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Shanghai, Juli 2031

Lu Meng lächelte, wie er gelernt hatte zu lächeln, trotz des Schmerzes. Der tätowierte Arm eines der Fischhändler in der Xi Jinping Straße blockierte ihm den Weg. Der Mann hielt einem anderen Passanten einen Fisch unter die Nase. »Fangfrisch!«, schrie er. Mengs künstliches Mittelohr regelte die Lautstärke herunter. Der Geruch nach Seewasser wehte Meng, der seine Tage in KI-Labors und an Konferenztischen verbrachte, in die Nase und kündete von der bevorstehenden Flucht, der nächste Baustein seines Plans.

Der Fischhändler bemerkte Meng, lächelte knapp zurück und gab ihm den Weg frei. Er hatte ihn übersehen, wie es alle taten. Ihn, den besten KI-Experten des Reiches der Neuen Seidenstraße, der wichtige Teile des Wegs programmiert hatte. Wie seine Mutter ihn stets übersehen hatte. Es quälte ihn immer wieder. Und es trieb ihn.

Meng eilte weiter, ein Schweißtropfen floss über seine Augenbraue. Shanghai glühte in der späten Abenddämmerung. Er heftete den Blick an das Wohnzimmerfenster am Ende der Straße. Während überall Vorhänge im heißen Wind flatterten, war es geschlossen. Dahinter war es dunkel, obwohl sich die Familie zu dieser Zeit zum Abendessen traf.

Erneut flammte Schmerz auf. Meng hatte nicht erwartet, dass es seine Liebsten treffen könnte. Zumindest heute noch nicht. Hätte er sie doch in die Fluchtpläne eingeweiht!

Warum hatte er die Alarmsignale nicht ernst genug genommen?

Wenn seine Frau ihrem Aerobictreff fernblieb, um halbe Nächte allein im Biotechlabor zu verbringen, der Sohn immer öfter beim Xiangqi verlor, und die Tochter stundenlang auf dem Sofa vor sich hinstierte, statt beim Karaoke zu glänzen, dann mussten alle Alarmglocken schrillen!

Noch heute wären sie dem digitalen Wirbelsturm entgangen, der sich anbahnte. Das Schiff wartete im Hafen. Eine Träne rann ihm über die Wange, als er die Haustüre erreichte und sie öffnete. Stille plärrte ihm entgegen. Er hielt den Atem an und bog ins Wohnzimmer.

Tief in das schwarze Ledersofa gesunken lagen drei Körper, wie Marionetten, deren Fäden durchtrennt worden waren. Rosiger Teint in den Gesichtern. Drei Porzellantassen standen vor ihnen auf der Glasplatte des niedrigen Wohnzimmertisches. Daneben ein Schraubglas, halbvoll mit einer klaren Flüssigkeit. Meng schielte in eine der Tassen: Ein gelblicher Überzug kleidete sie aus. Der Arm seiner Frau Lin hing schlaff über die Armlehne, die Finger berührten den Boden. Ihre Augen aufgerissen, als habe sie den Atem des Todesgottes Yama gerochen. Die Finger ihrer anderen Hand umklammerten einen Zettel. Der Kopf seines Sohnes Tao lag mit halb geöffnetem Mund auf der Couchlehne. Die Hand der Leiche drückte ein ähnliches Stück Papier auf die Brust. Das Gesicht seiner Tochter Aya starrte ihm in Bitterkeit gefroren entgegen. Ein weiteres Blatt lag auf ihrem Schoß.

Meng trat auf Aya zu, beugte sich zögernd über sie und griff nach dem Papier. Er atmete ein und drehte es um. Der Zettel war mit rotem Buntstift bekritzelt. Drei ungelenk geschmierte Ziffern.

379.

Er wandte sich Tao zu, zerrte am Papier. Widerwillig schlüpfte unter seiner Hand eine weitere Zahl hervor.

412.

Meng entriss den Bogen der Leiche seines Sohnes, knüllte ihn zusammen und feuerte ihn in die Ecke. Er beugte sich zu Lin und zog an ihrem Wisch, dem dabei eine Ecke abriss.

437 stand darauf.

Meng ballte die Fäuste und zog die Augenbrauen zusammen. Sein Körper erstarrte wie trocknender Zement.

Seine ganze Familie war weit unter den Punktestand gerutscht, bei dem ein Bürger des Reichs der Neuen Seidenstraße als vertrauenswürdig galt. Der Score, dem der Weg einem gab, war ein Urteil. Der Weg würde seiner Familie keinen Zugang zu Verkehrsmitteln gewähren, sie in längere Warteschlangen leiten, zu den schlechten Plätzen im Restaurant. Viel schlimmer als das wäre jedoch die soziale Isolierung. Denn Umgang mit Unaufrichtigen zog den eigenen Punktestand hinab. Freundschaften würden sang- und klanglos enden, die Kinder in der Schule alleine im Pausenhof herumstehen, Tanzpartner sich andere Tanzpartner suchen.

Diese drei auf Zettel geschmierten Zahlen: Sie klagten ihn an. Ihn, Lu Meng.

Sein inneres Feuer nahm die üppige Nahrung dankbar auf.

Das war gut. Der Schmerz war sein Instrument.

Er war sein Treibstoff.

Der Booster zündete. Meng erreichte Fluchtgeschwindigkeit.

Er raffte den wehenden Vorhang beiseite und schloss das Fenster. Dann zog er die Gardine wieder davor und schaltete das Licht an. Er eilte ins Schlafzimmer, holte die Reisetasche aus dem Schrank und warf ein paar Kleidungsstücke hinein. In der Hosentasche fingerte er nach seinem Schlüsselbund, wählte den kleinsten Schlüssel und schloss damit ein Fach an der Kommode auf. Daraus holte er ein flaches, silbrig glänzendes Kästchen, hielt es mit einer Hand und streichelte es mit der anderen. Dann steckte er den Behälter in die Tasche, zog am Reißverschluss und ging zur Wohnungstür.

»Infrarotflackern aktivieren«, murmelte Meng. Mit einem grünen Blinken im oberen Blickfeld bestätigten seine Kontaktlinsen den Befehl und emittierten ein unsichtbares Blinken. Für die künstlichen Intelligenzen, die die Bilder der öffentlichen Kameras auswerteten, würde er jetzt der Hafenarbeiter Wu Dong aus der Nachbarschaft sein, von dem Meng wusste, dass er seit gestern etwas später aus dem Haus ging, weil die Klangschalenmeditation verlegt worden war.

Als Experte kannte Meng die Tricks, um den Algorithmen der Personenerkennung ein X für ein U vorzumachen. Wenn die KI sagte: Das ist Wu Dong aus der Bashong Straße in Shanghai, musste das lange nicht stimmen. Auch ein Muster, das wie Rauschen aussah, konnte diese Entscheidung herbeiführen. Wenn man wusste, wie man es berechnete. Meng wusste es. Seine Kontaktlinsen führten die KI mit einem solchen Flackern in die Irre.

So gerüstet, trat Meng vor die Tür und schlenderte die Straße hinunter. Auf Höhe des Kaufhauses »Goldener Drache« widerstand er dem Impuls, den Kopf zu senken, als er zwei entgegenkommende Polizisten passierte. Sollten sie ihn überhaupt wahrnehmen, würden auch ihre Erkennungssysteme den in höchstem Maß vertrauenswürdigen Hafenarbeiter auf dem Weg zum feierabendlichen Meditieren anzeigen. Am Ende der Straße bog Meng nach rechts ab. Richtung Hafen, wo das Schiff wartete.

Bald würde er im Westen sein.

Die drei leeren Tassen auf dem Wohnzimmertisch drängten sich vor sein inneres Auge. Er sah seine Frau, wie sie die ihre austrank und wie die Kinder ihrem Beispiel folgten. Das Gift strömte in ihre Körper, drang in ihre Zellen und erstickte diese binnen Minuten.

K.I.

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