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Partygespräche

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Jenny Cazzola

Schon ziemlich schläfrig nimmt Jake noch einen Schluck von seinem mittlerweile lauwarm gewordenen Whiskey. Um ihn herum ist die Party in vollem Gang, aber er fühlt sich in diesem New Yorker Loft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Oder – und diese Redewendung findet er persönlich viel passender – wie ein Wolf unter Schafen.

Nein, das hier ist wirklich nicht seine crowd. Mit den Gesprächen der abgehobenen Theaterkids kann er nicht viel anfangen und mit denen der noch viel abgehobeneren Finanzhaie noch viel weniger. Ein Teil von ihm fragt sich beständig, warum er Grace überhaupt auf diese Party begleitet hat. Er könnte jetzt zu Hause auf der Couch chillen und sich Instant-Nudeln und Netflix reinziehen. Doch dann wäre Grace wahrscheinlich beleidigt. Und mit einer beleidigten Wendigo ist nicht zu spaßen.

Jake seufzt und ertränkt die Vorstellung an die Leichenbittermiene, mit der ihn seine Mitbewohnerin strafen würde, in den letzten Schlucken seines Single Malts. Zumindest die Drinks hier sind gut. Auch wenn ihm der schottische Whiskey bei Weitem nicht so gut schmeckt wie der Tennessee Whiskey, den sein Paps und sein Onkel daheim brauen. Zu Hause … Das sind unendlich weite Felder, Bonfires, Bourbon, Blues und seine Familie. Das sind Ausflüge nach Memphis und Vollmondnächte, in denen er gerannt ist, so weit seine vier Beine ihn trugen.

»Verzeihung«, unterbricht eine rauchige Stimme seinen kleinen Nostalgie-Trip. »Hast du was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?«

»Äh, nein. Sorry, eigentlich bin ich wohlerzogen und weiß, dass Manspreading sich nicht gehört.« Jake rutscht ein Stück nach rechts, damit die junge Frau, die plötzlich neben ihm aufgetaucht ist, sich ebenfalls auf das teure Ledersofa setzen kann, das er mehr oder weniger für sich beansprucht hat. »Evie«, stellt sie sich vor. »Und du bist?«

»Jake.« Eigentlich ist ihm so gar nicht nach Smalltalk zumute. Er will nur in Ruhe hier sitzen und trinken, bis Grace kommt und ihm sagt, dass sie für heute Abend genug von dem ganzen Zirkus hat und sie nach Hause gehen können. Aber Grace ist gerade am anderen Ende des Raumes. Sie flirtet angestrengt mit einem rothaarigen Wesen, das fast genauso groß ist wie sie, und schenkt ihrem Mitbewohner nicht die geringste Beachtung. Jake unterdrückt einen weiteren Seufzer und versucht sich wieder auf Evie zu konzentrieren, die in der Zwischenzeit munter auf ihn einquasselt. Miesepetrig sein würde weder seine Laune noch seine Situation verbessern. Da kann er seiner neuen Partybekanntschaft zumindest etwas Aufmerksamkeit schenken. Grace bemängelt sowieso immer, dass er sich auf Partys nicht genügend Mühe gibt und wie ein Trauerkloß wirkt.

»Jake«, wiederholt sie langsam. »Was machst du hier?«

»Ich trinke.«

Evie lacht. »Nein, ich meinte, was machst du hier auf dieser Party?«

»Oh. Meine Mitbewohnerin hat mich mitgeschleppt. Sie hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, mir sämtliche übernatürlichen Wesen der Stadt vorzustellen. Nur sie selbst scheint mich plötzlich keines Blickes mehr zu würdigen. Sie ist übrigens da hinten.« Jake macht eine vage Handbewegung in Richtung der Ecke, aus der, wie aufs Stichwort, schallendes Gelächter erklingt, so laut, dass es sogar den seltsamen Jazz-Techno-Mix übertönt, der aus unsichtbaren Boxen dröhnt. Es kommt von Grace, die entweder den größten Spaß ihres Lebens hat oder auf Teufel komm raus versucht, bei ihrem Gegenüber zu landen. Bei dem Gedanken daran durchzuckt Jake ein seltsames Gefühl, das er nicht zuordnen kann. Es fühlt sich fast ein bisschen an wie Eifersucht. Aber das kann eigentlich gar nicht sein. Wahrscheinlich ist er es einfach nicht mehr gewohnt, nicht im Fokus von Graces Aufmerksamkeit zu stehen. Seit Grace und er zusammenwohnen, haben sie wirklich viel Zeit miteinander verbracht. Logisch also, dass er sich jetzt ohne die großgewachsene, wunderschöne und temperamentvolle Wendigo etwas verloren fühlt. Aber Jake will auch nicht klammern. Also tut er sein Bestes, um Grace aus seinen Gedanken zu streichen und wünscht sich stattdessen noch einen Whiskey.

»Dein Wunsch ist mir Befehl!«, hört er auf einmal eine unbekannte Stimme und ein weiteres volles Glas materialisiert sich in seiner Hand. Misstrauisch kostet Jake einen Schluck.

»Das ist ziemlich cool, oder?«, fragt Evie. »Unser Gastgeber muss ein Dschinn sein. Aber soweit ich weiß, hat ihn heute Abend noch niemand zu Gesicht gekriegt. Hey Gastgeber, kann ich einen Martini haben?« Der Cocktail taucht in ihrer Hand auf und Evie leert ihn sofort in einem Zug.

»Ah, das habe ich wirklich gebraucht … Wo waren wir gerade? Ach ja, übernatürliche Wesen. Da kann ich ja froh sein, dass du mich getroffen hast, oder so ähnlich. Ich bin nämlich auch eines. Eine Sukkuba, Dämon der Liebe, der Leidenschaft und blablabla.« Sie schneidet eine ironische Grimasse. »Und du bist?«

Jake beißt schon mal die Zähne zusammen, denn er weiß ganz genau, was jetzt kommt. Und er hasst es. Zutiefst.

»Ich bin ein Shifter. Ein Wolfswandler, um genau zu sein.«

Evies Augen werden groß und rund und sie lacht abermals auf, als sie zwei und zwei zusammenzählt. »Oh, du meinst so wie die in Twilight? Dann ist Jake bestimmt auch die Kurzform für Jacob, oder?« Sie rutscht etwas näher an ihn heran und legt ihm vertrauensvoll die Hand aufs Knie.

Jake muss dem Drang widerstehen, ihre Hand abzuschütteln. Er hat es nicht so mit Körperkontakt, außer bei Leuten, denen er wirklich vertraut. Leider ist ihm aber auch von klein auf immer eingetrichtert worden, dass es unhöflich ist, wenn man sich gegen »lieb gemeinte« Berührungen wehrt.

»Nein«, antwortet er stattdessen, »eigentlich steht es für Jacqueline.«

Evie reißt abermals die Augen auf, doch diesmal lacht sie nicht. »Oh, Verzeihung. Ich dachte … Ich meine … Ich wollte nicht …«

Jake lacht. Er lässt Evie noch eine Sekunde lang schmoren, bevor er sie aufklärt. »Ach so, du denkst, ich bin trans. Nein, ich bin cis. Es ist nur so, dass meine Eltern vor so ziemlich genau einundzwanzig Jahren der festen Überzeugung waren, sie würden ein Mädchen bekommen. Und sie hatten auch schon einen Namen ausgesucht, Jacqueline eben, wie Jacqueline Kennedy. Als aber ich aus meiner Momma herausgeploppt kam, war die Ratlosigkeit natürlich groß. Und der erstbeste Jungennamen, der meinem Paps eingefallen ist, war eben Jake.«

»Ich verstehe«, meint Evie in einem Tonfall, der klarmacht, dass sie eigentlich überhaupt nichts verstanden hat. »Das ist eine süße Geschichte. Fast so cute wie dein Akzent. Du kommst aus dem Süden oder irgend so etwas in der Art, oder?

»Aus Tennessee.«

»Oh wow, Tennessee. Das ist doch bekannt für … Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, wofür Tennessee bekannt ist.«

Gegen seinen Willen muss Jake schmunzeln. Zumindest ist Evie ehrlich. Und sie versucht auch nicht so sehr ihn anzumachen, wie er es von anderen Partybekanntschaften gewohnt ist. Das ist eine nette Abwechslung. Sie erspart es ihm, seinen üblichen Vortrag halten zu müssen. Er fängt langsam an, sich in ihrer Gegenwart wohlzufühlen.

»Für die Musik«, erklärt er und versucht dabei nicht allzu scheinklug zu klingen. »Rock’n’Roll und Blues vor allem. Du weißt schon, Walking in Memphis und so weiter.«

»Oh. Ja. Nein. Ich hab’s nicht so mit Musik. Ich meine, ich gehe gern in Clubs und so, wie halt jeder, aber eigentlich kenne ich mich mit Musik null aus. Ich studiere Mode. Und ich mag Martinis. Hey Gastgeber, krieg ich noch einen?«

Während Evie ihren zweiten Martini schlürft und Jake alles über ihr aktuelles Semester-Projekt erzählt, das irgendwas mit Miniröcken zu tun hat, merkt er, dass seine Aufmerksamkeit langsam abschweift. Vielleicht liegt es am Whiskey, aber sein Blick geht immer wieder weg von der freundlichen Sukkuba, die ehrlich an ihm interessiert zu sein scheint, und hinüber zu der Wendigo, die seine Mitbewohnerin ist und seine engste Vertraute in dieser Stadt, in der er sich auch nach drei Jahren oft noch fühlt wie ein Fremder.

Grace und er lernten sich in ihrem ersten Semester an der NYU kennen. Am Anfang waren sie wie Feuer und Wasser. Er, der nerdige Journalismus-Student, vom Typ her einsamer Wolf, und sie, die angehende Theaterschauspielerin, die unbedingt an den Broadway wollte und der es mühelos gelang, einen ganzen Raum in ihren Bann zu ziehen. Sie war ihm sofort unsympathisch, und dass er eines ihrer Theaterstücke in der Unizeitung verriss, brachte ihm bei ihr auch keine Pluspunkte ein. Doch dann traf er sie eines Nachts bei einem seiner Ausflüge in Wolfsgestalt. Wie fast alle Wolfswesen verspürt auch Jake häufig einen nahezu unbezwingbaren Drang nach der freien Natur. Nur ist die in einer zubetonierten Großstadt wie New York kaum zu finden. Außer natürlich, man geht in einen Park. Wie zum Beispiel den Central Park. Und dort fand sich Jake eines Nachts, als das Heimweh und die Sehnsucht nach seiner Familie zu schlimm und das Schnarchen seines Zimmergenossen zu laut war, um schlafen zu können, in seiner Wolfgestalt wieder. Er war gerade dabei, anständig sein Territorium zu markieren, als ein markerschütternder Schrei über die hohen Bäume und weiten Grünflächen des Parks hallte. Der Schrei eines verletzten Tieres. Ohne darüber nachzudenken, rannte Jake sofort darauf zu, und was er da am anderen Ende des Parks vorfand, überraschte ihn zutiefst. Grace. Sie war in ihrer anderen Gestalt und wirkte überlebensgroß. Ihre Augen leuchteten gelb und sie hatte sie zu winzigen Schlitzen zusammengekniffen. Offenbar hatte Grace wahnsinnige Schmerzen. Jake brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, aber dann sah er auch, warum. Irgendein Arschloch hatte mitten im Central Park Springfallen aufgestellt. Hässliche Dinger, aus Eisen und mit spitzen Zähnen, die nur notdürftig von den letzten Resten des Herbstlaubes kaschiert waren. Offenbar war Grace trotzdem reingetreten und die Falle war um ihr Bein zugeschnappt. Der Geruch von Blut lag in der Luft, vermischt mit einem schweren Moschusduft und dem Fliederparfüm, in dem Grace jeden Morgen zu baden schien. Sie hatte Schaum vor dem Mund und versuchte sich zu befreien. Als ihr das nicht gelang, stieß sie ein weiteres, langgezogenes Heulen aus, das Jake durch Mark und Bein ging.

In diesem Moment waren sämtliche Streitereien zwischen ihnen beiden vergessen. Jake wusste, dass er Grace helfen musste. So schnell er konnte, verwandelte er sich in einen Zweibeiner zurück. Leider gibt es ein Klischee über Wolfswandler und andere Shifter, das zu hundert Prozent wahr ist: Wenn sie sich verwandeln, lösen sich ihre Klamotten meistens in Luft – oder besser gesagt in tausende kleine Einzelteile – auf. Jake hatte deshalb schon früh gelernt, seine Klamotten auszuziehen und an einem sicheren Ort zu deponieren, bevor er sich verwandelte. Dementsprechend stand er jetzt splitterfasernackt da. Vor einer Kommilitonin, die ihm zwar nicht sympathisch war, die aber dringend seine Hilfe brauchte. Also tat er das, was jeder echte southern Gentleman getan hätte: Er bedeckte seine Kronjuwelen mit einer Hand, wartete, bis Grace sich beruhigte, und trat dann hinter sie, um ihr Bein aus der Falle zu befreien.

Grace stieß ein ersticktes Keuchen aus und fiel rückwärts um. Doch bevor Jake ihr weitere Hilfe anbieten konnte, war sie schon wieder aufgestanden. Ihre gelben Augen musterten ihn einen Moment lang, als wüsste sie nicht, woher sie ihn kannte. Dann plusterte sie sich auf, beschnupperte kurz die klaffende Wunde an ihrem Bein und hastete in großen Sätzen davon. Ohne ein Wort des Dankes. Aber das hatte Jake auch gar nicht erwartet. Denn Wendigo oder nicht, Grace blieb eine überhebliche Theatertussi.

***

Eine warme Hand, die wieder auf seinem Oberschenkel landet – deutlich höher dieses Mal –, reißt Jake aus dem Strudel der Erinnerungen, in dem er versunken war.

»Erde an Jake«, hört er Evie sagen. »Hey Jake, habe ich dich etwa ins Koma gelangweilt?«

Er fühlt sich ertappt und spürt, wie ihm das Blut ins Gesicht schießt. »Nein … nein, keine Sorge.«

Evie lacht und wirft den Kopf in den Nacken, wobei ihr langes dunkles Haar Jakes Schulter streift.

»Gut«, antwortet sie. »Das wurde mir nämlich schon oft vorgeworfen, weißt du. Dass ich zu viel rede, meine ich. Aber was soll ich machen? Ich finde mich selber viel zu interessant, um still zu sein. Und wenn ich rede, hat zumindest eine der Beteiligten Spaß.« Sie zwinkert ihm zu. »Und du?«, fragt sie dann wie aus dem Nichts.

»Ich was?« Mit einem Mal fühlt sich Jake gar nicht mehr so wohl in Evies Gesellschaft. Er hat eine ziemlich genaue Ahnung, worauf dieses Gespräch in Evies Augen hinauslaufen soll, und diese Ahnung gefällt ihm ganz und gar nicht.

»Findest du mich denn auch interessant?« Evies Hand auf seinem Oberschenkel wandert noch mal ein ganzes Stück weiter nach oben. Auch Evies restlicher Körper ist ihm mittlerweile zugewandt. Ihre Augen sind von einer faszinierenden, satten Purpur-Farbe, die Jake aber aus irgendeinem Grund an Graces Lieblingsfarbe Flieder erinnert. Bei dem Gedanken an Grace geht Jakes Blick wieder wie magnetisch angezogen hinüber zu der Ecke, in der er seine Mitbewohnerin zuletzt gesehen hat. Doch nun ist diese Ecke leer und Grace hat sich wahrscheinlich mit ihrer Bekanntschaft irgendwohin verzogen, wo sie … ungestörter sind. Dasselbe Gefühl von vorhin steigt wieder in ihm auf. Nur ist es dieses Mal viel stärker. So stark, dass er fast nicht atmen kann. Warum nur hat er sich von Grace auf diese Party schleppen lassen?

»Ich … ich hätte bitte gern noch einen Whiskey«, murmelt Jake verschämt und kann Evie plötzlich nicht mehr in die Augen schauen. Am liebsten würde er sofort gehen. Aber das wäre Evie gegenüber unhöflich und er kann Grace ja auch schlecht zurücklassen. Oder? In Momenten wie diesen verflucht Jake seine gute Erziehung.

Evie scheint zu merken, was gerade in ihm vorgeht. Sie seufzt leise und nimmt die Hand von seinem Oberschenkel.

»So viel dazu«, meint sie, klingt aber nicht allzu enttäuscht.

Jake stürzt seinen dritten Whiskey hinunter wie ein Verdurstender sein erstes Glas Wasser seit Tagen. Danach fühlt er sich etwas besser. Das Gefühl geht langsam zurück und er kann sich wieder auf etwas anderes konzentrieren als die plötzliche Enge in seiner Brust und sein laut pochendes Herz. Wie zum Beispiel auf Evie, die gar nicht mehr an ihm zu kleben scheint.

»Nein, Evie, warte. Lass mich erklären.« Er streckt die Hand aus, um sie am Gehen zu hindern, zieht sie aber sofort wieder zurück, als er merkt, dass Evie gar nicht vorhat zu verschwinden. Sie ist lediglich ein Stück von ihm abgerutscht und hat sich einen weiteren Martini geordert. »Es ist nämlich etwas kompliziert.«

***

Ein paar Tage nach ihrem nächtlichen Zusammentreffen begegnete er Grace zufällig in der Cafeteria. Es war gerade Klausurphase. Dementsprechend voll war es und der einzige freie Platz lag – natürlich – ausgerechnet neben ihr. Und auch der war nur frei, weil Grace zwei Stühle für sich beanspruchte und den Extrastuhl dafür benutzte, um ihr mittlerweile dick einbandagiertes Bein hochzulegen. Sie warf Jake einen finsteren Blick zu, als er den Stuhl wegzog und sich setzte, doch prostierte nicht weiter.

»Schön zu sehen, dass du es noch an einem Stück zurück zum Campus geschafft hast«, begrüßte er sie. »Nicht, dass ich mir Sorgen um dich gemacht hätte.« In Wirklichkeit hatte er genau das getan, aber das würde er niemals zugeben. »Übrigens gern geschehen. Es war mir eine Freude, dich zu befreien. Kein Dank notwendig.«

Zu seiner Überraschung wurde Grace rot. Vielleicht war Jake doch ein bisschen zu frech zu ihr gewesen.

»Wie geht’s dem Bein?«, setzte er nach.

»Danke, es geht. Die Wunde ist ziemlich tief, aber da du so schnell da warst, sind da zum Glück keine bleibenden Schäden zurückgeblieben. Ich kann weiterhin mit beiden Beinen auf der Bühne stehen … Danke übrigens dafür … Und sorry, dass ich einfach so abgehauen bin. Aber du weißt schon, Instinkte und so.«

»Verstehe. Kein Ding. Aber wenn du so ein schlechtes Gewissen deswegen hast, kannst du mir ja mal nen Kaffee spendieren.«

Grace warf ihm einem bösen Blick zu. »Jetzt übertreib mal nicht. Nur, weil du mir den Arsch, oder besser gesagt, das Bein gerettet hast, heißt das noch lange nicht, dass wir jetzt befreundet sind. Oder dass du irgendwelche Chancen bei mir hast. Nur so zur Info: Ich stehe auf Frauen. Und du bist immer noch ein Hinterwäldler, der nicht die Bohne von Theater versteht. Außerdem hätte ich es wahrscheinlich auch irgendwann geschafft, mich selbst zu befreien.«

Jake lachte. Irgendwie beruhigte ihn Graces Klarstellung. Zum einen, weil sie zeigte, dass ihre Begegnung im Park nichts zwischen ihnen geändert hatte. Zum anderen, weil ihm gerade überhaupt nicht der Sinn nach Liebe, Sex und anderem Gedöns stand.

»Das ist gut zu wissen. Ich verliebe mich nämlich immer nur in Menschen, mit denen ich befreundet bin. Und ich denke nicht, dass eine eingebildete Theatertussi wie du jemals dazu zählen wird. Außerdem ist mir absolut klar, dass du keine Damsel in Distress bist. Aber wer auch immer diese Fallen aufgestellt hat, muss ein absoluter Armleuchter sein und ich wäre genauso sehr ein Armleuchter gewesen, wenn ich dir nicht geholfen hätte.«

Grace runzelte die Stirn. »Wie das? Nicht, wieso wir beide nie befreundet sein werden. Da kann ich dir nur zustimmen. Sondern, wieso stehst du nur auf deine Freunde?«

Jake zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, gestand er. »Ich weiß auch nicht, ob der Ausdruck auf jemanden stehen wirklich auf mich zutrifft. Denn normalerweise stehe ich auf niemanden. Und damit meine ich wirklich niemanden. Ich kann es nicht ab, wenn jemand mich anfasst. Sogar Umarmungen sind mir ein Graus, von den Wasserfällen an Wangenküsschen, auf die ihr Theaterfuzzis so steht, ganz zu schweigen. Aber im Ernst, von alledem, was ich gerade gesagt habe, interessiert dich das am meisten?«

Grace warf ihm einen weiteren bösen Blick zu. »Ja, denn ich will neulich Abend so schnell wie möglich vergessen. Diese Falle zu übersehen, war so ein Anfängerfehler.« Sie errötete ein bisschen. »Also, zurück zu dir: Das heißt, du bist was? Asexuell und aromantisch? Du stehst auf niemanden und verliebst dich auch in niemanden?«

Darüber musste Jake erst einmal nachdenken. Sein Mittagessen war mittlerweile kalt geworden, aber das war ihm egal. Auch fragte sich ein Teil von ihm, wieso er so etwas Persönliches überhaupt mit einer Person besprach, die er noch nicht einmal leiden konnte. Aber irgendwie machte genau das es auch leichter. Jake brauchte sich nicht darum zu kümmern, ob Grace ihn auslachen oder für abgedreht halten würde. Das tat sie wahrscheinlich sowieso schon.

»Das Erste würde ich definitiv bejahen«, antwortete er ihr deshalb. »Was das Zweite betrifft, bin ich mir nicht so sicher. Ich war in der Vergangenheit schon verknallt in Menschen. Es ging nur leider nie gut für mich aus. Meistens entwickle ich irgendwie Gefühle für meine Freunde. Oder Freundinnen, je nachdem. Vielleicht sind diese Gefühle auch vorher schon da und ich check’s nur nicht? Keine Ahnung. Jedenfalls, sobald ich verknallt bin, kann ich nicht aufhören, an jemanden zu denken. Ich würde alles dafür tun, dass die Person glücklich ist. Aber ob das Liebe ist? Who knows. Wo ist denn eigentlich der Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe? Ich hab das noch nie kapiert. Für mich ist da keine festgelegte Grenze. Es ist mehr so ein Kontinuum. Aber ich glaube, ich bin der Einzige, der das so sieht.«

Jake merkte, dass er viel zu viel von sich preisgegeben hatte. Gleich würde Grace ihm an den Kopf werfen, was für ein jämmerlicher Loser er doch war. Doch Grace tat nichts dergleichen. Sie legte nur Gabel und Messer beiseite, als wären sie im Restaurant des Museum of Modern Arts und nicht in der Kantine der NYU, in der es nach Prüfungsangst und altem Fett stank.

»Du bist bestimmt nicht die einzige Person, die das so sieht«, meinte sie und klang dabei ausnahmsweise fast nett. »Aber es klingt für mich tatsächlich so, als wärst du ace, also asexuell. Oder zumindest demisexuell. Ich hab dazu erst neulich was gelesen. Demisexuelle Menschen fühlen sich zu anderen Menschen hingezogen, aber nur sobald sie eine Art emotionale Beziehung zu ihrem Gegenüber aufgebaut haben. Und für mich klingt das so wie das, was du gerade erzählt hast. Daten ist nicht, oder zumindest erst, nachdem man sich besser kennt. Und dasselbe gilt fürs Vögeln.«

Jake konnte Grace nur anstarren. Das traf den Nagel so ziemlich auf den Kopf.

»Ich bin dann wohl … demi«, murmelte er und testete, wie sich dieses neue Wort, diese neue Identität anfühlte.

Grace lächelte und tätschelte kurz seine Hand. Jake war zu erstaunt, um sie noch rechtzeitig wegzuziehen.

»Hey!«, protestierte er nachträglich.

»Sorry, ich weiß, du bist nicht so touchy-feely, wie wir ›Theaterfuzzis‹.« Sie malte mit den Fingern ironische Anführungszeichen in die Luft. »Aber im Ernst, nicht ungefragt angefasst werden zu wollen, ist absolut valide. Ich werde in Zukunft versuchen, mich dran zu halten.«

Das hatte Jake so noch nie gehört. Sonst hatten ihn die Menschen in seinem Umfeld immer bedrängt, dass er sich doch nicht so haben sollte. Für einen Moment machte ihn das sprachlos. »Danke«, antwortete er dann.

»Sieht so aus, als würdest du gerade eine ziemliche Epiphanie erleben. Ich lass dich dann mal besser allein.« Grace stand mühsam auf und balancierte auf ihrem gesunden Bein. »Ach übrigens, so von einem Wolfswesen zum anderen, es gibt am Wochenende eine Party, auf der nur übernatürliche Wesen eingeladen sind. Wenn du willst, bring ich dich da rein. Das würde es mir ersparen, mir deine Besserwisserei einen ganzen Kaffee lang anhören zu müssen.« Damit war Grace davongehumpelt und Jake hätte sich nie träumen lassen, dass aus diesem Gespräch die wohl intensivste Beziehung seiner College-Zeit entstehen würde.

***

»Tja, jetzt weißt du Bescheid«, schließt Jake seine Erzählung. »Ich bin demi. Mit Interesse an mehreren Geschlechtern übrigens. Aber einfach so vögeln ist bei mir nicht, sorry.«

»Du meinst so, wie es deine Mitbewohnerin wahrscheinlich gerade tut?« Evies Stimme ist neutral. Jake ist sich ziemlich sicher, dass sie ihn mit der Frage nicht verletzen will. Trotzdem schneidet er eine Grimasse. Evies Hand landet wieder auf seinem Knie. Nicht aufdringlich dieses Mal, sondern beruhigend, tröstend. »Das gehört zu meinen Fähigkeiten als Sukkuba, weißt du? Ich kann die sexuelle Energie eines Raumes lesen und steuern, wenn ich will.«

»Oh, wow. Das muss … Ich habe keine Ahnung, wie das für dich sein muss.«

»Es ist die meiste Zeit über eigentlich ziemlich nervig. Besonders, wenn man mit fünf anderen Menschen zusammenwohnt, die in diesem Bereich alle sehr aktiv sind. Es ist ein bisschen so, als würde ein kleiner Teil meines Gehirns ständig einen Porno gucken. Und es turnt einen mit der Zeit ganz schön ab. Ich habe aber noch eine andere Fähigkeit, und die ist ziemlich nice. Ich kann nämlich auch die Herzen von Menschen lesen. Und dein Herz sagt mir, dass du ganz schön in deine Mitbewohnerin verliebt bist.«

»Ich … was? Nein. Grace ist meine Freundin. Vielleicht die beste, die ich bis jetzt hatte. Und sie ist meine Mitbewohnerin. Sie ist …« Jake weiß nicht, wie er den Satz fortsetzen soll. Aber das muss er zum Glück auch gar nicht.

»Sorry, wenn ich jetzt ein bisschen direkt und grob zu dir bin«, nimmt Evie ihm die Antwort ab. »Aber darf ich dich fragen, was dich und deine Mitbewohnerin überhaupt verbindet? Ich meine, ich kenne sie nicht und will mich auch gar nicht in deine Angelegenheiten einmischen, aber für mich klingt das, was du mir bis jetzt von ihr erzählt hast, nicht nach einer großartigen Freundschaft.«

»Hmm … das war sie am Anfang auch gar nicht. Im Gegenteil. Ich konnte Grace damals überhaupt nicht ab. Und sie mich auch nicht. Wir sind immer wieder aneinandergeraten. In der Uni. Auf Partys. Im Park. Und je mehr wir versucht haben, uns aus dem Weg zu gehen, um so öfter haben wir uns getroffen. Irgendwann haben wir dann wohl gemerkt, dass wir gar nicht so verschieden sind. Wir haben angefangen zu reden, ohne uns alle fünf Sekunden an die Kehle zu gehen. Über das Wolfssein, das uns verbindet. Über unsere verschiedenen sexuellen Orientierungen. Gerade damit hab ich ihr wohl ziemlich ein Ohr abgekaut.« Bei dem Gedanken an den verbalen Arschtritt, den Grace ihm verpasste, als er das Thema zum x-ten Mal aufs Tapet brachte, muss Jake schmunzeln. »Das alles war für mich nicht leicht und Grace hat mir da durchgeholfen. Sie ist nämlich gar nicht so eine überhebliche, eingebildete Tussi, wie ich zuerst gedacht habe. Sie ist leidenschaftlich. Sie hat Spaß an dem, was sie tut. Und dieser Spaß ist ansteckend. Und manchmal auch ziemlich anstrengend. Wenn man einmal in ihrem Dunstkreis ist, kommt man da nur schwer wieder raus. Irgendwann habe ich dann gemerkt, dass ich sehr gerne Zeit mit ihr verbringe, auch wenn sie manchmal immer noch sehr anstrengend sein kann. Es beruhigt mich irgendwie, sie um mich zu haben. Bei ihr kann ich mich auskotzen, wenn ich einen schlechten Tag habe, oder unruhig bin, weil der Wolf in mir raus will. Sie tritt mir in den Arsch, falls es nötig ist. Sie … eigentlich bin ich mir gar nicht mal so sicher, warum wir überhaupt befreundet sind. Es hat sich einfach so entwickelt. Macht das Sinn?«

»Oh, wow. Ja, total. Das klingt wirklich … beneidenswert. Ich war immer der Meinung, dass die besten Freundschaften die sind, die einfach so passieren, ohne dass man genau weiß, warum. Und ich verstehe auch irgendwie, wieso du in sie verliebt bist. Das klingt alles sehr cozy mit euch beiden.«

Der Ausdruck bringt Jake zum Lachen. Grace würde jegliche Wesen zum Frühstück verspeisen, die es wagen würden, ihr irgendeine Form von Gemütlichkeit zu unterstellen. Dazu ist sie viel zu sehr ein Wirbelwind. Ein Wirbelwind, der ihn immer wieder dazu bringt zu wachsen, sein Bestes zu geben und der ihn zurechtweist, wenn er mal ein Arsch ist. Denn irgendwie ist Grace auch ein bisschen sein Gewissen. Aber das klingt definitiv viel zu kitschig, als dass er es jemals laut sagen würde.

»Ich fühle mich wohl mit ihr«, antwortet er stattdessen. »Ich vertraue ihr. Und sie respektiert mich auf eine Weise, wie ich es zuvor noch nie erlebt habe. Aber ob das schon Liebe ist? Ich habe mal wieder keine Ahnung. Ich glaube, ich muss da noch über so einiges nachdenken.«

Evie lächelt und tätschelt noch einmal mitfühlend sein Knie. »Sieht ganz so aus.«

»Ja. Ja. Danke übrigens. Dass du mir zugehört hast und so. Ich hoffe, ich hab dich nicht zu sehr gelangweilt.« Langsam beginnt Jake den ganzen Whiskey zu spüren. Er sollte besser aufstehen und sich bewegen. »Ähm, weißt du zufällig, wo hier das Bad ist?«

»Den Flur runter und dann links, glaube ich. Du kannst es eigentlich nicht verfehlen. Unser Gastgeber hat einen sehr eigenwilligen Geschmack, was Deko betrifft.«

»Danke. Ich bin gleich wieder da.«

Im Bad wäscht Jake sich erstmal gründlich die Hände und das Gesicht. Ihm ist warm und ein bisschen schwindlig. Und seine Gedanken kreisen. Ist er wirklich verliebt in Grace? Hoffentlich nicht. Denn das würde zwischen ihnen alles so viel komplizierter machen. Aber Grübeln bringt ihn in diesem Moment auch nicht weiter. Besser, er sucht Grace und überredet sie dazu, nach Hause zu gehen. Er will nur noch ins Bett und schlafen. Wenn er Glück hat, sind seine plötzlichen Gefühle für Grace auch nur dem Alkohol oder den Hormonen geschuldet und morgen früh bei Tageslicht auch wieder verschwunden.

Zum Glück muss Jake auch gar nicht lange nach seiner Mitbewohnerin suchen, denn sie wartet schon im Flur auf ihn.

»Hey, da bist du ja«, begrüßt sie ihn und ein warmes Gefühl macht sich in Jake breit. Ein Gefühl, das hoffentlich Freundschaft ist und nichts anderes.

»Hey, alles okay? Du siehst ziemlich kaputt aus.«

Es kostet Jake eine Menge Kraft, aber er ringt sich ein Lächeln für sie ab. »Alles okay. Ich bin nur ziemlich platt. Können wir langsam gehen?«

»Ja, ich bin auch erledigt.« Sie will sich bei ihm unterhaken, doch er schüttelt sie ab und versucht die Gänsehaut zu ignorieren, die sich bei dem Kontakt seiner Haut mit ihrer an seinem ganzen Körper bildet.

»Wir treffen uns draußen, okay? Ich will mich noch von jemandem verabschieden.«

Grace wirft ihm einen fragenden Blick zu, gibt aber ausnahmsweise keinen Kommentar ab. Stattdessen geht sie in Richtung Garderobe und er kehrt zu seinem Stammplatz, der Couch, zurück. Zu seiner Enttäuschung ist Evie verschwunden. An ihrer Stelle findet er nur ein pinkes, herzförmiges Post-It mit einer Telefonnummer vor. Jake faltet es vorsichtig und steckt es in seine Hosentasche. Mit einem Mal ist er doch froh, heute Abend auf die Party gekommen zu sein. Auch, wenn er gerade festgestellt hat, dass er offenbar Gefühle für seine beste Freundin hat. Gefühle, von denen er weiß, dass sie nicht erwidert werden und die er auch gar nicht haben will. Aber so ist nun mal sein Leben. Es ist nicht das erste Mal, dass ihm so etwas passiert und vermutlich auch nicht das letzte. Er wird jetzt nach Hause gehen und sich ordentlich ausschlafen. Und morgen früh wird er eine Liste machen, mit all den Dingen, die er an Grace nicht mag und allen Gründen, warum eine Beziehung zwischen ihnen nicht nur unmöglich, sondern auch eine absolut furchtbare Idee wäre. Und wenn das nicht gegen seine Verknalltheit hilft, dann wird er eben abwarten. Jake ist sich sicher, dass seine Gefühle in ein paar Tagen so plötzlich verfliegen werden, wie sie gekommen sind. Und wer weiß, vielleicht wird er dann Evie anrufen und sie können sich gemeinsam über die Menschen aufregen, mit denen sie zusammenwohnen.

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Jenny Cazzola, eweisprachig, Waisenkind und bisexuell, das ist Jenny Cazzola, Jahrgang 1996. Sie sitzt im Rollstuhl, arbeitet im Marketing und träumt von einer Welt, in der alle gleich viel wert sind. Das Mittel ihrer Wahl um dieses Ziel zu erreichen, ist das Schreiben. Sie ist der Meinung, dass das Leben selber die schönsten und die schrecklichsten Geschichten schreibt, deshalb schreibt sie am liebsten Young und New Adult und über ihr eigenes Leben. Wenn die gebürtige – und immer noch dort lebende – Südtirolerin ihre Nase nicht gerade in Bücher steckt, oder lauthals deutsche Punksongs grölt, surft sie im Internet. Jenny ist die selbsternannte Queen of Kurzgeschichten und hat schon mehrere ihrer Geschichten in Anthologien veröffentlicht. Besonders stolz ist sie auf ihre Beteiligung an »Urban Fantasy: Going Intersectional« von Aşkın-Hayat Doğan & Patricia Eckermann.

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