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»GELOBT SEI, WAS HART MACHT!« – Annäherung an die verlorene Generation
ОглавлениеDie Möglichkeiten, Zeitzeugen über das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg zu befragen, neigen sich 2021 dem Ende zu. Sie sind nahezu ausgeschöpft, und in wenigen Jahren gehören sie selbst der Geschichte an. Heute können wir diesen Zeitraum nach neueren Definitionen nicht einmal mehr der Zeitgeschichte zurechnen, unter der entsprechende Bücher noch um die Jahrtausendwende in Bibliotheken einsortiert wurden. Denn die dynamische Einordnung dieser Epoche setzt voraus, dass ein bedeutender Teil der Angehörigen einer Gesellschaft die im Untersuchungsfokus einer Publikation stehende Zeit aktiv miterlebt hat. Das können wir für das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg nicht mehr annehmen. Ein Soldat, der 1939 in Polen gekämpft hat, muss heute mindestens 100 Jahre alt sein. Allein Menschen zu befragen, die während der Zeit des Nationalsozialismus erwachsen wurden, ist nicht mehr leicht. 94 Jahre sind Voraussetzung dafür.
Was uns heute bleibt, sind Zeitzeugen, die den Zweiten Weltkrieg als Kind erlebt haben und die Auskunft geben können über ihre kindlichen Erfahrungen mit Luftangriffen, zerbombten Städten, Konzentrationslagern, Flucht und Vertreibung, Mitgliedschaft in der Hitlerjugend (HJ) oder Schule in der NS-Zeit. Schon bedeutend schwieriger ist es, Zeitzeugen zu finden, die noch als Soldaten aktiv im Krieg gekämpft haben, die also über das Soldatenleben, das Töten und Sterben an der Front, die Teilnahme an bestimmten Schlachten, die Auseinandersetzungen mit dem Feind oder von der Verwendung spezifischer Waffen oder militärischer Fahrzeuge aus erster Hand berichten können. Um dazu noch aussagekräftige Informationen zu erhalten, müssen sich Historiker auf die Generation der damals minderjährigen Soldaten konzentrieren. Das ist ein Nachteil für zum Beispiel Militärhistoriker, da sie sich dabei auf Schlachten beschränken müssen, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs stattgefunden haben, also maßgeblich jenen auf deutschem beziehungsweise ehemaligem deutschem Boden. Eine bedeutende Chance und Herausforderung dagegen bietet sich Wissenschaftlern, die eine Gruppe in den Untersuchungsfokus rücken, die bisher in der Geschichtswissenschaft viel zu wenig Beachtung gefunden hat, die aber gerade aufgrund ihres charakteristischen Alters über ganz außergewöhnliche und einzigartige menschliche Erfahrungen im Krieg berichten kann. Die minderjährigen Soldaten des Zweiten Weltkriegs können uns heute Lebenden noch Antworten auf viele drängende Fragen geben, um diese Epoche vollständig zu erschließen. Auch wenn die Kindersoldaten zu jung waren, um auf der militärischen Leiter emporzuklettern, wenn sie keine Ritterkreuze und andere hohen Auszeichnungen trugen, wenn sie in der Regel nicht dem Widerstand angehörten, weil sie für all dies zu jung waren, so kämpften sie aber mit Gewehr, Handgranate oder Panzerfaust auf dem Schlachtfeld. Dabei waren sie noch nicht erwachsen, doch auch nicht mehr Kind, oder sind vielleicht erst durch ihre Teilnahme am Krieg überhaupt zur Mündigkeit gereift. Die heranwachsenden Soldaten des Zweiten Weltkriegs haben vieles von dem erlebt und durchgemacht, was auch die erwachsenen durchlebten. Sie haben getötet, sie wurden verwundet, sie haben furchtbaren Gemetzeln beigewohnt, in denen viele ihrer Kameraden ihr Leben lassen mussten. Sie wurden selbst verletzt, kennen die militärischen Kommandos, die Taktiken des Feindes, die Aufregung vor einem Angriff, die Wut und die Trauer nach dem Tod eines Kameraden und die Not und den Hunger in der Gefangenschaft.
Doch diese Zeitzeugen verfügen darüber hinaus über spezielle eigene Sichtweisen: Auf der einen Seite haben sie den Krieg mit den teilweise naiven Augen eines Pubertierenden durchlebt, der sich selbst für unverwundbar hält und sich leicht überschätzt. Auf der anderen Seite hat man sie aus genau diesem Grund zu Soldaten gemacht. Hitlers minderjährige Kämpfer waren einer auf Zerstörung getrimmten Kriegspropaganda ausgesetzt wie sonst kein anderer. Im Ergebnis sahen sich am Ende des Zweiten Weltkriegs sowjetische oder amerikanische Soldaten wild entschlossenen und dabei teilweise hervorragend ausgebildeten Halbwüchsigen gegenüber, die ihnen in ihrer Bereitschaft, sich selbst zu opfern, noch schmerzliche Verluste zufügten. Als sich nach der Kapitulation die letzten deutschen Soldaten ergaben, standen vor den Alliierten Jungen mit Milchgesichtern und viel zu großen Stahlhelmen. Nun sollten die Siegermächte entscheiden, was mit den Halbwüchsigen, die in Fantasieuniformen steckten und nicht mal im Stimmbruch waren, geschehen sollte. Im Gegensatz zu den Kriegskindern, jener Generation der zwischen 1930 und 1945 Geborenen, die sich als vom Sieger befreit fühlen sollten, schlug den Kindersoldaten des Zweiten Weltkriegs kein Mitleid entgegen. In der Regel gerieten alle, ob regulär in die Wehrmacht eingegliedert oder noch ohne Soldbuch in der Tasche, in Kriegsgefangenschaft.
Für den Begriff Kindersoldat existiert keine einheitliche Erklärung. Verschiedene Institutionen legen zur Beschreibung unterschiedliche Kriterien für Alter und nachgegangene Tätigkeit sowie Prinzipien von Freiwilligkeit oder Zwang zugrunde. Dieses Buch orientiert sich an der Definition von UNICEF, Terre des Hommes und Amnesty International, nach der alle bewaffneten Kämpfer in kriegerischen Konflikten unter 18 Jahren als Kindersoldaten bezeichnet werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um aktuelle oder historische Krisen handelt. So können die minderjährigen deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs, die zwischen 1943 und 1945 als bewaffnete Kämpfer eingesetzt wurden, als Kindersoldaten beschrieben werden. Für die Jahrgänge, die dies betrifft, gibt es in der Forschung ebenfalls unterschiedliche Ansichten. Einig ist man sich, dass die Luftwaffenhelfer6 die unterste Altersgrenze bildeten. Zu den ältesten Kindersoldaten gehört demnach der Jahrgang 1926, der als Erster vor den 1927 und 1928 Geborenen zum Luftwaffenhelferdienst herangezogen wurde. In den letzten Kriegsmonaten griffen die Nationalsozialisten dann auf die Kampfkraft der jüngeren Hitlerjungen zurück. Das waren die Jahrgänge 1929 bis 1931. In den letzten Kriegswochen wurden selbst Pimpfe von gerade mal 13 oder 12 Jahren mit in bewaffnete Kriegshandlungen gezogen, weil sie zum Beispiel mit ihrem Alter schummelten und sich so einen Platz in einem HJ-Kampfverband sicherten. Und auch wenn jüngere Kinder die Möglichkeit hatten, sich eigenmächtig mit einer der vielen herrenlosen herumliegenden Waffen den Feinden entgegenzustellen, sich für Botengänge zwischen Wehrmachtseinheiten anboten oder sich Waffen-SS-Truppen als Pfadfinder oder Späher zur Verfügung stellten, soll in diesem Buch die Obergrenze Jahrgang 1931 für den Begriff Kindersoldat reichen. Damit ist eine offizielle Zugehörigkeit mindestens zur Hitlerjugend ausschlaggebend, in die man mit 14 Jahren aufgenommen wurde.
Spezifische wissenschaftliche Betrachtungen von Kindersoldaten, die im Zweiten Weltkrieg kämpften, ohne je ein anderes System als die NS-Diktatur gekannt zu haben, liegen kaum bis gar nicht vor. Literatur findet sich für diese Altersgruppe vor allem im Rahmen der Erforschung von NS-Herrschafts- und Strukturgeschichte, in der das Erziehungs- und Schulwesen des Nationalsozialismus sowie auch die Organisation der Hitlerjugend und ihrer Unterorganisationen im Vordergrund stehen. Die wenigen Publikationen, die Kinder in Kampfeinsätzen beschreiben, beschränken sich meist auf die Gruppen der Luftwaffenhelfer und des Volkssturms. Als Standardwerk im Bereich Luftwaffenhelfer sollte das leider nur im Selbstverlag erschienene und seit Jahren vergriffene, fast 670 Seiten starke Werk von Hans-Dietrich Nicolaisen gelten: Der Einsatz der Luftwaffen- und Marinehelfer im 2. Weltkrieg. Darstellung und Dokumentation7. Immerhin ist von Nicolaisen mit Die Flakhelfer8 eine abgespeckte Version im Ullstein Verlag erschienen, die allerdings den Fokus auf die Darstellungen von Erlebnisberichten legt.
Wer sich umfassend über den Volkssturm informieren will, kommt an Franz W. Seidlers Deutscher Volkssturm. Das letzte Aufgebot 1944/459 und an Der Volkssturm. Das letzte Aufgebot 1944/45 von Klaus Mammach10 nicht vorbei. Zu den ab März 1945 auftretenden eigenständig operierenden HJ-Kampfeinheiten wie zum Beispiel den von Reichsjugendführer Artur Axmann befohlenen Panzervernichtungsbrigaden fehlt nahezu vollständig die Forschung. Einige wenige Bücher gehen aber auf Existenz und Einsatz dieser spezifischen Gruppen ein. Die umfangreichste Übersicht dazu sowie auch für den Kampfeinsatz der Hitlerjugend allgemein bietet Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik von Michael Buddrus.11 Auch Sven Keller listet in Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/4512 die bekannten Verbände und Hintergründe der HJ-Kampfeinheiten auf.
Die erste Auseinandersetzung mit minderjährigen Kämpfern des Zweiten Weltkriegs überhaupt gelang Gregor Dorfmeister unter seinem Pseudonym Manfred Gregor 1958 mit dem autobiografischen Roman Die Brücke13, der ein Jahr später von Bernhard Wicki als filmische Adaption auf die Kinoleinwand gebracht und mehrfach ausgezeichnet wurde. Unter anderem gewann der Schwarz-Weiß-Film den Golden Globe und war für den Oscar nominiert. Allerdings werden die hier kämpfenden Kinder als durchweg fanatisch und somit klischeehaft dargestellt. Dass diese Art von Opferbereitschaft zwar nicht selten vorkam, aber lange nicht die Regel war, soll im Weiteren gezeigt werden.
Als 1972 Ludwig Schätz mit Schüler-Soldaten. Die Geschichte der Luftwaffenhelfer im zweiten Weltkrieg14 die erste wissenschaftliche Untersuchung über den Einsatz von Luftwaffenhelfern herausbrachte, stand die militärische, rechtliche und technische Organisation ihres Luftschutzeinsatzes im Vordergrund und nicht die psychische Belastung oder persönliche Verfassung der Kindersoldaten. Gleichzeitig begannen in den 1970er- und 1980er- Jahren immer mehr Menschen damit, ihre Kindheitskriegserlebnisse zwischen Schule, Elternhaus und Fliegeralarm in Autobiografien aufzuarbeiten, die häufig literarischen Charakter aufwiesen. Schon damals wurde offenbar, dass die erlebte Geschichte der Zeitzeugen oftmals nicht in Einklang stand mit der wissenschaftlichen Einordnung ihrer Zeit durch Historiker, die nicht persönliche Lebensgeschichten in den Forschungsfokus rückten, sondern versuchten, das Große und Ganze innerhalb politischer Zusammenhänge zu erklären. In den Achtzigerjahren wurde auch der Begriff der sogenannten Flakhelfergeneration geprägt, die eine breite öffentliche Wahrnehmung erfuhr, weil sich viele prominente Persönlichkeiten als Angehörige herausstellten. Als Luftwaffenhelfer dienten zum Beispiel Schriftsteller wie Martin Walser, Günter Grass und Günter de Bruyn, Schauspieler wie Hardy Krüger und Dietmar Schönherr, Politiker wie Hans-Dietrich Genscher und Erhard Eppler oder Wissenschaftler wie Niklas Luhmann und Joachim Fest. Außerdem waren Entertainer Peter Alexander, Kabarettist Dieter Hildebrandt sowie auch Papst Benedikt XVI., mit bürgerlichem Namen Joseph Aloisius Ratzinger, als Flakhelfer im Einsatz.
Die Vorurteile, mit denen ehemalige Kindersoldaten in ihrem späteren Leben zu kämpfen hatten, sind im Grunde die gleichen, die auch den erwachsenen Soldaten oder Frauen des Zweiten Weltkriegs entgegengeschlagen sind. Die vorwurfsvollen Fragen, die man den Zeitzeugen zu häufig nicht selbst gestellt, aber als Provokation in die öffentliche Debatte um Schuld und Unschuld eingeflochten hat, sind deckungsgleich: Warum habt ihr da mitgemacht? Warum habt ihr getötet? Warum habt ihr nichts gegen Hitler unternommen? Warum habt ihr den Holocaust zugelassen?
Zusätzlich haben sich explizite Vorurteile gegenüber deutschen Kindersoldaten gebildet, die wohl auf ihre Darstellungen in amerikanischen Spielfilmen und Trivialliteratur zurückzuführen sind. Dort werden sie als für Hitler kämpfende Bluthunde geschildert, die alles im Sinne des und für den Nationalsozialismus taten. Die wichtigste Studie, die über Motivationen und Einstellungen von Kindersoldaten – im Speziellen Flakhelfern – durchgeführt wurde, widerspricht diesem Bild in den wesentlichen Punkten. Der Historiker und Didaktiker Rolf Schörken hat dazu 1984 einen umfangreichen Fragebogen an 422 ehemalige Luftwaffenhelfer verschickt. Anhand von 228 beantworteten und zurückgeschickten Bogen konnte er ein aufschlussreiches Profil über das politische Bewusstsein der Flakhelfergeneration in einer Zeit extremer psychischer Belastung und strategischer Indoktrination – in die auch noch der eigene Reifeprozess fiel – erstellen und in seinem Buch Luftwaffenhelfer und Drittes Reich. Die Entstehung eines politischen Bewußtseins15 veröffentlichen. Schörken appelliert schon in seinem Vorwort eindringlich: »Will man der Erfahrungswirklichkeit einer ganzen Generation nahekommen, muss man bereit sein, sich auf differenzierte Ergebnisse einzulassen, die nicht in ein Schwarz-Weiß-Bild passen.«16 Die Kriegsgenerationen ab 1926 seien, gerade weil ihnen die Erfahrung aus der düsteren Zeit der Weimarer Republik gänzlich fehlte, gar nicht mehr richtig vom Hitler-Enthusiasmus gepackt worden.17
Die Aufmärsche, Feiern, Gedenktage, Fahnenweihen, Feste und Reden, die dem Regime die sakrale Färbung gaben und die Politik zum Feiertag machen sollten, wirkten auf diejenigen, die das von klein auf mitmachen mussten – und zwar keineswegs freiwillig –, allein aufgrund der Gewöhnung wie etwas Alltägliches, oft genug Lästiges, dem man durch vielerlei Schliche aus dem Weg gehen konnte.18
Zur Mentalität des Luftwaffenhelfers stellt Schörken fest: »Er unterscheidet sich von den älteren Jahrgängen dadurch, dass ihn die nationalsozialistischen Ideologeme im engeren Sinne (Rassenlehre, biologistisches Geschichtsbild) kaum erreichten.«19 Auf die Frage, ob NS-Ideologie oder Propaganda überhaupt eine Rolle im Alltagsleben der Luftwaffenhelfer spielte, antworteten 74,12 % der Befragten entschieden mit Nein. Ja sagten lediglich 12,72 %.20
Die Hauptursache, dass die Luftwaffenhelfer eine eingeschränkte Weltsicht entwickelten, die nur zwischen Deutschland und Feindesland unterschied, liege laut Schörken nicht an den Inhalten der NS-Propaganda, sondern gründe sich auf ihren diktatorisch abgeschirmten Zugang zur Außenwelt und in der Alternativlosigkeit.21
Niemand (…) hatte eine zutreffende Vorstellung davon, wie es außerhalb Deutschlands in der Welt aussah und was andere Menschen in anderen Völkern dachten und taten. […] Außerhalb des Bewusstseins blieb auch, wie Deutschland unter Hitler draußen beurteilt wurde und wie man dort über den Krieg dachte.22
Von der NS-Propaganda sei in den Jahren 1943–1945 nur noch die Kriegspropaganda an die Luftwaffenhelfer herangedrungen, die auf Steigerung der Kampfmoral abzielte.23 Dies führte zu einem erhöhten Zusammengehörigkeitsgefühl der Luftwaffenhelfer untereinander, zu einer Identifikation mit der Wehrmacht und zu einem Verständnis von sich selbst als Soldat. »Unter allen Elementen der nationalsozialistischen Propaganda fand die heroisierende Kriegsvorstellung in dieser Altersstufe vollen Anklang und wurde in aller Regel unkritisch übernommen.«24
Hingegen sei in den Einstellungen der Luftwaffenhelfer die entschiedene Ablehnung der HJ und anderer NS-Funktionäre vorherrschend gewesen. Nationalsozialistische Attribute und Vorschriften wurden im alltäglichen Dienst abgelehnt, und ideologietreues Verhalten im Umgang mit anderen, wie zum Beispiel sowjetischen Kriegsgefangenen, die mit in der Stellung lebten, wurde missachtet.25 Ganz im Gegensatz also zur Darstellung der NS-Propaganda, nach der Russen als Untermenschen galten, gaben 42,9 % der von Schörken befragten Luftwaffenhelfer an, das Verhältnis zu den in der Stellung arbeitenden und lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen sei sehr gut und freundschaftlich gewesen. 19,5 % beschrieben es als korrekt und 7 % empfanden sogar Mitleid mit ihnen. Die Wirkung des Führer-Images sei in der Untersuchungsgruppe äußerst gering gewesen.26 Während 50,2 % zum Zeitpunkt ihrer Einberufung noch an den Endsieg geglaubt haben, verloren je 25 % Mitte 1944, Ende 1944 und Anfang 1945 ihren Glauben daran. Nur 10,8 % glaubten bis zur Kapitulation an den Endsieg.27 32,8 % der Endsieggläubigen insgesamt trieb dabei die Hoffnung auf Wunderwaffen an, 25,9 % waren einfach nicht in der Lage, sich einen verlorenen Krieg vorzustellen, aber nur 11,7 % gaben als Grund Vertrauen auf den Führer an.28 Interessant erscheint dabei auch die politische Selbsteinschätzung der befragten ehemaligen Luftwaffenhelfer während ihrer Dienstzeit. 47 % gaben patriotische Gründe an. Man habe als Soldat eine Pflicht für das Vaterland abgeleistet. 15,4 % beschrieben sich als naiv oder gutgläubig. 24 % sagten, sie hätten dem NS-Regime bereits deutlich kritisch gegenübergestanden, und 8 % sahen sich sogar in einer oppositionellen Rolle.29
Schörken fasst zusammen: »Auch bei vorsichtigster Interpretation wird man sagen dürfen, dass die Aufnahmebereitschaft für nationalsozialistisches Gedankengut in dieser Generation beinahe auf den Nullpunkt fiel. Die politische Situation verlief nicht mehr im Sinn des Nationalsozialismus.«30
Im Verlauf dieses Buches wird sich zeigen, ob Schörkens Erkenntnisse über Einstellungen und Motivationen von Luftwaffenhelfern der Jahrgänge 1926 bis 1928 sich in den Gesprächen mit den hier befragten ehemaligen Luftwaffenhelfern wiederfinden und ob sich diese auch auf die jüngeren Kindersoldaten der Jahrgänge 1929 bis 1931 übertragen lassen.
In diesem Buch erzählen 13 der letzten lebenden Kindersoldaten des Zweiten Weltkriegs ihre dramatische Geschichte. Alle sind zwischen 1926 und 1931 geboren. Die Männer sind heute zwischen 91 und 95 Jahre alt und waren bei Kriegsende entsprechend zwischen 13 und 18 Jahre alt. Alle Zeitzeugen waren aktiv an Kampf- oder Kriegshandlungen beteiligt und dienten in ihnen zugewiesenen Einheiten, waren also zumindest zeitweilig organisiert. Davon wurden fünf als Luftwaffenhelfer eingesetzt, vier gehörten Panzervernichtungstrupps oder anders genannten HJ-Kampfgruppen an, drei waren als Hitlerjungen in den Volkssturm eingegliedert und einer im Hilfsdienst der Wehrmacht. Von fünf Zeitzeugen, die regulär als Soldaten in der Wehrmacht kämpften, wurde einer zwangsrekrutiert, vier hatten sich als Offiziersbewerber freiwillig gemeldet und sind so vorzeitig eingezogen worden. Ein Zeitzeuge wurde zwangsweise der Waffen-SS unterstellt. Weiterhin waren alle bei oder nach Kriegsende kürzer oder länger in alliierter Gefangenschaft. Jeder verlor während seines Kampfeinsatzes nahestehende Kameraden, sechs von ihnen wurden selbst teilweise schwer verletzt. Wiederum sechs Zeitzeugen stammen aus ehemaligen deutschen Gebieten in Posen, Schlesien oder Ostpreußen, was nicht verwundern darf, denn sowohl Volkssturm als auch kämpfende HJ-Gruppen fand man größtenteils an der Ostfront, und die reichte nur maximal bis Berlin.
Streng genommen erfüllt einer – der Älteste unter meinen Zeitzeugen – das Kriterium des Kindersoldaten nicht, da er, bereits einige Wochen bevor er in den Kampf geschickt wurde, 18 Jahre alt geworden ist, wobei seine militärische Ausbildung aber noch nicht abgeschlossen war. Seine Geschichte steht am Ende und soll den fließenden Übergang zwischen minderjährigen und den jüngsten erwachsenen Kämpfern aufzeigen. Ansonsten sind die Protagonisten in diesem Buch weder nach Alter noch nach Herkunft, Waffengattung oder eingesetztem Kampfgebiet sortiert. Wichtige allgemeine Hintergrundfakten und Eckdaten, die für das bessere Verständnis der unterschiedlichen Gruppen von Kindersoldaten dienen können, habe ich im nächsten Kapitel beschrieben. Der Leser soll hier Grundsätzliches zum Beispiel über Heranziehung, Ausbildung, Bewaffnung, Bekleidung, Kampf und Alltag der Hitlerjugend im Allgemeinen, der Luftwaffenhelfer, Kriegsfreiwilligen, Volkssturmmannen sowie der Panzervernichtungstrupps, HJ-Kampfverbände und sogenannten Werwölfe erfahren.
Die Kriegserlebnisse der einzelnen Protagonisten stehen im Vordergrund dieses Buches; natürlich wird dabei ihr vorheriges Aufwachsen im Nationalsozialismus in Gesellschaft und im Elternhaus mitbeleuchtet. Zugunsten der Beschreibung ihrer prägenderen Hitlerjugendzeit wurden die Erfahrungen im Deutschen Jungvolk nur angeschnitten. Zu Anfang einer jeden Episode lernen wir den Protagonisten in seinem jetzigen Alter und Lebensumfeld kennen. Zum Ende sind die jeweiligen Lebenswege nach dem Krieg nachgezeichnet. Den Einzelepisoden nach stehen außerdem zwei übergeordnete Fragen. Die Frage nach zeitgenössischem Wissen über Judenverfolgung und Holocaust ist in der deutschen Erinnerungskultur von so zentraler Bedeutung, dass ich sie für dieses Thema nicht ausklammern kann und auch nicht möchte. Schon während früherer Zeitzeugeninterviews habe ich allerdings festgestellt, dass meine Interviewpartner oftmals nicht selbst zu der Thematik finden. Die Gründe sind vielfältig, meist aber spielte der Holocaust in ihren eigenen Erinnerungen an den Krieg einfach keine zentrale Rolle. Sofern sie daher in ihren freien Erzählungen nicht von selbst darauf eingegangen sind, habe ich dazu am Ende meines jeweiligen Zeitzeugengesprächs eine konkrete Frage gestellt. Ich halte die Auseinandersetzung damit, auch weil ihre Nichtthematisierung zu erheblichen gesellschaftlichen Vorurteilen geführt hat, für so wichtig, dass ich die Antworten darauf losgelöst von den eigentlichen Kriegsepisoden aufgenommen habe. Eine zweite nachgestellte Frage zu jeder Episode ergab sich aus Hinweisen des Zeitzeugen zu einem persönlichen Interesse während des Gesprächs, das nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Kriegserlebnissen steht, oder aus dem Wunsch, einen bestimmten Aspekt zu vertiefen. Beispielsweise äußerten sich Zeitzeugen zu unserem generellen Umgang mit Geschichte, zu ihren Erfahrungen mit jüngeren Generationen oder zu bedeutenden Themen wie Wut, Versöhnung oder Hoffnung.
Des Weiteren habe ich nach den Richtlinien der wissenschaftlichen Methode Oral History meine Zeitzeugen eigene Schwerpunkte setzen lassen. Entscheidend ist bei allen Zeitzeugenbefragungen, ein ausgeglichenes Maß zwischen Gespräch und Zuhören zu finden. Vermieden werden sollte ein starrer Interviewcharakter. Erfahrungsgemäß findet im ersten Teil eines gelungenen Gespräches ein Austausch auf Augenhöhe statt, auch um sich kennenzulernen und gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. Oftmals finden anschließend Zeitzeugen, wenn die Atmosphäre stimmig ist, selbst in einen langen Monolog über all das, woran sie sich erinnern, den man möglichst nicht unterbrechen sollte. Daraus ergeben sich zum Ende hin wieder Aspekte, denen man vertieft gemeinsam nachspüren kann. Manchmal ist das Anschauen von Fotoalben dabei hilfreich, an anderer Stelle auch der Einbezug eines vertrauten Lebenspartners.
Dialekte, Füllwörter und Versprecher meiner Zeitzeugen habe ich nicht berücksichtigt, Halbsätze logisch geschlossen und längere Passagen gekürzt oder zusammengefasst. Darüber hinaus besteht ein Hauptteil der historischen Arbeit darin, die Zeitzeugenberichte inhaltlich auf zeitliche, räumliche und kausale Zusammenhänge und auf mögliche Unstimmigkeiten hin zu prüfen. Erst durch den Abgleich mit Sekundärliteratur und zugänglichen Quellen wie Archive und Karten können die Zeitzeugenerzählungen historisiert werden. Für eine tiefere Recherche konnte ich auch Wehrpässe, Soldbücher, persönliche Notizen oder Entlassungsunterlagen meiner Zeitzeugen hinzuziehen. Hintergrundinformationen zu besonderen geschichtlichen Ereignissen, die in der jeweiligen Episode eine Rolle spielen, habe ich ergänzend und immer passend zwischen Erzählabschnitten eingefügt.
Die größte Herausforderung für dieses Projekt war es für mich – wie auch schon in vorangegangenen Büchern –, geeignete Zeitzeugen zu finden. Sie mussten exakt in die definierte Zielgruppe passen und vor allem geistig und körperlich fit sein. Das ist oberste Voraussetzung für jede Zusammenarbeit in diesem Bereich. Durchschnittlich beträgt das Gespräch vis-à-vis vier bis fünf Stunden, danach lässt die Konzentriertheit eines hochbetagten Zeitzeugen in der Regel nach. Allerdings gibt es hier auch Ausnahmen, und die Unterhaltung kann – dann mit Pausen – doppelt so lange dauern. Bevor es zu einem Treffen kommt, ist viel Vorbereitung notwendig. Da dies mein viertes großes Zeitzeugenprojekt ist und die letzten Bücher sehr erfolgreich liefen, bekomme ich regelmäßig viele Zuschriften per E-Mail und per Post, meistens über meine Agentur. Zeitzeugen melden sich selbst bei mir, oftmals sind es aber auch Kinder, Enkel oder Freunde von betagten Menschen, die eines meiner Bücher gelesen haben und dann darauf hinweisen, dass sie auch jemanden mit einer besonderen Geschichte kennen. So hat sich bei mir in den letzten Jahren ein persönlicher Zeitzeugenpool gebildet, auf den ich gut für das Thema Kindersoldaten zurückgreifen und entsprechende Zeitzeugen auswählen konnte. Dabei geholfen, entsprechende Kontakte zu finden, haben mir aber auch erneut Zeitzeugenbörsen und Verbände sowie Aufrufe über soziale Medien.
Bevor es zu einem persönlichen Treffen kommt, das unabdingbar ist, um einen Menschen für ein solches Projekt kennenzulernen, finden in der Regel erst Gespräche mit Angehörigen statt; es folgen Telefonate mit dem Zeitzeugen und oftmals ein langer vorheriger Brief- oder E-Mail-Verkehr. Auch nach dem Treffen hält man Kontakt, da sich manchmal Detailerinnerungen erst später konkretisieren. Alle Gespräche habe ich zwischen Januar und Juni 2021 geführt.
Störend und oftmals belastend für alle Beteiligten war die Corona-Pandemie mit all ihren Einschränkungen. Öfter mussten daher Termine immer wieder verschoben werden. In der Regel habe ich gewartet, bis meine Gesprächspartner beide Impfungen erhalten hatten. Häufig waren die Corona-Pandemie und entsprechende Schutzregeln auch ein Einstiegsthema. Dabei ist mir besonders aufgefallen, wie erfrischend locker diese Generation mit der Krise umgeht. Nicht einer hatte mir gegenüber von Angst vor einer Infektion gesprochen, und keiner hat sich über die Maßnahmen beschwert. Das war ich aus meinem privaten und beruflichen Umfeld bei jüngeren Generationen ganz anders gewohnt, waren doch hier Sorgen und Beschwerden über eine lange Zeit Hauptthema.
Die verlorene Generation ist hart im Nehmen, ähnlich wie die verdammte Generation31, anders als die verratene Generation32. An dieser Stelle möchte ich bekannt geben, warum ich mich auf der Suche nach einem kennzeichnenden Adjektiv für »verloren« entschieden habe. Der ausschlaggebende Grund ist nicht vornehmlich, dass so viele junge Kindersoldaten während des Zweiten Weltkriegs ihr Leben verloren haben, auch nicht, dass diese Generation sich am Ende des Krieges völlig verloren gefühlt hat und mitunter lange brauchte, um wieder in ein normales Leben zu finden. Vielmehr überwog das Gefühl, dass wir jetzt und heute im Begriff sind, eine besonders tapfere Generation zu verlieren. Und zwar für immer – an den Tod. Mit den letzten Kindersoldaten gehen die letzten Deutschen, die aktiv als Soldat am schlimmsten Krieg der Menschheitsgeschichte teilgenommen haben, und immer bleibt die Sorge, ob wir ihnen genug zugehört haben. Am Ende eines jeden Zeitzeugengespräches wurde mir wieder deutlich bewusst, wie endlich das Leben ist. Gerade hat man einen besonderen Menschen kennengelernt, hat an seinem facettenreichen Leben teilgenommen, da verabschiedet man sich und weiß, man wird sich nicht noch einmal sehen. Die Zeit wird vermutlich dafür nicht reichen.
Auf der anderen Seite bin den Zeitzeugen überaus dankbar und stolz auf sie, dass sie der Gesellschaft am Ende ihres Lebens noch ein letztes Mal ihre bedeutenden Erfahrungen und Erinnerungen an eine für uns alle prägende Zeit mitgeteilt haben und dass sie so dafür Sorge tragen wollen, dass all das, was sie durchgemacht haben, eben nicht verloren gehen und vergessen wird.
Alles hat seine Licht- und Schattenseiten. Die Erziehung der verlorenen Generation war brutal; die Kinder und Jugendlichen wurden abgehärtet und dazu angetrieben, ihre individuellen Bedürfnisse ganz hintanzustellen. Ihnen wurden Gehorsam und Härte regelrecht eingeprügelt, und hätten sie das als Kind nicht verinnerlicht, so hätten sie das Grauen, das sie tatsächlich im Kampf und in Gefangenschaft erleben mussten, psychisch nicht überstanden. Die Kinder der verlorenen Generation, die, ohne einen freien Willen zu besitzen, Opfer eines mörderischen Regimes geworden sind, haben aber für ihr Leben gelernt, sich nicht zu beklagen, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, nicht das eigene Leid über das aller anderen zu stellen. Sie haben die Prüfung bestanden, dem Grauen ins Auge zu blicken und nicht durchzudrehen oder wegzurennen, wenn etwas brenzlig wird, und sie haben Kameraden und Familie nicht im Stich gelassen. Sie waren weniger egoistisch, als wir es sind, sie haben mehr ertragen können und sie wollten vor allem nicht Opfer sein. Das alles liegt in den Erziehungsmethoden ihrer Zeit begründet, in Schule und Elternhaus und in diesem speziellen Fall in der Hitlerjugend, die wir uns dabei im Folgenden genauer anschauen müssen, weil diese die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen schließlich immer weiter auf ihre Teilnahme am Krieg gelenkt hat.