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1.1 Grundprinzipien bei der Identifizierung charakteristischer Formen von psychischen Störungen

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Gegenüber der Auffassung, dass es lediglich eine ungeheure Mannigfaltigkeit psychischer Probleme gibt, dominierte bereits vor fünfzig Jahren die Überzeugung – wie Jaspers (1965) in seinem auch heute noch lesenswerten Überblick über die Geschichte der psychiatrischen Krankheitslehre feststellt –, dass es in der Psychiatrie – ähnlich wie in anderen Bereichen der Medizin – natürliche Krankheitseinheiten geben müsse. Dieser Auffassung folgend, wurden verschiedene Zugänge entwickelt, um verschiedene Formen psychischer Störungen zu definieren und voneinander abzugrenzen.

Eine erste Möglichkeit, die besondere Eigenart psychischer Probleme zu kennzeichnen, liegt darin, die im Vordergrund stehenden Beschwerden als Ausgangspunkt der Abgrenzung heranzuziehen. Im Laufe der Entwicklung haben fast alle psychopathologischen Symptome als Krankheitseinheiten fungiert: Halluzinationen, Wahn, die Inhalte mancher Handlungen (z. B. Pyromanie, Kleptomanie). Auch wenn die Definition psychischer Probleme über ein im Vordergrund stehendes Symptom heute eher als unzureichend betrachtet wird, so gibt es in den gegenwärtigen Klassifikationssystemen doch weiterhin eine Reihe an Störungen, bei denen dies der Fall ist (etwa das Einnässen und Einkoten).

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, aus Symptomverkoppelungen die Einheit eines „Symptomenkomplexes“ – ein Begriff, den bereits Jaspers (1965) zur Kennzeichnung dieser Form von Einheitsbildung eingeführt hat – zu konstruieren. Ausgangspunkt ist in diesem Fall entweder die Häufigkeit des gemeinsamen Auftretens, also die Identifizierung eines Musters, das auch mit statistischen Methoden nachvollziehbar sein müsste, oder die Bildung einer Einheit, die durch das Zusammenwirken mehrerer Gesichtspunkte zustande kommt, sich aber trotzdem – um mit Jaspers (1965) zu sprechen – durch die anschauliche Erfahrung gleichsam aufzwingt. Hierbei sollte ein innerer Zusammenhang zwischen den Symptomen bestimmend sein, indem diese gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen oder ein erklärbarer Zusammenhang zwischen ihnen besteht. Dieses Vorgehen erfordert eine sorgsame klinische Beobachtung und Analyse. Während die klassische Psychopathologie dies in erster Linie durch eine prägnante Beschreibung psychischer Störungen anhand konkreter Fallbeispiele geleistet hat, steht heute das Bemühen um genaue Definitionen einzelner Merkmale sowie deren Ausprägungsgrad im Vordergrund, wodurch eine Replikation der Beobachtungen und eine statistische Analyse von Zusammenhängen zwischen den Einzelmerkmalen möglich wird.

Bereits frühzeitig versuchte man, durch die Bestimmung der psychologischen Grundstruktur einer Störung die Beschreibung von Symptomenkomplexen zu vertiefen. Während im 19. Jahrhundert v. a. die Assoziationslehre wegweisend war, wurde später die Entwicklungsdynamik als Grundlage herangezogen. Die Frage, inwieweit es tatsächlich gelungen ist, psychologische Grundstrukturen bestimmter Störungen nachzuweisen, wird sehr unterschiedlich beurteilt. In der gegenwärtigen Klassifikation psychischer Störungen ist dieser Ansatz stark in den Hintergrund getreten, da die Definition psychischer Störungen unabhängig von den unterschiedlichen Standpunkten verschiedener theoretischer Schulen sein soll. Trotzdem beeinflusst dieser Gesichtspunkt auch heute noch die Definition bestimmter psychischer Störungen, so waren bei der Beschreibung einiger Persönlichkeitsstörungen, aber auch der dissoziativen Störungen die psychodynamischen Modelle wegweisend.

Ein anderer Versuch bestand darin, über die Ursachen psychischer Störungen zu Einheiten zu gelangen. So wurde z. B. im 19. Jahrhundert die Degeneration – ausgehend von der französischen Psychiatrie – als Ursache bestimmter Störungen aufgefasst. Auch die Suche nach umschriebenen Krankheitsprozessen, nach neuropathologischen, neurophysiologischen und neurochemischen Befunden oder nach genetischen Störungen, die für bestimmte psychische Krankheiten verantwortlich sein könnten, stellen Beispiele für die Bemühung dar, über die Klärung der Ursachen zu einer objektiven Basis für die Klassifikation psychischer Störungen zu gelangen. Die Definition psychiatrischer Krankheitsbilder bzw. klinisch-psychologischer Störungen über deren Ursachen blieb bis heute jedoch eine weitgehend unerfüllte Forderung.

Einen wesentlichen Fortschritt bedeutete im 19. Jahrhundert die Forderung Kahlbaums, neben einer umfassenden Beobachtung des klinischen Erscheinungsbildes auch den Verlauf als Grundlage für die Bildung von Krankheitseinheiten zu betrachten. Diese Forderung wurde von Kraepelin (1909–1915) aufgegriffen. Von Letzterem stammt der Ansatz, v. a. die Ausgänge von psychischen Krankheiten zu studieren. Daraus ergibt sich die Einteilung in heilende und niemals heilende psychische Krankheiten. Kraepelin knüpfte daran die Erwartung, dass die Kenntnis des Verlaufs die psychologische Struktur bzw. die psychologische Grundform des Krankheitsvorganges erkennen lässt. Krankheitsbilder sollten die gleiche Ursache, die gleiche psychologische Grundform, die gleiche Entwicklung und den gleichen Verlauf, den gleichen Ausgang und den gleichen Hirnbefund aufweisen.

Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter

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