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»MENSCHEN MIT NAZIHINTERGRUND«? – Tiefpunkte deutscher Erinnerungskultur
ОглавлениеAm 15. Februar 2021 diskutierten die 1993 in Afghanistan geborene und in Hamburg aufgewachsene Künstlerin und Kolumnistin Moshtari Hilal und der aus Sri Lanka stammende, 1985 in Coburg geborene Essayist und politische Geograf Sinthujan Varatharajah rund zwei Stunden auf einem Instagram-Kanal zum Thema »Kapital und Rassismus bei Menschen mit Nazihintergrund«1. Dabei wiesen sie in Deutschland lebende Personen pauschal zwei Gruppen zu: Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Nazihintergrund. Dass das extrem provozierte, war beiden bewusst, denn sie förderten den Effekt noch, indem sie sich dazu verabredeten, passend zum Diskussionsgegenstand braune Pullover überzuziehen.
Ihre persönliche Motivation, diese Einteilung vorzuschlagen, lässt sich schnell aus ihrem per Video geführten Gespräch ableiten. Sie zeigen sich genervt davon, dass sie mit dem Stigma »Migrationshintergrund« leben müssen, der sich den Zuschauern allerdings nur aufgrund von äußeren Merkmalen erschließen lässt, denn beide tun scheinbar viel dafür, um deutsch und angepasst zu wirken. Hilal beschwert sich in sauberem Hochdeutsch und politisch korrekter Gender-Sprache darüber, dass hiesige Historiker*innen [sic!] immer nachlässiger arbeiten würden, weil sie den Zusammenhang zwischen zeitgenössischem und nationalsozialistischem und kolonialdeutschem Rassismus nicht erkennen würden. Varatharajah, dessen Bruder Senthuran als Schriftsteller beachtenswerte Preise für sein feines literarisches Gespür der deutschen Sprache gewonnen hat, redet mit deutlichem oberfränkischem Akzent und ebenfalls in sauberem Gender-Neusprech. Auch er kritisiert zuvorderst die ungenügende Geschichtsvermittlung zum Zweiten Weltkrieg. Als erstes Beispiel für eine dringend notwendige Vertiefung des Themas in unserer Gesellschaft nennt er die Firma Bahlsen, die Wehrmachtsoldaten mit Keksen beliefert und dadurch unverkennbar den NS-Apparat gestützt habe. Er findet es schlimm, dass in Dokumentationen, die hierzulande über den Zweiten Weltkrieg laufen, immer wieder Trümmerfrauen in Ruinen als Opfer gezeigt werden. Niemanden würde es interessieren, dass diese eben noch in der NSDAP gewesen seien. Das Ablegen ihrer Ideologie mit Kriegsende nimmt er ihnen nicht ab. Das sehe er ihnen anhand der gehässigen und feindseligen Ausdrücke an, mit denen sie auf die alliierten Kameraleute reagieren.
Hilal und Varatharajah diskutieren über deutsche Geschichte in gelassenem Plauderton und kommen dabei trotz der verqueren Inhalte authentisch und sympathisch rüber, sodass man ihnen das fehlende oder völlig missinterpretierte Wissen über die Deutschen im Zweiten Weltkrieg sowie ihre Nichtdifferenzierung zwischen Nazis einerseits und Soldaten und Zivilisten andererseits kaum krummnehmen kann. Sie wirken insgesamt nicht, als würden sie anecken wollen oder eine böse Absicht verfolgen. Ihnen scheint es wirklich ernst, und sie wähnen sich dabei während des gesamten Talks auf einer moralisch sicheren Seite. Beide haben anscheinend aufgrund ihres Migrationshintergrundes bei gleichzeitiger völliger Angepasstheit ein Problem mit ihrer Identität entwickelt, ohne zu bemerken, dass dies ein Kernproblem der gesamten, vor allem aber auch der »biodeutschen« Gesellschaft ist. Dabei gibt Varatharajah sogar preis, dass er sich durch die Geschichtsvermittlung des deutschen Bildungswesens sehr schnell selbst schuldig gefühlt hat und sich geschämt hat, in diesem Land zu leben.
Die Unsicherheit, aus der heraus die beiden diskutieren, versteht man umso besser, wenn man versucht, sich auf ihre Perspektive einzulassen, und gleichzeitig weiß, dass das vermittelte Bild deutscher Geschichte in hiesigen Medien auf die Gräueltaten der Nazis im Dritten Reich fokussiert ist und kaum Multiperspektivität zulässt. Dem Konsens ihres Gespräches kann man entnehmen, dass Hilal und Varatharajah es als gerecht empfänden, wenn fortan Deutsche, die nicht durch das vermeintliche Stigma eines Migrations- oder eines anderen Minderheitenhintergrundes belastet sind, einfach stattdessen angeben würden, sie seien Menschen mit Nazihintergrund, um dadurch eine Art gleiche Ebene für alle herzustellen. Das mag ihnen kurzfristig Erleichterung im Umgang mit sich selbst verschaffen, trägt aber weder zur Lösung der Identitätsprobleme von Deutschen noch von hier lebenden Migranten bei. Was den Diskutanten während ihres Talks, in dem sie nicht ein einziges Mal tatsächlich auf ihre familiäre Migrationsgeschichte eingehen, nicht bewusst wird, ist, dass sie durch ihren Vorschlag genauso wenig differenzieren wie die Menschen, denen sie womöglich vorhalten, sie selbst nur aufgrund ihrer Herkunft zu bewerten. Nun ist allerdings ein Migrationshintergrund für die meisten, die ihn besitzen, gar kein Stigma und im allgemeinen Verständnis nichts Schlimmes. Ein Nazi – und damit ein Nazihintergrund – ist das aber auf jeden Fall. Die größte Beleidigung, auch wenn es sich längst inflationär eingebürgert hat, ist es für einen Deutschen immer noch – oder sollte es sein –, wenn man ihn zu Unrecht als Nazi bezeichnet. Hilal und Varatharajah begehen den Fehler, in ihrer Argumentation das zu übernehmen, was ihnen in dieser Gesellschaft medial und politisch allzu oft suggeriert wird, nämlich dass alle Deutschen, die in der Zeit des Dritten Reiches gelebt haben, Nazis und Täter gewesen sein müssen. Die beiden wissen es nicht besser, und ihnen fehlt an dieser Stelle mit Sicherheit auch genau das, was sie von »biodeutschen« Familien erwartet hätten: Gespräche mit eigenen Verwandten, die den Nationalsozialismus erlebt haben. Vielleicht können sie sich einfach nicht vorstellen, dass genau diese kaum oder gar nicht geführt wurden. Andererseits hätten beispielsweise deutsche Medien, die wegen hoher Klickzahlen und vereinzelter Shitstorms auf den Instagram-Talk aufmerksam geworden sind, aufklären können; daraus hätte sich ein spannender und wertvoller Dialog ergeben können. Möglicherweise hätten Hilal und Varatharajah erfahren, dass die Erlebnisse ihrer eigenen Eltern, die aus Afghanistan und Sri Lanka geflüchtet sind, eine Menge Parallelen zu den Lebenswegen der nächsten Verwandten vieler ihrer deutschen Mitmenschen aufweisen, die genau aus demselben Grund an Identitätsproblemen leiden, die intergenerationelle Gespräche verhindert haben. Aufgrund fehlender Aufklärung in Medien und Schule wissen Hilal und Varatharajah vermutlich gar nicht, dass zwischen 1944 und 1947 14 Millionen Deutsche mit Gewalt aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Vielleicht hat ihnen nie jemand erzählt, dass dabei über zwei Millionen unschuldige Frauen, Kinder und alte Menschen ermordet und dass an Deutschen in dieser Zeit schreckliche Massaker verübt wurden. Nicht, dass mindestens zwei Millionen deutsche Frauen und Mädchen vergewaltigt worden sind. Sie hätten sonst sicher ihre Meinung darüber, welche Personenkreise im Zweiten Weltkrieg Opfer und welche Täter waren, differenzierter ausgedrückt und von sich aus auf ihre Wortneuschöpfung »Menschen mit Nazihintergrund« für die vielen Nachfahren der Deutschen mit Opferhintergrund verzichtet.
Doch medial wurde hier nicht moderiert, vielleicht, weil hiesige Medienvertreter nicht mutig genug sind, das Thema differenziert aufzugreifen, oder selbst »biodeutsche« Journalisten wissen es tatsächlich nicht besser. Ein Beispiel dafür gibt uns die Redakteurin Jule Hoffmann in ihrem Artikel »Deutsch und damit nicht normal«2, erschienen in der Zeit am 12. März 2021, der sich auf das Gespräch zwischen Hilal und Varatharajah bezieht. Hoffmann hält darin die Anwendung des Begriffs »Mensch mit Nazihintergrund« nämlich für zutreffend. Er könne dabei helfen, dass sich die deutschen Nachkriegsgenerationen ihrer historischen Verantwortung stellen. Niemand, dessen Eltern oder Großeltern im Dritten Reich gelebt haben, könne etwas dagegen einzuwenden haben, meint sie und schreibt:
Es ist ein Riesenunterschied, ob ich mir eine Dokumentation über die Deutschen im Zweiten Weltkrieg ansehe, eine Gedenkstätte für Verfolgte der NS-Zeit besuche – oder ob ich mir sage: Ich bin ein Mensch mit Nazihintergrund. Man sage es ein paar Mal vor sich hin, um festzustellen: Die NS-Geschichte rückt einem sehr viel näher […] Die Bezeichnung »Menschen mit Nazihintergrund« leuchtet mir sofort ein. Fast wundere ich mich, dass ich sie in diesem Instagram-Talk zum ersten Mal gehört habe.3
Passenderweise brauchte ausgerechnet Hoffmann selbst sich den Begriff gar nicht erst zu eigen zu machen, denn zumindest auf den einen Teil ihrer Großeltern trifft das Etikett nicht zu. So schreibt die Journalistin, ihre Oma habe etwa beim gescheiterten Attentat auf Hitler durch Stauffenberg geweint und ihr Opa habe als Pfarrer mehrmals versucht, Deportationen zu verhindern. Mit dem anderen Großelternpaar habe sie zwar kaum selbst reden können, wisse aber über ihre Mutter, dass der Großvater ein harmloser Funker in Italien gewesen sei, der heimlich Gespräche von Generälen abgehört habe. Er sei wie seine Frau völlig unpolitisch und ländlich gewesen. Dennoch möchte Hoffmann darauf nicht stolz sein, denn schließlich könnten ihre Großeltern theoretisch zum Beispiel bei von Nazis nach Deportationen veranstalteten »Judenauktionen« jüdisches Geschirr oder Bettwäsche erworben haben. Dazu schreibt sie weiter:
Übrigens überkommt mich, noch während ich das schreibe, ein sehr ungutes Gefühl dabei, dass ich meine Großeltern hier öffentlich schlimmer Dinge verdächtige, ohne zu wissen, ob ich ihnen damit Unrecht tue. Aber wahrscheinlich deutet sich hier das Problem schon an: Auch kleine Verdachtsmomente wiegen so schwer, dass sie innere Abwehrreflexe auslösen.4
Im unbegründeten Zweifel also trotzdem gegen den Angeklagten? Hoffmann, die sich nach eigenen Angaben bei einem Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel dafür geschämt hat, in einer deutschen Reisegruppe zu stehen, beklagt außerdem, dass sie bisher von niemandem gehört habe, der offen zugegeben hätte, dass seine Großeltern Nazis gewesen sind. Daraus leitet sie ab, dass Großeltern eben alle geschwiegen hätten. Ihr fehlten zum Beispiel Bekenntnisse der Großelterngeneration zu Kämpfen mit Gewehr und Panzerfaust – warum dies ein Indiz für eine Nazigesinnung sein könnte, erwähnt sie nicht. Nun sind fast sämtliche Zeitzeugen der Kriegsgeneration verstorben, auch Hoffmanns Großeltern. Sie schreibt:
Ich kann sie also nicht mehr fragen. Aber die berühmte Klage über das Wegsterben der Zeitzeugen – ist die nicht ohnehin heuchlerisch? Ich bin nicht sicher, ob ich sie je unumwunden gefragt hätte. Ob ich das geschafft hätte. Und ob ich je eine richtige Antwort erhalten hätte.5
Damit fasst Hoffmann immerhin das grundlegende Problem zusammen, dem sie selbst verfallen ist: Die Zeitzeugen sind weg, und der Großteil ihrer Nachfahren hat sich nicht getraut, mit ihnen zu sprechen. Sie hatte also gar nicht mitkriegen können, dass viele Großeltern genau deswegen geschwiegen haben, weil sie Angst gehabt oder sogar die Erfahrung gemacht haben, von jüngeren Menschen zu Unrecht als Nazi verurteilt zu werden. Im Umkehrschluss ist das der Grund, warum wir heute mit so vielen Einschätzungen falschliegen, denn zweifelsfrei halten sich Vorurteile über die Kriegsgeneration hartnäckig, die jedoch den historischen Fakten und Erkenntnissen nicht entsprechen. Diesen nach ist die absolute Mehrheit der Deutschen nämlich im Zweiten Weltkrieg weder Nazi noch Verbrecher gewesen, hat den Holocaust nicht zu verantworten gehabt und auch nicht von Massenmorden und Vergasungen in Vernichtungslagern gewusst. Das macht die Gräueltaten keinen Deut besser oder ungeschehen, sollte uns aber grundlegende Erkenntnisse und Hinweise darüber liefern, wie das NS-Regime funktioniert hat und wie das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte geschehen konnte.
Um dies präzise zu analysieren und daraus die richtigen Konsequenzen für unsere Gegenwart und Zukunft zu ziehen, ist die Vermittlung der Tatsachen wichtiger als jede falsche Scham davor, die Thematik anzugehen: Die Mehrheit der Deutschen hat nie frei die NSDAP gewählt, und von denen, die es getan haben, handelten die wenigsten aus bösen Motiven, mit exklusivem oder auch nur vermutetem Wissen darüber, was die Nazis ab 1942 beschließen und in Gang setzen würden. Mittlerweile lebt wahrscheinlich niemand mehr, der die NSDAP überhaupt gewählt hat. Und dennoch bleiben die Vorurteile bestehen gegenüber allen, die damals gelebt haben und die heute noch unter uns sind. Das betrifft im Besonderen sämtliche Angehörige der Generation der Kindersoldaten, die in den folgenden Kapiteln ihre persönliche Geschichte preisgeben. Falls aber doch noch jemand einen Deutschen daran bemessen will, ob er in der Lage gewesen wäre, die Nazis zu wählen, sei hier abschließend die einfache mathematische Feststellung erlaubt: Der- oder diejenige müsste mindestens 1913 geboren worden sein, um mit den notwendigen 20 Jahren an den Wahlen 1933 teilnehmen zu können. Damit müsste eine solche Person heute wenigstens 108 Jahre alt sein.