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Bohn setzte sich auf die Kante von Patricks Schreibtisch.

»Ich mache es kurz und schmerzlos«, sagte er. »Wir haben lange gehofft, dass Sie den Ruf an eine andere Institution erhalten. Schließlich sind Sie seit vier Jahren habilitiert. Da dies aber nicht erfolgte, bleibt mir nichts, als Ihnen unseren Beschluss zu überbringen. Ihre Stelle ist gestrichen.«

Patricks Miene blieb unbewegt. Er hasste Überraschungen. Darum hatte er dafür gesorgt, dass unvorhergesehene Wendungen sein Leben möglichst wenig stören.

»Wie kamen Sie zu dieser Entscheidung?«, fragte er.

»Das fragen Sie?«, stieß Bohn aus. »Ihre Forschung ist... fehlgeleitet

Patricks Herz flatterte. Diese Kritik ärgerte ihn immer wieder. Die betretenen Blickkontakte unter seinen Fachkollegen, wenn er auf den wenigen Kongressen über prädiktive KI, die er noch besuchte, über sein Lieblingsprojekt berichtete. Der Ratschlag seiner paar Freunde, doch eine weniger »esoterische« Richtung einzuschlagen. Patrick versuchte, über dieser Borniertheit zu stehen. Es war sein Lebenswerk, etwas, das die Welt brauchte!

»Fehlgeleitet?«, fragte Patrick. »Eine steile These, Rektor. Welche Früchte Grundlagenforschung trägt, lässt sich erst nach Jahrzehnten beurteilen.«

Bohn reckte sein Kinn und sah aus Augenschlitzen auf Patrick hinab.

»Ihre arrogante Art macht es mir nicht gerade schwerer, Sie hinauszubefördern, Doktor Reinerts.«

Dann senkte Bohn den Kopf und rieb sich die Nasenspitze. »Und dann ist da ja noch diese Sache aus Ihrer Vergangenheit.«

Patricks Mund öffnete sich.

»Rektor Bohn, das ist nicht fair! Es ist zwölf Jahre her und die Tat ist gebüßt.«

»Ein Mensch kam ums Leben.«

Daran musste Patrick niemand erinnern. Alle paar Nächte sah er im Traum den Mann auf dem nassen Asphalt liegen und eine Blutlache sich um seinen Kopf ausbreiten. Juristisch hatte Patrick alles hinter sich. Dennoch würde es ihn für immer verfolgen.

»Er hatte mich angegriffen und ich habe die Wirkung meines Karate unterschätzt, Rektor Bohn. Seitdem praktiziere ich diese Kampfsportart nicht mehr.«

»Sicher. Dennoch trägt die Geschichte zum Gesamtbild bei, Doktor Reinerts. Alles in allem ist es unglaublich schade

Patrick zuckte mit den Achseln. »Schade?«

»Sie hatten die exzellenteste Promotion des Jahres an der TU München vorgelegt, als Sie sich hier bewarben. Wir konnten kaum glauben, dass Sie nach Stuttgart kommen wollten. Jemand wie Sie geht ans MIT, nach Shanghai ins New Silk Road Institute oder ans Lagos Future Institute. Irgendwohin, wo in der KI die Musik spielt. Stuttgart ist das sicher nicht.«

Patrick wiegte den Kopf. »Naja, Sie wissen, wie umständlich und teuer es heutzutage ist, zu fliegen. Und ich lebe gerne in Good Old Europe. Der neuromorphe Cluster hier in Stuttgart ist in seiner Art einzigartig. Er gab für mich den Ausschlag. Meine KI braucht schnelle, gehirnähnliche Hardware. Für klassische Rechnerarchitekturen ist sie zu aufwändig.«

Bohn nickte.

»Sicher, ein sehr wertvolles Gerät. Dessen Kapazitäten nicht an Forschung verschwendet werden sollten, die keines der renommierten Journale ernst nimmt. Der Cluster muss sich irgendwie bezahlt machen. Dafür brauchen wir Ergebnisse. Haben Sie Resultate, Doktor Reinerts?«

Patrick lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

Die Show konnte beginnen.

»Rektor Bohn, wie ich sehe, haben Sie den Brief dabei.«

Bohn verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen.

»Ja«, sagte er. »Ich musste dieses ... archaische Kommunikationsmittel eine halbe Stunde lang suchen. Es war in einer Manteltasche, in die ich es vor drei Monaten gesteckt und dann vergessen hatte.«

»Würden Sie den Umschlag bitte öffnen?«

Bohn schüttelte den Kopf.

»Was soll das werden, Doktor Reinerts? Eine Zaubershow? Finden Sie nicht, dass Sie uns mit derlei Klimbim in unserem Urteil noch bestärken?«

Patrick deutete auf den Brief in Bohns Hand und nickte aufmunternd.

»Schauen Sie doch einfach rein.«

Der Rektor zuckte mit den Achseln und seufzte. Er öffnete den Umschlag, fischte einen Zettel heraus, drehte in um und las.

Bohn setzte an, etwas zu sagen, doch es kam nichts. Seine Augen weiteten sich.

Patrick lächelte süffisant. »Sind Sie überrascht, Herr Rektor?«

Bohn atmete hörbar aus.

»Wie konnten Sie das ...«, stammelte er. »Uns alle hat es eiskalt erwischt. Gestern Abend erst. Außer Familienmitgliedern weiß niemand davon. Es schien die perfekte Wahl für Janine. Sie liebte ihr Studium.«

Patrick deutete auf Bohn.

»Sie werden in den nächsten Tagen feststellen, dass man es hätte voraussehen können. Meine KI hat genauer hingesehen, frühe Signale erkannt und exakt den Zeitpunkt extrapoliert, zu dem Janine ihr Jurastudium abbrechen würde. Was Sie noch nicht wissen: Sie wird sich für Internationale Ökonomik einschreiben. Wahrscheinlich in Paris.«

Bohn rieb sich mit der flachen Hand über das Gesicht.

»Warum haben Sie mir das nicht... Man hätte....«

»Was hätte man, Herr Rektor? Janine von ihrer Entscheidung abbringen können?«

Bohn atmete durch und schüttelte dann resigniert den Kopf. Er warf den Zettel auf Patricks Schreibtisch. »Wir hätten Ihnen keinen Zugang zu den Studentendaten geben sollen, Reinerts!«

Bohn beugte sich ihm entgegen. »Solche Studienabbruch-Prognosen sind nicht neu, Reinerts. Wir nutzen seit Jahren KI, um Wackelkandidaten zu finden und gezielt zu beraten.«

»Ich weiß, Herr Rektor. Aber warum hat Ihre KI Janine dann nicht gefunden?«

Bohn holte Luft, sagte aber nichts.

»Sehen Sie. Das ist eben Laplace. So heißt meine KI. Laplace findet die Black Swans.«

»Die was?«

»Die schwarzen Schwäne. Eine Geschichte aus dem 17. Jahrhundert. Man dachte damals in Europa, dass es schwarze Schwäne nicht gibt. Bis eine holländische Expedition in Australien welche sichtete. Seither steht der Ausdruck für etwas, das man nicht kommen sieht, weil man es noch nicht kennt. Angeblich kann man sie nicht voraussagen, weil sie nicht ins Raster passen. Und weil sie eben beisspiellos sind, wie der Weltfinanzcrash von 2007.

Was unsere Studienabbrecher angeht. Die alte KI findet zwar versteckte Muster, die auf einen baldigen Abbruch hinweisen. Aber es sind eben Muster, Verhaltensweisen, die sich wiederholen. Man findet nur, was man schon kennt. Der Ausreißer, der untypische Fall: wird übersehen.«

Bohn lachte humorlos auf. »Klingt absolut plausibel. Und Sie wollen das Zauberkunststück hinkriegen?«

»Ja. Laplace macht es anders.«

Bohn fingerte nach der Lehne eines leeren Bürostuhls, zog ihn hinter sich und setzte sich, während er Patrick nicht aus den Augen ließ.

»Ach ja? Und wie

»Sie interessieren sich plötzlich für Esoterik, Herr Rektor?«

»Sie haben zwei Minuten, mich davon zu überzeugen, dass das kein Zufallstreffer war.«

Patrick wandte sich dem Display an der Wand zu. »Bildschirm, Video 12 abspielen.«

Auf dem Wandschirm erschien eine Scheibe, an der Rinnsale herunter perlten.

»Was sehen Sie, Herr Rektor?«

Bohn blies die Wangen auf. »Ein Fenster?«, fragte er tonlos. »Bei Regen? Draußen herrscht Abenddämmerung.«

»Könnte sein. Sehen Sie ein bisschen genauer hin. Was erkennen Sie im Hintergrund?«

Bohn kniff die Augen zusammen. Etwas Helles, Hohes tauchte verschwommen hinter dem Schleier aus Bächlein auf.

»Ein Baum, ein Turm, ein Felsen?«, riet der Rektor mit wachsender Ungeduld.

»Warten Sie ab«, sagte Patrick.

Das Helle bewegte sich, änderte seine Form: schmal unten, mit einer eleganten Verdickung nach oben hin.

»Ein nacktes Bein!«, rief Bohn. »Das ist eine Duschkabine!«

Patrick klatschte Beifall. »Richtig, Rektor! Bildschirm, Video stoppen!«

Er wandte sich Bohn zu. »Was ist gerade passiert? Zuerst haben Sie Informationen gesammelt. Sie haben darauf eine Hypothese gegründet: der Blick durch ein Fenster. In dieses Raster haben Sie die weitere Beobachtung gepresst, da Sie es noch nicht richtig erkannten. Ein Fels, sehr lustig! Erst, als das Bein erkennbar war, ersetzten Sie Ihre Hypothese durch eine neue: eine Duschkabine.«

Bohn zuckte mit den Achseln. »Und?«

»Laplace macht es genauso«, fuhr Patrick fort. »Er erkennt Muster in Daten, etwa die Regentropfen, die Scheibe. Wie Sie auch, baut er darauf eine Hypothese: das Fenster. Anders als Sie aber hatte er diese Hypothese längst verworfen, als das Bein für Sie erkennbar war.«

»Und warum?«

Patrick lächelte. »Wissen Sie, warum wir von Dingen überrascht werden?«

»Weil wir blind dafür sind, sie kommen zu sehen?«

»Genau. Weil uns die Information fehlt, die die vermeintliche Überraschung ankündigt. Die kleinen Vorzeichen vor dem großen Knall. Schon Monate vor dem Bankencrash 2007 zum Beispiel mussten Fonds und Banken zig Milliarden Dollar an faulen Immobilienkrediten abschreiben. Schauen wir es anhand des Videos an. Bildschirm! Spiel es bitte nochmal ab, Zeitlupe, Faktor 0,1.«

Der Wandschirm zeigte langsamer fließende Rinnsale.

»Achten Sie bitte auf die linke untere Ecke.«

Etwas Silbernes blitzte dort auf, als ein Rinnsal kurz aussetzte.

»Bildschirm, Stop!«, rief Patrick. Das Bild gefror. »Was sehen Sie dort, Rektor?«

Bohn zwickte die Augen zusammen und studierte das Bildelement.

»Das könnte die Abdeckung des Abflusses sein.«

»Richtig. Das konnte man nur in einem Zeitfenster von einer viertel Sekunde erkennen. Sie nahmen das in der kurzen Zeit nicht wahr. Doch Laplace erfasst sehr viel rascher als wir. Das neuromorphe Netzwerk leitet Signale zehntausend Mal schneller als unsere Nervenfasern. Für Laplace war der Deckel sozusagen über vierzig Minuten zu sehen. Das Bein konnte ihn nicht mehr sonderlich überraschen. Bis dahin hatte er längst genug Information gesammelt, um sein Auftauchen zu erraten. Laplace wusste lange vor Ihnen, was man in dem Video sieht. Er blickt nicht in die Zukunft – natürlich nicht. Aber er kennt die Gegenwart so gut wie möglich. Darauf basierend stellt er eine Vermutung dessen an, was kommt.«

Bohn richtete den Zeigefinger auf Patrick und verengte die Augen zu Schlitzen.

»Ich fasse zusammen: Ihr Laplace beobachtet genau. Er lernt daraus, wie die Dinge zusammenhängen, richtig?«

»Ja, mit Hilfe seiner hirnähnlichen Struktur lernt er äußerst effizient.«

»Er benutzt dieses Wissen dann, um neue Beobachtungen zu kombinieren und zu einer Prognose zu verdichten. Ein bisschen wie Sherlock Holmes.«

Patrick nickte lächelnd. »Kein schlechter Vergleich, Rektor.«

Bohn schüttelte den Kopf, wie nach einem mäßig delikaten Essen.

»Sie sprechen mit einem Mathematiker, Reinerts. Als solcher weiß ich, dass sich mit Logik allein bei weitem nicht jede Wahrheit herleiten lässt. Nehmen Sie die Welt der Zahlen. Man kann durch Schlussfolgern viele wahre Sätze über Zahlen und ihre Beziehungen untereinander herleiten. Aber eben nicht alle. Das hat Kurt Gödel vor 100 Jahren bewiesen! Wenn das schon in der relativ klaren Welt der Zahlen so ist, dann erst recht in der viel verwickelteren wirklichen Welt! Die meisten Ereignisse werden Sie durch Logik nicht voraussehen können!«

»Aber Mathematiker finden die Sätze, die sich der Logik entziehen, doch trotzdem«, gab Patrick zurück.

»Sicher«, gab Bohn zu.

»Und wie tun sie das?«

»Das ist ein großes Rätsel des menschlichen Geistes. Ich würde sagen: Wir nutzen unsere Intuition. Auch Detektive lösen ihre Fälle nicht nur durch Schlussfolgern, sondern auch mit ihrer Nase, ihrer Menschenkenntnis. Dinge, die ein Computer schlicht nicht besitzt!«

Patrick zog die Mundwinkel nach unten. »Was ist Intuition?«, fragte er.

Bohn wirkte verunsichert.

»Intuition … das ist eine Art gefühltes Wissen, eine vage Ahnung haben, das Finden passender Analogien ...«

Patrick grinste süffisant.

»Ich stelle fest: Sie wissen es nicht. Woher wollen Sie dann wissen, dass es ein Computer nicht besitzt?«

Bohn blies die Backen auf.

»Sagen Sie jetzt nicht, Ihre Maschine habe ein Bauchgefühl, Reinerts!«

»Keine Sorge, Rektor. Sie nutzen ohnehin die falschen Begriffe. Es geht nicht um Bauch oder Nase, sondern um Komplexität. Ihr Gehirn, Herr Bohn, ist komplexer als die Menge der reellen Zahlen. Es kann Analogien bilden oder durch Beobachten lernen. Es nutzt viele Wege zum Wissen. So finden Sie auch neue mathematische Wahrheiten. Ein wenig wundere ich mich über Ihre Argumentation, da Sie doch wissen, dass unser neuromorpher Cluster hier in Stuttgart noch komplexer ist als ein menschliches Gehirn. Er besitzt zwei Billionen nanoelektronische Nervenzellen mit noch einmal einer Million Mal mehr synaptischen Verbindungen dazwischen. Es ist damit um einen Faktor 20 komplexer als das Gehirn. Es verarbeitet Nervenimpulse zehntausendmal schneller als das biologische Gehirn. Gemessen in menschlichen Zeitbegriffen hat Laplace somit 30.000 Jahre an Erfahrung. In einer hirnähnlichen Schaltung dieser Größe kann alles Mögliche erscheinen. Schon das weitaus weniger komplexe System AlphaGo von Google hat vor 15 Jahren binnen weniger Tage Go besser beherrscht als jeder Meister dieses Brettspiels. Als AlphaGo Lee Sedol, einen der weltbesten Go-Spieler, ein ums andere Mal schlug, wollten Experten in seinem Spiel Kreativität und Intuition erkannt haben. Glauben Sie mir, Rektor. Laplace geht weit darüber hinaus! Seine Schaltkreise sind genauso verdrahtet wie ein Gehirn. Er ist mehr als Software. Er ist eine gigantische, superschnelle Denkmaschine. Der Fall Janine war für Laplace nur eine Fingerübung. Ich weiß nicht, wozu er fähig ist. Niemand kann das voraussehen.«

Bohn nickte langsam. »Sie haben Recht, Reinerts: Niemand kann ausschließen, dass ein solches Kunsthirn Qualitäten reproduziert, die man nur dem menschlichen Geist zuschreibt. Aber ...«

»Ich halte das sogar für wahrscheinlich. Denn Laplace sieht den Menschen den ganzen Tag lang zu. Er lernt ihr Denken. Und das tut er verdammt schnell.«

Bohn winkte ab. »Jaja, Reinerts. Aber den Beweis zu erbringen, wird Ihnen schwer fallen. Und einen sehr wesentlichen Faktor wird auch Ihr Laplace niemals unter Kontrolle bekommen.«

Patrick nickte. »Sicher meinen Sie den Zufall

»Natürlich. Oder würden Sie behaupten, Laplace könnte vorhersehen, dass eine Verwaltungsangestellte die Wahlzettel aus Versehen so formatiert, dass die Kringel für die Kreuzchen verrutschen und viele Wähler es falsch setzen? So ist George W. Bush im Jahr 2000 US-Präsident geworden! Ohne diese Fügung hätte es wohl keinen Irak-Krieg gegeben und so weiter. Wie oft schubst ein kleiner Zufall die Weltgeschichte in eine neue Richtung?«

»Ich behaupte«, gab Patrick zurück, »man kann den Zufall bändigen, Rektor. Oft ist Zufall nur ein anderes Wort für mangelndes Wissen. Ein theoretischer Geist, der alles sieht, hätte auch den Fehler der Verwaltungsangestellten bemerkt. Mit Daten aus Umfragen hätte er abschätzen können, wie viele Stimmen das Bushs Gegner kostet und ob es ihn zum Präsidenten macht.

Sicher, ein Ideal, das man nie ganz erreichen wird. Gegen den Restzufall gibt es aber auch ein Mittel: Zufall. Die neuronalen Schaltkreise von Laplace funktionieren nicht völlig vorhersehbar. Die Neuronen regen sich gegenseitig an und hemmen sich gleichzeitig. Einzelne Neuronen reagieren auf diese Mischung mit spontaner Aktivität. Laplace hat daher so etwas wie unvermittelte, kreative Gedanken oder Geistesblitze. Er nutzt das, um Alternativen zu einem Szenario auszurechnen. Oft zeigt sich, dass viele Szenarien ähnlich verlaufen. Eine Vorhersage kann erstaunlich stabil gegen Zufälle sein. Auf dieser Basis kann man dann gut informierte Schätzungen abgeben: Was wird wahrscheinlich passieren? Was wird wahrscheinlich nicht passieren? Ich behaupte nicht, dass Laplace jeden Black Swan prognostizieren kann. Vielleicht nur die Hälfte von ihnen. Aber das ist besser, als blind ins Verderben zu rennen!«

Bohn stand auf und marschierte im Büro auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und den Kopf gesenkt.

»Wie steuern Sie Laplace, Doktor Reinerts?«

»Man kann ihm konkrete Fragen stellen. Im Hintergrund arbeitet er stets selbstständig. Mit einer Methode namens bestärkendes Lernen. Er erkundet die Welt wie ein Kind und lernt. Ich gebe ihm lediglich das Ziel vor.«

»Das da lautet?«

»Black Swans vorherzusehen und rechtzeitig Informationen bereitzustellen, die für ihre Abwendung relevant sind.«

Bohn atmete durch.

»Gut, Doktor Reinerts. Sie haben mich überzeugt. Vorläufig. Ich gebe Ihnen noch eine Chance. Allerdings erwarte ich auch mehr Einsatz, in der Szene anerkannter zu werden.«

Obwohl Patrick nicht überrascht über Bohns Einlenken war, wallte Freude in ihm auf.

»Vielen Dank, Rektor Bohn«, sagte Patrick, etwas zu euphorisch.

Bohn taxierte ihn.

»Ich bewundere Ihre Begeisterung für diese Sache, Reinerts. Wo kommt das bloß her?«

Patrick lächelte. »Es ist ein bisschen wie eine Jagd, Herr Bohn. Was mich, offen gesagt, motiviert, ist eine Angst vor der ganz großen Katastrophe, einem einzigartigen, globalen Event. Wie der weiße Wal. Ich will nicht, dass sein Auftauchen übersehen wird.«

Bohn zog einen Mundwinkel nach oben. »Sie vergleichen sich mit Captain Ahab? Der einsame, besessene Jäger des Monsters?«

Nun war Patrick doch überrascht. Tat er das? Er überlegte und schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, war Ahab wahnsinnig. Er zeigte keine Angst vor Moby Dick. Ich hingegen sorge mich sehr wohl. Vielleicht, weil ich noch ein Kind war, als damals die Finanzkrise losschlug. Hat meine Familie schwer gebeutelt.«

Bohn lachte in sich hinein, schüttelte den Kopf und wandte sich zum Gehen.

»Auf Wiedersehen Doktor Reinerts.« Der Rektor verließ das Büro.

Patrick ging in Siegerpose. »Ja!«, stieß er aus, als Bohns Schritte im Gang verhallt waren.

»Laplace!«

»Guten Tag, Patrick, was kann ich für dich tun?«, erklang eine angenehm warme männliche Stimme mit französischem Akzent.

»Was sagst du dazu?«

»Es ist sehr positiv für dein Projekt, wenn Rektor Bohn es für wichtig hält.«

Patrick freute sich darüber, dass Laplace nicht nachgefragt hatte, wozu er Stellung nehmen sollte. Laplace hatte es dem Kontext entnommen.

»Das sehe ich genauso, Laplace. Bald werden wir beide unseren Durchbruch haben und fester Bestandteil der staatlichen Sicherheitsarchitektur werden. Berlin wird uns haben wollen. Wir werden ein unverzichtbarer Grundpfeiler des Gutlebens sein. Fast so wichtig wie Gaia selbst.«

»Das halte auch ich für eine fast zwingende Entwicklung, Patrick. Ich sehe kein Hindernis auf diesem Weg.«

»Sehr schön, Laplace. Wenn du das sagst!«

Patrick drehte den Stuhl zum Fenster und bemerkte, dass dieses noch getönt war. »Rhea!«

Das Symbol des Assistenten, ein weiblicher Kopf antiker Anmutung, erschien in Patricks unterem Sichtfeld.

»Was kann ich für dich tun, Patrick?«

»Bitte das Büro zurücksetzen.«

Augenblicklich wurde es hell und der Wandbildschirm rollte sich wieder in sein schmales, waagrechtes Kästchen.

»Ach ja, Patrick«, sagte Rhea. »Ich hätte ein Interview aus der Cloud, das dich interessieren dürfte.«

Das irritierte ihn. Normalerweise las er Streams erst in der Mittagspause. Hatte Rhea etwa erkannt, dass er euphorisiert war und im Moment ohnehin nicht konzentriert arbeiten konnte?

»Okay, Rhea, ausnahmsweise.«

Als Erstes tauchte das Logo der Berliner tageszeitung vor ihm auf. Patrick verzog das Gesicht, als hätte er saures Bier gekostet. »Rhea! Ich lese dieses revoluzzerische Blatt nicht!«

»Ist mir bekannt. Doch das gesamte Interview erschien nur dort. Weil es um KI geht, dachte ich, es könnte dich interessieren. Auch wenn du anderer Meinung sein wirst, als die interviewte Ärztin.«

»Hm, okay. Lies es mir vor.«

Fünf Minuten später stützte Patrick die Ellbogen auf den Schreibtisch und legte sein Gesicht in die gefalteten Hände. Starkes Stück. Eine Klinikärztin, die sich über Kontrollverlust beklagte. Soviel er wusste, bekamen die Kliniken alle Daten über Diagnosen und Therapien von Gaia. Sicher war die Kritik dieser, wie hieß sie nochmal, Jette Blomberg, unberechtigt. Aber wenn der Stachel des Zweifels einmal da war ... Das Gutleben beruhte auf Vertrauen.

Er befahl Rhea, Information über diese Jette Blomberg anzuzeigen. Doch viel mehr als einen knappen Lebenslauf gab es nicht. Demnach hatte sie im kalifornischen Stanford auf dem Gebiet der personalisierten Medizin promoviert, und zwar bei einem der führenden Experten, James Briggs. Danach hat sie die personalisierte Medizin an der Uniklinik Frankfurt wesentlich mit aufgebaut. Hochkarätig. Er musste sie ernst nehmen.

»Rhea!«

»Ja?«

»Nimmst du sie bitte in den Filter auf?«

»Wen, Patrick?«

Er stutzte. Sonst erfasste Rhea den Kontext sofort intuitiv und wusste, was er wollte – sogar im Voraus. Aber gut, seine Anweisung war unscharf. Im Artikel wurde eine weitere Ärztin erwähnt. »Jette Blomberg, von der Klinik Frankfurt!«

»Alles klar, Patrick«, quittierte der Avatar. »Jette Blomberg ist deinen Kontakten hinzugefügt.«

Patrick stand auf, um sich einen Kaffee zu holen. Diese Sache würde er im Blick behalten.

K.I.

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