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1.3 Gefahren der Klassifikation

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Ein Prinzip der psychiatrischen Klassifikation lautet, dass es nicht darum geht, PatientInnen zu diagnostizieren, sondern psychische Störungen. Aus diesem Grund sollten auch im Sprachgebrauch Ausdrücke vermieden werden, die auf eine Identifizierung der Menschen mit den psychischen Störungen, unter denen sie leiden, hinauslaufen, z. B. die Bezeichnung eines Schizophrenen oder eines geistig Behinderten als solchen. Stattdessen ist zu empfehlen, von Menschen mit einer geistigen Behinderung zu sprechen. Aber damit allein ist es sicher nicht getan. Die Klinische Psychologie muss sich auch mit möglichen Gefahren, die von einer im Medizinsystem verankerten Klassifikation psychischer Störungen ausgehen können, auseinandersetzen.

Die Gefährdung des Patienten/der Patientin, die mit der Verwendung eines psychiatrischen Klassifikationssystems verbunden sein kann, wurde v. a. von SoziologInnen hervorgehoben. VertreterInnen des symbolischen Interaktionismus (z. B. Scheff, 1973) haben darauf hingewiesen, dass die psychiatrische Diagnose den PatientInnen in der gesellschaftlichen Realität eine neue Identität zuweist, ein Prozess, der als „Etikettierung“ bezeichnet wird. Dieser Vorgang entspricht einem bestimmten gesellschaftlichen Mechanismus, der mit einer Ausgrenzung von auffälligem und abweichendem Verhalten verbunden ist und der die Gefahr mit sich bringt, dass das abweichende Verhalten verstärkt und damit eine abweichende Identität – die Identität als AußenseiterIn – begründet wird. In der Folge wurde darauf hingewiesen, dass die Etikettierung als AußenseiterIn vielfach mit einer formellen Abwertung des sozialen Status einhergeht. Folgende Phänomene sind damit gemeint:

– Mit bestimmten Etikettierungen sind negative Assoziationen verbunden.

– Personen, die mit einem Etikett (einer psychiatrischen Diagnose) bezeichnet werden, werden in einem ungünstigeren Licht gesehen.

– Sie werden in einer weniger positiven und angemessenen Weise behandelt.

– Das Verhalten der anderen Menschen hat negative Auswirkungen auf das Bemühen um Anpassung und Zurechtkommen der etikettierten Person.

Die Hypothese, dass die Etikettierung zu negativen Folgen für die Betroffenen führen kann, ist intuitiv nachvollziehbar. Trotzdem muss festgehalten werden, dass die Auswirkungen der Etikettierung von jenen des abweichenden Verhaltens in den meisten Fällen schwer trennbar sind. Im Allgemeinen wird die Information über das Verhalten einer Person ungleich stärker gewichtet als die Information, die aus einer Etikettierung abgeleitet werden kann.

Zwei andere Momente sind gleichfalls zu berücksichtigen:

1. Die Etikettierung eines Menschen als krank löst auch die Tendenz aus, diesem Menschen zu helfen, und sie hat für den Betreffenden auch eine entlastende Funktion.

2. Nach der Etikettierungstheorie ist die Zuschreibung einer abweichenden Identität eine so bedeutungsvolle Tatsache, dass dadurch andere Dinge in den Hintergrund treten: Sonstige Statusdefinitionen werden dadurch überschrieben. Es ist jedoch die Frage, wie generell dies gilt bzw. inwieweit dies nicht eine Funktion der sozialen Distanz darstellt und ob bei geringerer Distanz bzw. beim Wegfall anderer Mechanismen, welche die soziale Distanz aufrechterhalten (z. B. Institutionalisierung), eine Etikettierung tatsächlich so starke Auswirkungen zeigt.

Es erscheint notwendig, die möglichen negativen Folgen für die PatientInnen, die sich aus der psychiatrischen bzw. klinisch-psychologischen Diagnosenstellung ergeben, im Detail zu untersuchen. Bei einer solchen Analyse ist insbesondere darauf zu achten, inwieweit verbreitete Vorurteile, die auf einer Fehlinformation beruhen, eine Rolle spielen und wie diesen Vorurteilen begegnet werden kann. Weiters ist zu klären, ob negative Folgen an bestimmte rechtlich sanktionierte Vorgänge, etwa die zwangsweise Aufnahme in eine psychiatrische Behandlungseinrichtung, geknüpft sind. Auch ist darauf zu achten, wem Informationen über die Diagnose zugänglich gemacht werden und in welcher Form dies geschieht.

Zusammenfassung

Eine Klassifikation erlaubt eine systematische Sammlung von Erfahrungen über die Genese und den Verlauf von Störungen, über Einflussfaktoren auf den Verlauf sowie über den Erfolg von therapeutischen Interventionen bei bestimmten Störungen. Eine reliable Klassifikation bietet eine Reihe an Vorteilen für die wissenschaftliche Kommunikation, aber auch für Zuweisungsentscheidungen und die spezifische Indikationsstellung für Therapien. Zudem kann damit auch die Planung der psychosozialen Versorgung verbessert werden.

Die Anforderungen an ein Klassifikationssystem sind eine möglichst große Reliabilität, ein großer Deckungsumfang sowie eine hohe deskriptive und prädiktive Validität. Um dies zu erreichen, wurden genaue, operationalisierte Kriterien formuliert, die eine einheitliche Diagnose erlauben sollten.

Das derzeit gebräuchlichste Diagnosesystem ist das DSM-5. Es berücksichtigt die unterschiedlichen Dimensionen psychischer Krankheiten durch die Verwendung eines „hybriden“ Modells zur Diagnostik klinischer Störungen. Zudem stellt es auch die Bedeutung der subjektiven Belastung bei psychischen Schwierigkeiten, des kulturellen Hintergrunds, des Alters und Geschlechts der Personen in den Vordergrund.

Bei jeder Klassifikation ist auch die Kehrseite zu beachten, nämlich die Gefahr, dass mit der Zuschreibung einer Diagnose auch eine Etikettierung des Einzelnen erfolgt. Damit wird seine Persönlichkeit auf die Störung festgeschrieben und seine weiteren Möglichkeiten werden eingeschränkt. Mit bestimmten Etikettierungen, insbesondere bei psychischen Störungen, sind negative Assoziationen verbunden. Die Personen werden in einem ungünstigeren Licht gesehen und in einer weniger positiven Weise behandelt. Dieses Verhalten der anderen Menschen hat einerseits negative Auswirkungen auf die Anpassung des Etikettierten. Andererseits können mit einer Etikettierung auch positive Seiten verknüpft sein, nämlich die Bereitschaft von anderen, Hilfe und Unterstützung anzubieten, sowie ein Schutz der betroffenen Person.

Literatur

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Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter

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