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Nzinga, die Pionierin

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Shelly

Wontu war schweißgebadet, als er seine Augen aufschlug. Es war brüllend heiß in seinem Schlafzimmer. Beim Aufsetzen krochen die ersten Tropfen seinen Rücken hinab. Wie er den Sommer in der Stadt hasste! Nach einer kurzen Dusche und der Benutzung von etwas Deo ging es ihm schon besser. Er trat in die Küche, wo ihn seine Schwester schon erwartete. Lukanda saß dort und las die Tageszeitung. Wontu konnte nur die Schlagzeilen erhaschen, es ging um irgendeine Nachbarschaftsinitiative.

»Endlich bist du wach! Und, hast du es schon gelesen?«, rief sie aufgeregt und legte die Zeitung zur Seite. »Uta hat es in unsere WhatsApp-Gruppe geschrieben, und nun reden alle darüber!«

»Worüber?«, murmelte Wontu, während er sich an den Tisch setzte und das Müsli in seine Schüssel rieseln ließ. Tatsächlich war es untypisch für ihn, nicht direkt nach dem Wachwerden Social Media zu überprüfen. Die Hitze musste ihn wirklich genervt haben.

»Anscheinend gibt es eine neue Befehlsform. Also eine nie zuvor dagewesene, absolut neue Form! Kein neues Kunststück, sondern etwas … na ja, etwas Neues eben!«

Verdutzt legte er nun sein Tablet neben die Müslischüssel. Wontu konnte das Gerät inzwischen komplett ohne Körperkontakt und nur mit seinen Gedanken bedienen. Er aktivierte es aus dem Ruhemodus und gab telepathisch den Sicherheitscode ein. Das Gerät entsperrte sich und gab den Titelbildschirm frei, hinter dessen Icons ein Bild von ihm und seiner Schwester zu sehen war. Wontu öffnete WhatsApp und scrollte durch die Gruppennachrichten, während er sich einen weiteren Löffel Müsli in den Mund schob.

»276 neue Nachrichten? Nee, das lese ich mir jetzt nicht durch. Erzähl du es mir lieber.«

Lukanda rollte mit den Augen. »Na ja, also Genaueres wissen wir auch noch nicht. Wird wohl spätestens heute Abend bei der nächsten großen Versammlung der Befehlenden besprochen. Aber wir überlegen die ganze Zeit, was es sein könnte! Stell dir mal vor, jemand könnte die Zeit befehligen! Seko schrieb, dass Pflanzen befehligen auch cool wäre. Aber ich meinte, dass so etwas eher für die Menschen auf dem Land sinnvoll wäre. Hier in der Stadt gibt es neben einigen Klassikern eher Leute mit deinen Fähigkeiten, Wontu.« Er erinnerte sich daran, damals einer der Ersten gewesen zu sein, der in der Lage gewesen war, seine Gedanken mit technischen Geräten zu verknüpfen. So etwas hatten die großen Vorfahren zu ihrer Zeit wohl nicht gekonnt. Wie auch, ohne Elektrizität?

»Also, was mit Zeit wäre schon abgefahren«, murmelte er und ließ sich von seinen Gedanken tragen.

***

Das Gewitter am Abend war heftig und sorgte für Abkühlung. Ein starker Wolkenbruch ergoss sich über die Stadt, und die Menschen flohen in Häuser oder suchten unter Vorsprüngen und Brücken Schutz. Um nicht in der Menge aufzufallen, hob auch Lukanda einen Schirm über sich und ihren Bruder, doch der erfüllte seinen eigentlichen Zweck nicht. Sie befahl dem Wasser, sie beide nicht zu berühren.

Als sie am Hafen ankamen, war kaum ein Mensch zu sehen. Es war spät, und die Kräne ruhten in den Schatten. Hinter den Containern führte am Ufer eine kleine Treppe direkt ins Wasser. Natürlich gab es auch andere Wege zur Versammlungsstätte, aber wenn Wontu mit Lukanda unterwegs war, war es das Einfachste, diese Treppe zu nehmen. Sie schloss den trockenen Regenschirm und beide schauten sich ein letztes Mal nach möglichen Beobachtern um, als sie die Treppe Stufe für Stufe hinab ins Dunkle traten.

Lukanda befahl dem Meer, sie nicht zu berühren, und erneut gehorchte das Wasser ihrem Willen. Am Fuße der Treppe erweiterte sie den Luftraum um eine vermeintlich alte verrostete Tür, an der keine Klinke zu sehen war. Wontu berührte die Tür und befahl dem elektrischen Mechanismus dahinter, die Dichtung und die Tür zu öffnen. Es dauerte einen Moment, während dumpfe Geräusche zu hören waren, bevor die Tür nach innen aufschwang.

Sie folgten einem langen, dunklen Korridor und erreichten dann endlich die unterirdische Versammlungsstätte der Befehlenden. Ähnlich wie eine Arena war der große Raum kuppelförmig, mit Sitzplätzen in unterschiedlichen Rängen ringsherum. Alle kannten ihre stets gleichbleibenden Sitzplätze und so verabschiedete sich Lukanda, um sich zu ihresgleichen zu setzen, währen Wontu in der kleineren Gruppe seiner Leute Platz nahm. Weshalb die Befehlenden nach Fähigkeiten sortiert wurden, wusste er nicht. Aber falls es heute Abend tatsächlich eine neue Art der Befehlsform geben sollte, dann würde die Person wohl vorerst allein sitzen müssen. Er empfand Mitleid.

»Da bist du ja! Hast ja gar nichts in der Gruppe dazu geschrieben, ich dachte schon, du hättest es nicht gelesen!«, rief Chaka, sein Sitznachbar, als Wontu sich ihm näherte.

»Ach so, doch … Lukanda hat es mir erzählt.«

»So etwas hat es in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr gegeben! Eine komplett neue Befehlsform! Es gab wohl auch schon Gespräche mit der Person, der alte Akeem hat die Einladung für heute Abend persönlich vorbeigebracht! Kannst du dir das vorstellen?«

Ja. Wenn der Älteste des Rates sich selbst auf den Weg machte, um jemanden zu einer Versammlung einzuladen, dann war mehr daran als nur Sprüche. Dann musste es stimmen. Wontu lief ein kleiner Schauer über den Rücken. Was, wenn die Person mit ihrer Fähigkeit noch nicht so vertraut war, so wie die junge Naja damals, als sie fast einen Großbrand bei ihrer Vorstellung ausgelöst hatte? Und Feuer stellte hier am Hafen und durch die Kräfte der Wasserbefehlenden ein kleineres Problem dar als eine noch unbekannte Kraft wie zum Beispiel Zeit!

Das Klopfen von Akeems altem Holzstab auf den Trommeln gab an, dass die Versammlung nun begann. Alle nahmen ihre Plätze ein, und Wontu und sein Block dimmten die alten elektrischen Lampen in der Halle, während ein Spotlight auf das Zentrum geworfen wurde. Dort saßen die drei Ältesten, die den Rat formten. Nach kurzer Zeit war es der stets grimmige Elon, der sich erhob, um zu moderieren. Wontu fand es gut, dass die drei sich abwechselten, aber Elon hörte er am wenigsten gerne zu. Er wirkte immer schlecht gelaunt, seine buschigen grauen Augenbrauen lagen beinahe in den Falten seiner zur grimmigen Miene gezogenen Stirn. Wenn er nicht gerade sprach, presste er die Lippen aufeinander, was den Look abweisender Grimmigkeit vervollständigte. Elon, der große Kritiker des Rates. Es passte, dass er durch den Abend führte. Womöglich wollte er sich selbst ein Bild der neuen Fähigkeiten machen, und zwar an vorderster Stelle.

Ohne Umschweife begann er zu sprechen, während alle in der Halle schwiegen. Seine Stimme war so klar und laut, dass er kein Mikrofon benötigte. Zum Leidwesen aller begann er mit einigen Formalitäten, bevor er dann endlich zum spannenden Teil kam.

»Wie ihr wisst, haben wir die Fähigkeit des Befehlens von unseren großen Vorfahren geerbt. Sie lebten in Einklang mit den Elementen und machten sie sich zunutze, ähnlich wie Werkzeuge. Und wir wissen inzwischen auch, dass sich die Befehlsfähigkeit auf andere und … modernere Elemente ausweitet. Vor diesem Hintergrund ist es mir eine Ehre, euch allen Nzinga vorzustellen.« Elon hob seinen Arm und machte eine einladende Geste in die Schatten hinter dem Licht. Es dauerte eine Weile, bis eine kleine Person aus den Schatten ins Licht trat. Ein Kind? Die meisten kamen erst während der Pubertät in Kontakt mit ihren Fähigkeiten, dies war absolut ungewöhnlich. Doch bei näherem Hinsehen erkannte Wontu, dass es sich nicht um ein Kind handelte. Die Person war lediglich etwas kleiner als die anderen im Licht. Und er erkannte nun auch, weshalb: Nzinga hatte Trisomie 21.

Es dauerte keine fünf Sekunden, nachdem Nzinga ins Licht getreten war, dass die komplette Halle in Tuscheln und Flüstern verfiel.

Und dann, ohne dass jemand etwas gesagt hätte, verstummten plötzlich alle wieder und richteten ihre Aufmerksamkeit nach vorne. Wontu spürte eine große Aufregung in sich, und sein Atem beschleunigte sich. Wo kam diese Aufregung her?

Nzinga trat einen Schritt vor und sah sich um. Sie lächelte Elon an, als dieser einen Schritt auf sie zu tat und ihre Hand nahm. Dann war er es, der sie plötzlich anlächelte. Ein solch warmes und freundliches Lächeln hatte Wontu seit Jahren nicht mehr gesehen, und dann auch noch ausgerechnet im Gesicht des alten Elon? Irgendetwas stimmte hier nicht, dachte er noch, bevor es ihm langsam zu dämmern begann und sich die große Aufregung in ihm legte.

Sie befiehlt … uns!, schoss es ihm durch den Kopf, und die immense Aufregung, die er nun spürte, war seine eigene. Fast schon panisch rasten seine Gedanken: Was würde geschehen, wenn Nzinga die anderen Befehlshabenden befahl? Er hatte Angst davor, sich selbst und seinen freien Willen zu verlieren. Was, wenn Nzinga ihn zwingen würde, seine Schwester zu verletzen? Doch dann schüttelte er seine Gedanken ab, während sich eine gemütliche Wärme in ihm ausbreitete. Da, sie tat es schon wieder. Dieses Gefühl ging nicht von ihm aus, doch es war so warm und freundlich, dass er es zuließ und es nach kurzer Zeit sogar anfing zu genießen.

»Hallo, ich bin Nzinga! Schön, euch alle kennenzulernen«, richtete sie nun zum ersten Mal das Wort an alle, nachdem sie Elons Hand losgelassen hatte. »Falls ihr Fragen habt, beantworte ich sie gerne.«

Ausgerechnet Lukanda, die auf der anderen Seite der Halle saß, hob ihre Hand und sprach. »Machst du, dass ich mich gerade innerlich so warm fühle?«

Nzinga grinste. »Ja. Ich mag es, den Leuten schöne Gefühle zu geben, wenn ich nicht gerade super aufgeregt bin. Magst du es nicht?«

»Doch! Ich … habe so etwas einfach nur noch nie gefühlt …«

In Wontus Kopf sortierten sich die Gedanken. Sie befehligte also nicht direkt die Menschen und deren Handlung, sondern eher deren Gefühle. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Aber was, wenn jemand gar nicht wollte, dass die eigenen Gefühle von einer fremden Person befehligt wurden? Es war eine sehr verantwortungsvolle und komplizierte Fähigkeit, dagegen wäre Zeit befehligen vermutlich etwas Einfacheres. Aber er erkannte auch das Schöne daran: Freude oder auch Trauer zu teilen und die Herzen anderer Menschen zu berühren, war wirklich etwas … nun ja … Wundersames.

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Shelly ist Autor*in und Podcaster*in. Sie engagiert sich für intersektionale Emanzipation und gegen koloniales Denken und strukturelle Diskriminierung. Unter @businessbirthe leistet Shelly Aufklärungs- und Bildungsarbeit auf Instagram und Twitter.

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