drachenmond Verlag) wurde 2017 sowohl mit dem Deutschen Phantastik Preis als auch mit dem Skoutz Award ausgezeichnet. 2020 erschienen im Ueberreuter Verlag Rowan und Ash – Ein Labyrinth aus Schatten und Magie, in dem zwei schwule Prinzen im Mittelpunkt stehen. Der Roman war für den SERAPH 2021 nominiert.
Website: www.christianhandel.de
Instagram: www.instagram.com/christian.handel