Читать книгу K.I. - Christian J. Meier - Страница 13

8

Оглавление

Die Spätnachmittagssonne stand knapp über den Säulen des Königsbaus, als Patrick den Stuttgarter Schlossplatz überquerte. Trotz der trockenen Hitze hielt ihn der vormittägliche Überzeugungserfolg in Hochstimmung. Vergnügt beobachtete er das Treiben. Paare flanierten über die Schotterwege, Männer und Frauen saßen entspannt auf den Bänken. Stimmen plätscherten wie die Springbrunnen, Lachen perlte dazwischen. Eine junge Frau umarmte ein nur für sie sichtbares Gegenüber. Sie legte den Kopf schräg, schloss die Augen und öffnete den Mund einen Spaltbreit. Ein von der Cloud vermittelter Kuss. Jemand saß auf einem Ball in der Wiese und legte sich in Kurven, die Arme nach vorne gerichtet, als halte er einen Motorradlenker. Sein Gesicht spiegelte eine Mischung aus Angst und Ekstase. Entweder war er in die Haut eines Helden des Gutlebens geschlüpft oder er spielte ein Virtual-Reality-Game. Das Gutleben zelebrierte seine heitere Gelassenheit. Einzig ein junger Mann saß auf einer Bank und ließ mit konzentriertem Blick die Finger vor den Augen tanzen. Er sah aus wie ein Virtual-Reality-Programmierer. Zwischen dem Tippen auf der virtuellen Tastatur wischte, nickte und blinzelte er in raschem Takt. Patrick hatte beobachtet, dass in Berufen, die immaterielle Güter schufen, die alte Neigung zu Hektik und Effizienz herrschte. Es gehörte, fand Patrick, zu den Errungenschaften des Gutlebens, dass die Bitarbeiter den anderen, die weniger arbeiteten, gegenüber keinen Neid hegten. Sie wussten, dass sie für ihre Produkte Menschen brauchten, die Zeit hatten, sie zu konsumieren.

Am Eingang zum Schlossgarten, zwischen den Plastiken der Jagdgöttin Diana und der Liebesgöttin Venus, herrschte Markttreiben.

»Patrick, da drüben gibt es frische Honigmelonen«, meldete sich Rhea. Ein grüner Pfeil zeigte auf einen Stand unter der Venus. Patrick folgte dem Hinweis wie im Reflex.

Genau das passt zum Parmaschinken, den er sich heute, zur Feier des Tages, genehmigen wollte.

Patrick spazierte zu einem Stand, auf dem gelb-grüne Kugeln in der Größe von Handbällen lagen. Er griff nach einer mittelgroßen Frucht und steckte sie in seine Aktentasche.

»Macht einen Euro«, sagte der Verkäufer und hielt ihm ein Schildchen mit einem X-Code entgegen.

»Okay«, sagte Patrick und bestätigte mit einem zweifachen Blinzeln. Doch die Bestätigung Rheas über die Transaktion blieb aus. Er blinzelte nochmal. Nichts.

»Stimmt was nicht?«, fragte sein Gegenüber.

»Die Überweisung klappt nicht.«

Im gleichen Moment kam die Bestätigung.

»Ah, jetzt«, sagte Patrick. »Seltsam. Das hatte ich noch nie.«

Er wünschte einen guten Abend und schlenderte weiter, quer über den Schlosspark, an der Oper vorbei. Auf der Konrad-Adenauer-Straße murmelte der Verkehr. Patrick unterquerte die Verkehrsader und setzte seinen Weg in die Urbanstraße fort, wo er wohnte. Er trat auf die Fahrbahn, um ein Wahlplakat mit dem buddhaähnlichen Gesicht von Andrea Alexiou zu umgehen, das an der Stange einer Straßenlaterne hing. Er wusste auch so, dass er die amtierende Kanzlerin, Kandidatin der Staatsminimalistischen Union wählen würde. Alle anderen wollten Veränderung. Besonders die Freien Digitalen Bürger. Die kantigen Züge von deren Kandidaten Bennet Müller zeigte das Plakat darüber.

Patrick überquerte die Straße. Gegenüber dem geometrischen Vordach der Musikhochschule bog er in den Eingang des neuen Containerhochhauses, in das er letztes Jahr gezogen war. Die Tür glitt vor ihm zur Seite. Der Lift wartete schon mit offener Tür. Er trat in die Kabine, an deren Wand ihn der Schriftzug Gaia Facility Services begrüßte. Im achten Stock stieg Patrick aus. Die Tür zu seinem Würfel klickte und schwang auf. Er trat in sein winziges Reich.

»Willkommen zu Hause«, flötete Rhea. Patrick durchquerte die schmale Diele in den Wohnraum und legte die Tasche auf die Arbeitsplatte der Küchennische. Auf dem Tablett des Essensdruckers lagen blütenförmige, dampfende Nudeln bereit. Patrick holte die Melone aus seiner Tasche und öffnete gleichzeitig mit der Rechten die Universalmaschine. Er legte die Frucht hinein. Rhea ließ sie schnitzeln.

Patrick öffnete den Kühlschrank und beäugte skeptisch das Stück Schinken darin. Er holte es heraus und las das Etikett. Ärgerlich presste er die Lippen zusammen, riss das Rückgabefach auf und feuerte den Schinken hinein.

»Rhea! Du weißt doch, dass ich an Tagen wie heute einen Parmaschinken wünsche? Aus Parma. Italien.«

»Das ist mir bekannt. Ich habe deinem Wunsch mehr als entsprochen. Du hättest diesen Schinken geliebt. Er ist vom Eichelschwein, von einem Hof bei Böblingen.«

»Es. Ist. Aber. Kein. Parmaschinken.«, protestierte Patrick.

»Ja, aber ein gutes Äquivalent. Luftgetrocknet. Und noch dazu bio und regional. Immer mehr Liebhaber von Parmaschinken steigen auf lokale Varianten um. Sie schätzen das individuelle Terroir.«

Patrick winkte ab.

»Okay, Rhea. Ich möchte, dass du ausdrückliche Wünsche respektierst, klar?«

»Du bist der Boss, Patrick«, sagte Rhea. Die Enttäuschung in der synthetischen Stimme war klarer, als er es je von einem Menschen gehört hatte.

Patrick ersetzte den Schinken durch Spiegeleier. Während er aß, ärgerte er sich über Rheas plumpen Versuch, ihn vom geliebten Parmaschinken abzubringen. Sie konnte das besser. So, dass es einem nicht auffiel.

Nudging, subtile Stupser, eine gelinde Form der Bevormundung. Die Kehrseite des Gutlebens. Eingenordet werden. Ständig, überall. Aber auch nötig. Für das Klima, für den sozialen Zusammenhalt, für die Gesundheit. Patrick kannte die Macht des Nudgings. Ein winziger Schubs an der richtigen Stelle konnte sogar den Lauf der Geschichte ändern. Oft hing es an einzelnen Personen. Das hatte Laplace schon mehrfach aufgezeigt. Daher hatte Patrick den Computer beauftragt, bei Menschen, die fast ihr gesamtes Leben mit der Öffentlichkeit teilten, nach ungewöhnlichen Anzeichen Ausschau zu halten. Dazu gehörten Politiker oder Helden des Gutlebens, jene Menschen, deren Leben als Vorbild für die anderen diente und die es daher bis zu 24 Stunden am Tag und bis zu sechs Tagen in der Woche zur Schau stellten.

Laplace sollte mit der heutigen Analyse durch sein. Patrick holte die Foil aus seiner Tasche und rollte sie auf dem Esstresen aus. Er konnte von überall aus mit Laplace sprechen. Als Verbindung nutzte er den Tunnel, zu dem nur Eingeweihte Zugang hatten. Keine der Ressourcen oder Personen in dieser versteckten Cloud war über eine Internetsuche auffindbar, sondern nur gezielt über einen geheimen Schlüssel oder einen Decknamen aufrufbar. Jeder Datenaustausch wurde nach dem aktuellsten Stand der Kryptografie verschlüsselt. Das sicherte Laplace vor Lauschangriffen oder unbefugten Zugriffen.

Patrick tippte einen langen Schlüssel ein. Der Hintergrund der Foil nahm ein giftiges Grün an, was den Eintritt in den Tunnel signalisierte. Das Terminal von Laplace öffnete sich. Es zeigte eine Liste mit Berichten, die sein prognostischer Computer verfasst hatte.

Patrick ging die Berichte durch. Die ersten drei zeigten keine Abweichungen.

Er öffnete den Report über die Heldin Nora Roos und stutzte. Der Überblick über die letzten vier Wochen zeigte sechs Anomalien.

Hoppla!

Hier tat sich etwas! Sein Herzschlag zog an. Nora war die einzige Heldin, der er selbst regelmäßig zusah. Er konnte nicht von ihr lassen.

Was Laplace berichtete, war untypisch für Nora. Einmal hatte sie Schuhe gekauft, die nicht aus recyceltem Leder oder einem anderen planetenfreundlichen Rohstoff bestanden, sondern aus Plastik. Eine ihrer neu erstandenen Blusen hatte einen Matrosenlook. Nicht ihr Stil. Zwei ihrer Lover im betreffenden Zeitraum waren bärtige, ungepflegte Typen. Am Kopf des einen baumelten ellenlange Rastas. Ganz und gar nicht Noras Beuteschema. Die weiteren Anomalien waren subtiler. Sie bezogen sich auf Themen, für die Nora sich interessierte oder über die sie sprach. Und die Art, wie sie das tat. Nora unterhielt sich zum Beispiel lange mit einer Frau über deren häufige Jobwechsel. Oder sie lauschte der Story eines greisen Ehepaars über ihr früheres Gipfelstürmen im Himalaya.

Patrick wischte eine Seite weiter zur semantischen Analyse der Anomalien. Laplace erkannte, ob ein gemeinsamer Nenner hinter ihnen steckte. Die Maschine hatte Millionen von Artikeln, Bestsellern oder anderer kulturprägender Texte verarbeitet und dadurch herausgefunden, was bei Wörtern mitschwang. Laplace besaß ein Netz aus Begriffen und den jeweiligen Assoziationen dazu. Er las das Unterbewusstsein der menschlichen Kultur. Kurz gesagt: Er sah voraus, woran Menschen dachten, wenn sie etwas lasen oder hörten. Und welche Wertung, positiv oder negativ, sie damit verbanden.

Hinter Noras neuer Unberechenbarkeit steckte laut Laplace ein Thema: Abenteuer.

Patrick starrte auf dieses Wort. Ein Schauer lief ihm über die Arme.

Was hatte eine Heldin des Gutlebens mit Abenteuern zu schaffen? Sie war, wie die anderen, ein Vorbild der Genügsamkeit, bei aller oberflächlichen Prasserei. Wie die meisten kuschelte sie im warmen Uterus von Gaia. Die Massen taten es ihr nach.

Wurde Nora beeinflusst? Genudgt?

Wie konnte er das herausfinden?

Nora ließ ihren Stream komplett öffentlich, bis auf ein paar Tage im Monat. Jeder sah, was sie sendete und was sie empfing.

Patrick ließ Laplace analysieren, was zu Nora strömte, Kommentare, Fragen, Komplimente, Kontaktversuche. Unter der Vorgabe, Anomalien zu finden, die in enger assoziativer Verbindung zum Konzept »Abenteuer« standen.

Eine Stunde später lag das Ergebnis vor. Nora hatte mehr als zweihundert Nachrichten erhalten, die subtil Assoziationen zum Thema Abenteuer auslösten. Vordergründig bedienten diese Streams Noras Interessen, wie die neueste Recycling-Mode, genussvolle, aber ökologisch korrekte Regio-Kulinarik, Paarbeziehungen. Doch es schwang immer etwas mit: Jemand fragte, was sie von Vogelmotiven auf T-Shirts hielt. Ein anderer sendete ein Selfie von einer Fahrt durch die Nordwestpassage.

Patrick sah diesen Nudges an, dass sie messerscharf auf eher unbekannte Vorlieben Noras zielten. Jemand kannte sie gut, sehr gut. Das Nudging zeigte Wirkung.

»Okay, Laplace«, sagte Patrick. »Wohin führt das?«

»Ich bin eine Standardschar von Szenarien durchgegangen«, antwortete der Computer. »Innerhalb der Standardabweichung herrscht ein Ergebnis klar vor.«

»Das da lautet?«

»Nora Roos wird innerhalb der nächsten zwei bis drei Wochen eine abenteuerliche Reise antreten. Sehr wahrscheinlich per Segelboot. Sie wird das mit ihren Viewern teilen. Da Nora Roos zu den Top-Helden gehört, wird ihre Entscheidung großen Einfluss auf die Einstellung weiter Bevölkerungsteile haben. Sie werden mehr Wert auf Freiheit legen. Bei der Wahl im September werden die Freien Digitalen Bürger davon profitieren. Bennet Müller könnte Bundeskanzler werden. Letzteres hängt jedoch noch von Faktoren ab, für deren Einschätzung mir Daten fehlen.«

Patrick griff sich an die Brust. Sein Herz raste. Er atmete langsam ein und aus. Bennet Müller als Kanzler. Das hätte Potenzial, den Westen zu erschüttern. Das wäre ein Symbol politischen Aufbruchs. Berlin wäre nicht länger ein Zirkus für belanglose Boulevard-Streams, sondern für Gaia ein ernstzunehmender Gegner. Eine der größten Puppendemokratien des Westens würde aus dem Dornröschenschlaf erwachen und das Gutleben infrage stellen. Denn die FDB verneinte radikal jede Form der Bevormundung. Jede. Auch das Nudging, das zwar keinen absoluten Zwang ausübte, somit vermeintlich Freiheiten ließ, die freie Wahl jedoch unbequem machte und als abweichendes Handeln diffamierte. Damit sagten sie Gaia, wenn auch nicht namentlich, den Kampf an.

Patrick drehte schwungvoll den Hocker um 180 Grad und blickte durch die Glaswand über die Dächer der Stadt. Nora drohte aus der Reihe zu tanzen.

Lächelnd schüttelte er den Kopf. Ja, das traute er ihr zu.

Er beschloss, eine Vereinbarung zu brechen. Gleich morgen früh würde er Nora besuchen.

K.I.

Подняться наверх