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Patrick Reinerts beugte sich über das Bassin eines der Springbrunnen auf dem Stuttgarter Schlossplatz. In den sanften Wellen spiegelte sich ein blasses Gesicht. Die trocken-heiße Julibrise spielte mit dem halblangen dunkelblonden Haar. Einzelne Strähnen baumelten vor den eisblauen Augen. Ein auf struppig getrimmter, spitzer Kinnbart gab dem länglichen Gesicht das noble und gleichzeitig kraftvolle Aussehen eines Ritters.

Eines toten Ritters, erschrak Patrick.

Woher kam diese Blässe? Sein Gesicht strotzte sonst vor Bräune. Es lag sicher an dem Termin mit Rektor Bohn, dem er seit Wochen entgegenfieberte, beruhigte sich Patrick. Er pokerte um die Zukunft seiner Forschung.

»Macht euch frei, Mitmenschen!«, tönte ein durchdringender Bass in der Manier eines Predigers über den Schlossplatz.

Patrick richtete sich auf und sah durch den Wasserschleier des Springbrunnens hinüber zum Musikpavillon. Unter einem der maurischen Bögen ragte ein bärtiger Hüne auf wie ein Baum und redete mit ausgebreiteten Armen zu Menschen, die gleichgültig an ihm vorbeischlenderten.

»Euer Gott nimmt euch alles ab: jede Entscheidung, jeden Gedanken, jede Idee!«, dröhnte er. »Lasst eure smarten Augenlinsen herausoperieren, eure Kehlenelektroden, entfernt eure Ohrknöpfe. Das, was sie ›Gutleben‹ nennen, ist nichts weiter als ein Gefängnis für euren Körper und für euren Geist! Kehrt zu euch zurück, zu eurem Selbst. Zur Freiheit!«

Freiheit.

Davon hatte sein Vater auch immer schwadroniert, vor über zwanzig Jahren, kurz bevor dessen Bankerwelt in Trümmer fiel und ihn, samt seiner kleinen Familie, unter sich begrub. Seitdem hatte es keinen solchen Crash mehr gegeben. Das war wichtig: Stabilität.

Das Gutleben hielt den Westen zusammen.

Das Gutleben, entstanden dank Brent Scotts selbstloser Einsicht, Ökologie und Profit gleichermaßen zu optimieren, garantierte erst die Freiheit!

Patrick schüttelte den Kopf und eilte Richtung S-Bahnhof Stadtmitte, um schnell außer Hörweite des Eiferers zu kommen.

»Du kannst dir Zeit lassen, Patrick«, erklang eine warme, mütterliche Stimme in seinem Kopf. »Deine S-Bahn verspätet sich um acht Minuten«, ergänzte Rhea, digitale Assistentin fast aller Menschen im Westen. Die allgegenwärtige Stimme Gaias. »Alternativ könntest du einen Robobus nehmen. Immer mehr Nutzer nehmen Robobusse, Patrick. Sie sind sehr umweltfreundlich und sicher. Er wird in sechs Minuten dort vorbeikommen und ist direkt zum Vaihinger Campus gebucht.«

Vor der sanftgrünen Fassade des Gaia Bookstore schwebend erschien ein Straßenplan. Rhea spielte ihn auf Patricks Kontaktlinsen. Der Plan zeigte seine Position an und einen rot blinkenden Punkt an der Ecke Theodor-Heuss/Klienestraße, Gehzeit drei Minuten. »Soll ich einen Halt anfordern?«, fragte Gaias Mädchen für alles.

»Ja, bitte, Rhea«, antwortete Patrick.

»Aber gerne«, quittierte die Stimme.

Patrick verlangsamte seinen Schritt, bog in die Königsstraße ein und studierte die entgegenkommenden Passanten. Eine Frau trug eine Datenbrille, wie man sie nur selten sah. Die meisten Leute trugen Kontaktlinsen. Viele Jüngere ließen sich die Technologie, die sie mit dem lückenlosen Funknetz verband, implantieren. Die Menschen verwoben sich unterschiedlich fest mit der Cloud. Sie tauchten mehr oder weniger tief ins Gutleben. Patrick studierte die Gesichter. Etwas darin hatte sich verändert in den letzten zehn, fünfzehn Jahren. Sie waren entspannter, freundlicher, trugen öfter den Hauch eines zufriedenen Dauerlächelns; sie wirkten aber leerer, gleichgültiger, hündischer.

»Hast du einen Riegel für heute Vormittag?«, fragte Rhea, als Patrick einen Gaia Snacks passierte. Rhea blendete einen grün blinkenden Pfeil ein, der ihn zum Eingang der Riegel-Boutique wies. Der Wegweiser leitete Patrick zweimal links und einmal rechts durch die Regale des Ladens, bis ein Stoppsignal aufleuchtete. Er erwachte, wie aus einem Automatismus. In dem Fach vor ihm lagen weißlich braune Proteinriegel mit Stevia und lokalen Nüssen und Mandeln vom Otthof bei Esslingen. Kurze Transportwege, keine Verpackung. Patrick war aufgefallen, dass Rhea ihn seit ein paar Wochen nicht mehr zu Zuckerhaltigem lenkte. Womöglich maßen die Kontaktlinsen einen zu hohen Glucosewert in seiner Tränenflüssigkeit und Rhea bewahrte ihn davor, Diabetes zu entwickeln. Ob das stimmte, interessierte Patrick nicht. Niemand kümmerte sich um seine Stoffwechselwerte. Rhea agierte geschickt. Denn er liebte Nüsse und Mandeln. Flink fischte er zwei der Snacks aus dem Behälter, biss in den einen hinein, steckte sich den anderen in seine Hosentasche und verließ den Laden. Rhea buchte fünf Euro von Patricks digitaler Geldbörse ab.

Auf halbem Weg zum Treffpunkt mit dem Robobus holte Patrick den zweiten Riegel aus der Tasche und verschlang ihn, während er weiterschlenderte. »Ein bisschen schneller darf’s sein«, flötete Rhea. Er folgte.

Im Augenwinkel bemerkte er, wie auf der anderen Straßenseite eine Gruppe Passanten stehenblieb. »Rhea?«, rief eine Männerstimme so laut, dass sie von den Häuserwänden widerhallte. Patrick blieb stehen und sah hinüber. Frauen und Männer, die nicht aussahen, als gehörten sie zusammen, drehten ihre Köpfe suchend herum, nach links, rechts, oben. Zwei sahen sich an und zuckten gleichzeitig mit den Schultern. »Sie ist weg«, sagte der eine. Im nächsten Moment entspannte sich sein Körper. Auch die anderen schienen erleichtert. »Ah, Rhea, da bist du ja wieder«, sagte eine junge Frau. Alle gingen weiter ihres Weges.

Auch Patrick.

Ein Ausfall Rheas! Das habe ich noch nie gesehen!

Als Patrick an der Ecke ankam, stoppte fast lautlos ein lindgrüner Kleinbus. Die Aufschrift Gaia Mobile auf der Tür glitt zur Seite. Freundlich nickten ihm die Mitfahrer zu, als er eintrat. Eine gut aussehende junge Frau lächelte ihn offen an und machte ihm neben sich Platz. Er wünschte sich einen etwas weniger flüssigen Stadtverkehr, denn er unterhielt sich anregend mit seiner Nachbarin. Sie interessierte sich sehr für prognostische KI, Patricks Spezialgebiet – und für seine blauen Augen. Tanja, so hieß sie, studierte in Karlsruhe Kernkrafttechnik. Sie leuchtete, als sie von ihrer Beteiligung am Bau von Stuttgarts dritter Atombatterie berichtete. Endlich wusste Patrick, wozu der Schiffscontainer neben der Mensa diente. Er hatte auf einen Quartierspeicher für Solarstrom getippt, doch das Ding enthielt einen Mini-Reaktor und Kernbrennstoff für 30 Jahre, wie Tanja berichtete. Nach zwölf Minuten erreichten sie den Pfaffenwaldring, Patricks Arbeitsort. Bevor er ausstieg, blinzelten sie sich jeweils zweimal mit dem rechten Auge zu und die Linse bestätigte den Austausch der Kontakte.

Patrick stieg aus, ging in das Unigebäude und nahm den Aufzug in den fünften Stock. In seinem Büro angelangt, sah er aus dem Fenster. Er liebte die sanften Hügel des Pfaffenwaldes. Ihre Konstanz und Ruhe gaben ihm Sicherheit, milderten die diffuse Angst, und hielten seinen Herzschlag im Zaum. Nicht einmal die nagelneuen Holzhochhäuser der neuen Waldstadt fand er störend. Das Grün ihrer Fassadengärten, ihre sich nach oben verjüngende Form und die unregelmäßigen Konturen ließen sie wie Riesenbäume aussehen. Patrick drehte sich um und setzte sich an den Schreibtisch, um sich auf seinen Besucher vorzubereiten.

Die Aufzugtür öffnete sich ruckelnd. Ein hochgewachsener Mann im blauen Nadelstreifenanzug schritt zwischen die Graffitis in der Aufzugskabine, trommelte mit einem Briefumschlag an den Oberschenkel und drückte die »5«. Während die Tür sich quietschend schloss und der Aufzug losfuhr, hielt sich Erik Bohn das Kuvert vors Gesicht und drehte es um.

Bitte am 16. Juli 2031, 11.30 Uhr zur Besprechung ins Büro von Patrick Reinerts mitbringen. UNGEÖFFNET!

Bohn rief die Uhrzeit ab. Elf Uhr fünfundzwanzig. Er verzog das Gesicht, als habe er etwas Saures gekostet, und schüttelte den Kopf.

»Meine Güte, wie theatralisch«, murmelte er.

Patrick Reinerts griff nach der Tasse mit Lupinenkaffee, die auf der zerkratzten Schreibtischplatte stand.

»Rhea«, sagte er, setzte die Tasse an seine Lippe, schlürfte und verzog den Mund ob des bitteren Geschmacks.

»Ja, Patrick?«

»Ich würde gleich meinem Besuch das Video Nummer 12 zeigen.«

»Ich bereite gerne alles vor, Patrick«, quittierte Rhea.

Mit einem leisen Surren rollte sich der Großbildschirm an der freien Wand gegenüber dem Schreibtisch auf. Auf dem Bildschirm erschien das Logo von Gaia Viewer. Das Fenster verdunkelte sich wie eine Sonnenbrille. Die Website auf dem Schirm gewann an Konturen.

»Dann würde ich mich gerne für eine Weile von dir verabschieden, Rhea.«

»Wie du wünschst, Patrick«, erklang es mit wohldosierter künstlicher Pikiertheit. »Erlaube mir bitte jedoch den Hinweis«, fuhr die Assistentin fort, »dass ich alles vertraulich behandle. Die Daten werden auf dem Weg zu mir verschlüsselt. Es ist schlicht nicht nötig, zeitweise auf meine Dienste zu verzichten.«

Das konnte sich Gaias digitale Stimme nicht verbeißen. Gaia verzichtete ungern auf Daten aus dem Alltag der Konsumenten. Zwar folgte Rhea jeder expliziten Ausladung, unabhängige Messungen von Datenströmen bestätigten dies. Doch wer verzichtete schon freiwillig auf die perfekten Dienste? Ohne Rhea musste man jedes Hausgerät einzeln ansprechen, statt sich pauschal einen netten, gemütlichen Abend zu wünschen und die Details von Rhea regeln zu lassen. Für Bürogeräte und Industrieroboter galt ähnliches. Alles wurde von Gaia vertrieben, gewartet und upgedatet.

Gaia war die Benutzeroberfläche der Welt.

Doch Patrick ließ sich nicht umstimmen.

Er nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Aus dem Gang hörte er ein Quietschen und das scharfe Klackern von Ledersohlen auf Linoleumboden. Er schwang den Stuhl zum Schreibtisch, rollte seine Foil auf, beugte sich über sie, tippte und wischte darauf herum. Die Schritte verlangsamten sich. Es klopfte.

»Doktor Reinerts?«, tönte eine klare Stimme.

Patrick mimte ein Aufschrecken, wandte den Kopf zur Tür und lächelte.

»Herr Rektor Bohn! Kommen Sie doch herein.«

Bohn trat ein, gab Patrick einen flüchtigen Händedruck, während er sich mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck in dessen Büro umsah.

»Schön ruhig haben Sie’s hier.«

Patrick nickte. »Am Stuttgarter Campus tätig zu sein ist ein Privileg«, sagte er.

Bohn musterte ihn. »Sie sagen es, Doktor Reinerts. Umso mehr, da wir seit gestern, dank der jüngsten Erweiterung, den größten neuromorphen Computercluster der Welt haben. Zu dessen Auslastung, da bin ich mir sicher, Sie ebenfalls nicht unerheblich beizutragen beabsichtigen.«

Patrick nickte zögernd. Ja, tatsächlich beabsichtigte er das.

Er bot Bohn einen Stuhl und einen Kaffee an. Dieser lehnte beides ab.

»Nun, Herr Rektor, der Termin steht ja schon länger. Ich nehme an, Sie möchten über mein Forschungsprojekt sprechen.«

»In der Tat. Ihr außergewöhnliches Vorhaben ist seit Tagen Thema im Rektorat. Viele halten es für ein Hirngespinst. Budenzauber.«

K.I.

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