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Kinder an Kanonen: Luftwaffenhelfer

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Die rechtliche Grundlage dafür, dass Hitlerjungen überhaupt für Kriegshilfsdienste eingespannt werden konnten, schaffte Hermann Göring mit der am 15. Oktober 1938 erlassenen Notdienstverordnung, nach der jeder Bewohner des Reiches nach Vollendung des 15. Lebensjahres zu beliebigen – auch militärischen – Diensten herangezogen werden konnte. Während die Mädel des BDM vornehmlich für Betreuungsaufgaben verpflichtet wurden, reichten die Tätigkeiten der Hitlerjungen von der Hilfe bei der Verteilung der Reichspost oder beim Bau von Luftschutzräumen über Meldetätigkeiten für den Reichsluftschutzbund, Boten- und Kurierdienste für die Wehrmacht bis hin zu gefährlichen und schweren Einsätzen nach Bombenangriffen wie Aufräumarbeiten oder der Bergung von Toten, Verschütteten und Verletzten. Den einschneidendsten und bedrohlichsten Kriegshilfsdienst der Hitlerjugend stellte aber ihr kollektiver Einsatz als Luftwaffenhelfer dar. Da an der Ostfront immer mehr Kämpfer gebraucht wurden, hatte Adolf Hitler am 20. September 1942 in einem Führerbefehl die sofortige Abstellung von 120 000 Soldaten der Luftwaffe aus dem Reich für den Erdkampf an der Front beschlossen. Da gleichzeitig die Bombardements auf deutsche Städte immer mehr zunahmen, führte der Verlust dieser Vielzahl an Soldaten für die Flakstellungen, die zur Verteidigung des Reiches vorgesehen waren, zu einem erheblichen Engpass. Diese Lücken sollten mit Hitlerjungen aufgefüllt werden. Göring kalkulierte, dass 100 jugendliche Flakhelfer 70 reguläre Soldaten ersetzen könnten. Ab Oktober 1942 versuchte man, Strategien für einen bis dato noch nie da gewesenen Einsatz von minderjährigen Kämpfern zu erarbeiten. Die unterschiedlichen Stellen, die für die Organisation zuständig waren – allen voran Reichsluftfahrtministerium, Reichserziehungsministerium, Reichsjugendführung und Reichsinnenministerium –, hatten dabei zum Teil gegensätzliche Vorstellungen. Die Luftwaffe beispielsweise war der uneingeschränkten Meinung, die Jungen müssten dafür vom Schulunterricht befreit werden. Dagegen protestierte das Erziehungsministerium, und auch die Eltern der Kinder hätten eine solche Bedingung gar nicht oder nur widerwillig akzeptiert. So einigte man sich darauf, dass die Luftwaffenhelfer zusätzlich zu ihrem Dienst regelmäßigen wöchentlichen Unterricht erhalten. Skeptischen Eltern sollte darüber hinaus durch gut dosierte Propaganda klargemacht werden, dass sowohl eine ausgewogene Verpflegung und Unterbringung gewährleistet wie auch ein striktes Verbot von Alkohol und Tabak eingehalten werde. Bereits Mitte Juni 1943 allerdings vermerkte das Erziehungsministerium, dass die Doppelbeanspruchung als Soldat und Schüler für die Luftwaffenhelfer mit schweren Einbußen in der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit verbunden sei. Nach und nach wurde in der Praxis der Schulunterricht daher mehr oder weniger wieder ausgesetzt. Mit dem Erlass der Verordnung über die Heranziehung der deutschen Jugend zur Erfüllung von Kriegsaufgaben vom 2. Dezember 1942 sowie der Verordnung zur Heranziehung von Schülern zum Kriegshilfsdiensteinsatz der deutschen Jugend in der Luftwaffe vom 22. Januar 1943 konnten umfassende Bestimmungen für den Dienst der Luftwaffenhelfer beschlossen werden. Ab dem 15. Februar 1943 wurden zunächst sämtliche Schüler der Höheren und Mittleren Schulen der Jahrgänge 1926 und 1927 eingezogen. Nach Beendigung der Dienstzeit dieser Kohorte und Einzug zum Reichsarbeitsdienst (RAD) traf der Beschluss ab Januar 1944 die Schüler des Jahrgangs 1928. Zusätzlich wurden im Sommer 1944 auch Lehrlinge der Berufs- und Handelsschulen derselben Jahrgänge herangezogen. Eine exakte Dienstzeit für Luftwaffenhelfer war nicht vorgesehen, sie sollte in der Regel mit der Einberufung zum RAD oder in die Wehrmacht enden. Tatsächlich kämpften viele Helfer bis Kriegsende in ihren Einheiten noch am Boden oder wurden nahtlos anderen Kampfgruppen zugewiesen. Insgesamt taten 200 000 Jungen in 2300 Flakbatterien ihren Dienst als Luftwaffenhelfer.

Obwohl sie alle Aufgaben eines Flaksoldaten erfüllten und auch durch Uniform und Hoheitsabzeichen der Luftwaffe für den Feind als reguläre Soldaten zu erkennen waren, behielten die Helfer rechtlich den Status des Schülers beziehungsweise des Hitlerjungen bei. Mit der Ausnahme, dass sie als Wehrmachtsgefolge vollständig der Militärgerichtsbarkeit unterlagen.

Nach ärztlicher Eignungsuntersuchung und einer Aufklärungsveranstaltung für die Eltern erhielten die Luftwaffenhelfer immer klassenweise Stellungsbefehl zunächst nur für Flakbatterien, die in unmittelbarer Nähe zu ihrem Heimatort oder maximal 50 Kilometer davon entfernt lagen, sodass die ganze Klasse entweder in ihrer bisherigen Schule oder durch den Besuch ihrer Lehrer in der Stellung unterrichtet werden konnte. Luftwaffenhelfer erhielten Personalbuch, Personalausweis und Erkennungsmarke, Sozialversicherung, Heilfürsorge und truppenärztliche Betreuung sowie eine tägliche Vergütung von 50 Pfennig. Unterkunft, Verpflegung und Bekleidung regelte die Luftwaffe. Die Dienstverpflichteten lebten in zugewiesenen Baracken, meist zu 24 Jungen; sie schliefen doppel- oder dreistöckig auf Holzpritschen mit Strohsäcken. In den Unterkünften befanden sich Unterrichtsräume, Aufenthaltsräume mit Büchern und Gesellschaftsspielen und ein Speisesaal. Die Jungen erhielten neben der regulären Truppenverpflegung zusätzlich je einen halben Liter Milch pro Kopf zur Herstellung einer warmen Abendsuppe. Die Tabak- und Alkoholrationen nach militärischen Tagessätzen wurden gestrichen, stattdessen bekamen Luftwaffenhelfer Süßigkeiten und Vitamindrops. In der Regel machten ihre Vorgesetzten bei Feierlichkeiten wie Batteriefesten aber eine Ausnahme. Auf Frischobst wurde besonderer Wert gelegt. Die Verwendung von Weck- und Reizmitteln wie Pervitin, Koffein und Cola hingegen war ihnen grundsätzlich verboten.

Für die Dienstuniform der Jungen beziehungsweise ihre Ausgehuniform wurde die der Flieger-HJ mit entsprechend modifizierten Emblemen verwendet. Es handelte sich um eine lange blaugraue Überfallhose, darüber eine Fliegerbluse mit auf der rechten Brustseite aufgenähtem Abzeichen der Luftwaffenhelfer: ein Dreieck mit den Buchstaben L und H in Blau auf schwarzem Grund, darunter der Adler als Hoheitsabzeichen der Luftwaffe. Die Jungen trugen die Koppelschlösser der Luftwaffensoldaten und auf dem Kopf eine Skimütze. Die HJ, die sich immer wieder energisch, doch meist vergeblich darum bemühte, einen Einfluss auf die Dienstverpflichteten geltend zu machen, setzte durch, dass die offizielle Bezeichnung Luftwaffenhelfer HJ lautete. Außerdem wurde ihr zugestanden, dass die Helfer über dem linken Ärmel eine HJ-Armbinde trugen, was diese jedoch mehrheitlich als Demütigung empfanden, weil sie sich von Beginn an als richtige Soldaten fühlten und mit der HJ nichts mehr zu tun haben wollten. Es gehörte für sie zum guten Ton und war ein wichtiges Abgrenzungsmerkmal, dass sie die Armbinde spätestens dann ablegten, wenn sie Ausgang hatten. Nach Schörkens Studie gaben 97,36 % der befragten ehemaligen Luftwaffenhelfer an, dass sie sich der Luftwaffe zugehörig fühlten, weniger als 3 % verstanden sich als Angehörige der HJ35. Schörken schreibt: »Die Amtswalter der NSDAP waren, gemessen an den jungen Soldaten, allenfalls komische Figuren, die nicht ernst genommen wurden und oft genug Gegenstand kindlichen Spottes waren.«36

Die Arbeitskleidung der Helfer inklusive Stahlhelm unterschied sich nicht von der regulärer Flaksoldaten. Zunächst erhielten alle die Grundausbildung, die vier Wochen dauerte und von einem der Einheit angehörigen Unteroffizier übernommen wurde. In dieser Zeit sollten sie sämtliche Aufgaben und Geräte einer Flakstellung kennen- und bedienen lernen. Unterrichtet wurden sie zudem in Ballistik, Kartenlesen und Funktechnik. Ständiges Waffentraining und Schießübungen waren ebenso an der Tagesordnung wie Marschieren und Exerzieren. Die Luftwaffenhelfer pflegten und warteten ihre technischen Geräte, hielten Batterie und Unterkünfte sauber.

Nach Absolvieren der Grundausbildung wurden sie vom Batteriechef einer festen Tätigkeit und entweder der Geschützstaffel oder der Messstaffel zugeordnet. Die schwere Flak war in der Regel eine 8,8-cm-Kanone (Acht-Acht), seltener ein 10,5-cm- oder 12,8-cm-Geschütz. Eine Acht-Acht-Flakbatterie bestand meist aus vier Flakgeschützen, die rechteckig auf freiem Feld innerhalb eines Splitterschutzwalls auf Sockeln aufgestellt wurden. Je ein Geschütz wurde von neun eingesetzten Kanonieren bedient.37 Der Höhenrichtkanonier (K1) und der Seitenrichtkanonier (K2) stellten die vom Kommandogerät übermittelten Höhen- und Seitenrichtwerte zum Abschuss des feindlichen Flugzeugs ein. Der Ladekanonier (K3) war in der Regel ein muskulöser Junge oder – falls noch vorhanden – ein regulärer Flaksoldat. Er schob nach Ertönen der Feuerglocke die ladefertige Granate in das Geschützrohr ein und betätigte beim Ausklingen der Glocke den Abzug. Je nach Ausbildungsstand beziehungsweise Leistungsfähigkeit des K3 feuerte die Acht-Acht 15 bis 25 Schuss pro Minute ab. Sie schoss 10,6 Kilometer hoch und 14,9 Kilometer weit. Die Munitionskanoniere K4 und K5 legten die bis 16 Kilogramm schweren Granaten nach, der K6 (Zündsteller) stellte die Zünder ein, und die Munitionskanoniere K7 und K8 – üblicherweise übernahmen diese Funktion sowjetische Kriegsgefangene, die in separaten Baracken lebten – schafften unaufhörlich die Granaten vom Vorratsbunker zum Geschütz. Als K9 wurde der Geschützführer beziehungsweise Flakkommandant bezeichnet. Außerdem bedienten Luftwaffenhelferschützen mittlere Flaks mit 3,7-cm- oder 4-cm-Kaliber und leichte 2-cm-Flaks, beispielsweise Flak-Vierlinge, zur Abwehr von Tieffliegern auf die Batterie.


Luftwaffenhelfer vor einer mittleren 3,7-cm-Flak

Die Luftwaffenhelfer der Messstaffel hingegen arbeiteten an Geräten der Feuerleitung zur Erfassung von Flugdaten feindlicher Flugzeuge. Herzstück war das Kommandogerät 4038, das durch Splittergräben geschützt in der Befehlsstelle lag, in der sich auch der Batteriechef aufhielt. Das Kommandogerät war ein für die damalige Zeit hochkomplexer analoger Computer, der mithilfe von Blenden, Spiegeln, Prismen und Objektiven, die von der Mannschaft eingestellt wurden, im Raumbildungsverfahren elektromechanisch sämtliche Flug- und Abschussdaten ermittelte. Eingespeist wurden in dieses Gerät auch die Daten des Funkmessgerätes39 (Radar-Erfassung) und des Malsi-Gerätes, das die Abschussdaten anderer Flakbatterien von bis zu acht Kilometern Entfernung übertrug und umwertete.

Weitere Luftwaffenhelfereinheiten bedienten Scheinwerfer, mit denen sie nicht nur den Luftraum aufhellten, sondern auch feindliche Flieger blendeten und so zum Absturz brachten, oder arbeiteten in der Telefonvermittlung der Batterie.

Etwa eine Stunde vor Beginn des Fliegeralarms wurde die Besatzung in Gefechtsbereitschaft versetzt. Diese endete wiederum etwa eine Stunde nach der Entwarnung für die Zivilbevölkerung. Der Dienst des Luftwaffenhelfers während eines Bombenangriffs konnte also gut fünf Stunden dauern.

Der Schulunterricht an den Stellungen betrug in der Woche 18 Stunden, die sich auf die Fächer Deutsch, Geschichte, Erdkunde, Mathematik, Physik, Chemie und Latein verteilten und beschränkten. Die Inhalte entsprachen denen des regulären Lehrplanes. Die Lehrer fuhren für den Unterricht normalerweise in die Stellungen, wo behelfsmäßige Unterrichtsräume zur Verfügung gestellt wurden. Mit in der Batterie lebte daneben ein Betreuungslehrer, der die schulischen Belange der Luftwaffenhelfer gegenüber ihren militärischen Vorgesetzten vertrat und darauf achtete, dass seine Schüler nicht überfordert wurden. Unter den Helfern existierten zwei verschiedene Dienstgrade, die untereinander ohne Vorgesetztenverhältnis auskamen. Bei guter Führung und Leistung konnte der Luftwaffenhelfer nach neun Monaten Dienstzeit zum Oberluftwaffenhelfer befördert werden. Die Jungen erhielten Flaktätigkeitsabzeichen, konnten für eine bestimmte Anzahl von Abschüssen Flakkampfabzeichen erwerben und bekamen für besondere Tapferkeit reguläre Kriegsauszeichnungen wie das Eiserne Kreuz, das Kriegsverdienstkreuz oder die Kriegsverdienstmedaille. Alle 14 Tage wurde den Jungen ein freies Wochenende, und zweimal im Jahr ein zweiwöchiger Urlaub zugestanden. Ortsansässigen Helfern wurde zudem einmal pro Woche ein mehrstündiger Besuch bei ihren Eltern zugesprochen – in diesem Rahmen mit Erlaubnis des Einheitsführers auch eine Übernachtung. Waren Luftwaffenhelfer außerhalb ihres Dienstortes unterwegs, mussten sie entweder einen gültigen Urlaubsschein oder einen Marschbefehl bei sich führen. Sie verfügten über einen Wehrmachtsfahrschein für die Eisenbahn und konnten kostenlos öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Görings Kalkulation ging nicht auf. Schnell stellte sich heraus, dass Luftwaffenhelfer reguläre Soldaten nicht nur 1:1 ersetzen konnten, sondern diese noch an Einsatzbereitschaft übertrafen. In vielen Stellungen, vor allem in den letzten Kriegswochen, bedienten die jugendlichen Flakhelfer die Geschütze ganz ohne einen regulären Luftwaffensoldaten. Ab Juli 1943 kippte nach einer Führerentscheidung auch der Grundsatz, Luftwaffenhelfer nur nahe dem Heimatort einzusetzen. Immer mehr Jungen erhielten Stellungsbefehl im gesamten Reichsgebiet und wurden besonders dort eingesetzt, wo wichtige Rüstungsbetriebe vor alliierten Luftangriffen geschützt werden mussten. Mit dem beginnenden Vormarsch der Sowjetarmee auf das Deutsche Reich ab Januar 1945 wurden Luftwaffenhelfer letztendlich dazu abkommandiert, den anstürmenden Feind am Boden mit ihren Flakgeschützen aufzuhalten. Tatsächlich entwickelte sich ihre Acht-Acht im Erdkampf als eine der tödlichsten Waffen des Zweiten Weltkriegs. Sie funktionierte effektiver und präziser gegen Panzer und andere Fahrzeuge am Boden als gegen Flugzeuge am Himmel. Doch zu einem hohen Preis. Zigtausende auf Kanoniere umgeschulte Helfer bezahlten ihren Einsatz mit dem Leben. Allein im letzten Monat des Krieges starben mehr Luftwaffenhelfer als in den zwei Jahren zuvor. Die genaue Anzahl der Toten ist nicht errechenbar. Ihr Übertritt in den Dienst der Wehrmacht oder zu anderen HJ-Kampfverbänden verlief meist fließend.

Die verlorene Generation

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