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ОглавлениеIn die Wohnung in Lichtenberg zogen wir, nachdem mein Vater uns verlassen hatte. Sie war hell, trocken und warm und meine Mutter musste neben ihrem Job ein paar Stunden in der Woche bei der Wohnungsgenossenschaft arbeiten, um sie zu bekommen. Sie lag im zweiten Stock, hatte drei Zimmer und einen großen sonnigen Balkon, von dem aus man ins Grüne blickte. In der Ferne sah man die Schornsteine des Kraftwerks Klingenberg hinter dem Betriebsbahnhof Rummelsburg. Ich erinnere mich noch an die beklommene Stimmung meiner Großeltern beim Einzug. Sie schenkten mir lauter tolle Sachen, die sie von ihrer ersten Reise nach drüben mitgebracht hatten, damit ich meinen Vater vergaß und fröhlich war. Anfangs saß meine Mutter nachts oft im Türrahmen meines Zimmers und weinte. Sie ließ dabei im Wohnzimmer Herman-van-Veen- und Georges-Moustaki-Platten laufen und trank Rotwein.
Die Kinder waren anders als in Köpenick. Sie sahen gesünder aus und hatten ordentliche Frisuren. Ich wurde eingeschult, fing an, Leichtathletik zu trainieren und in meiner Freizeit auf dem Sportplatz vor unserem Haus Fußball zu spielen. Die Schule trug den Namen Artur Paczinsky und man legte großen Wert auf unsere politische Erziehung. Die Witwe des Stasi-Oberst mahnte uns zu Beginn jeden Schuljahres, stets wachsam gegenüber dem Feind zu sein. Ich war aufmerksam und hängte an den wichtigen Tagen die richtige Fahne aus dem Fenster: erster Mai – Arbeiterfahne, achter Mai – Arbeiterfahne, siebter Oktober – Staatsflagge, siebter November – Arbeiterfahne.
Das Größte war, wenn einer der BFCer, die in unserem Viertel wohnten, am Abend oder am Wochenende auf den Sportplatz kam und uns Tipps gab. Werner Lihsa trainierte öfter mit seinem jüngeren Sohn auf einem der kleinen Tore. Er war nach seiner aktiven Laufbahn bei Dynamo geblieben, seine beiden Söhne waren – genau wie er früher – Torhüter; der ältere in der zweiten Liga bei Dynamo Eisleben und der jüngere bei Dynamo Lichtenberg in der Jugend. Viel mehr verehrten wir aber Falko Götz, weil er noch sehr jung war und schon beim BFC spielte. Da er in einem der vierstöckigen Blocks am Sportplatz wohnte, vereinnahmten wir ihn für uns und beobachteten genau seinen Werdegang. Irgendwann blieb er nach einem Fußballspiel im Westen und ich wachte nachts aus einem Albtraum auf und flüchtete nicht in das Bett meiner Mutter, weil wir uns am Abend zuvor gestritten hatten.
Meine Mutter war oft wütend, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. Sie schrie mich dann ohne Grund an oder fand schnell einen, was nicht besonders schwer war. Wenn sie montags zu ihrer Parteiversammlung musste, schaute ich, trotz ihres strengen Verbots, Colt Seavers. Die Geschichten um den amerikanischen Stuntman, seinen liebenswert trotteligen Kollegen Howie und seine scharfe blonde Assistentin Jody waren Pflichtprogramm. Hatte man Colt nicht gesehen, war man am Dienstag auf dem Schulhof abgemeldet. Die Ängste meiner Mutter schienen mir außerdem unbegründet. Ich wusste, dass ich nicht fliegen konnte, und sprang nicht aus einem der Fenster unserer Wohnung. Wir übten unsere Stunts bei einem Garagentrakt am Rande des Wohngebiets, bis sich Daniel bei einem Sprung von einem zwei Meter hohen Dach den Fuß brach. Als meine Mutter davon erfuhr, bekam ich viele laute Worte an den Kopf geworfen und ein paar Wochen Fernsehverbot. Stubenarrest gab sie mir nie. Manchmal wurde sie wegen der vielen roten Einträge in meinem Hausaufgabenheft aber auch ganz leise und verzweifelt. Kristian stört den Unterricht. Kristian hat seine Hausaufgaben nicht gemacht. Kristian hat einen Mitschüler geschlagen. Kristian kommt zu spät zum Unterricht. Kristian macht einen abfälligen Witz über die Parteiführung der SED. Kristian zerstört Schuleigentum. Kristian lenkt seine Mitschüler vom Unterricht ab. Kristian hat sein Essensgeld nicht bezahlt. Kristian ist für den Besuch einer sozialistischen Schule nicht angemessen gekleidet.
Dieses Ost-West-Ding zu begreifen, war anfangs schwer. Die Hintergrundkarten in den Nachrichten zeigten die Grenze zwischen uns und den anderen Deutschen weit weg von Berlin. Trotzdem sah ich die Mauer als Kind hinter unserem Kleingarten in Johannisthal und fragte mich, warum sie so nahe war. Ich stellte mir die beiden Deutschlands wie spiralförmig ineinandergedrehte Flächen eines Lutschers vor. Nur so konnte die Grenze überall sein. Irgendwann verstand ich die Berlin-Situation und gewöhnte mir an zuzuhören, wenn es um den Westen ging, und nicht zu fragen. Warum jemand drüben blieb, davon hatte ich mit acht nur eine vage Ahnung. Es musste etwas mit West-Geld zu tun haben.
Sie tauschten dann das blaue Tuch um meinen Hals gegen ein rotes und bauten auf dem alten Friedhof an der Hans-Loch-Straße eine Handvoll neuer Häuser, in die Familien aus der Provinz einzogen. Nadine hatte rotblondes Haar, Sommersprossen und einen fransigen Pony. Sie kam aus Karl-Marx-Stadt und ich war zum ersten Mal in meinem Leben verliebt. Weil Nadine im Pioniergruppenrat war, wollte ich da auch hin. Weil Nadine eine herausragende Schülerpersönlichkeit war, wurde ich auch eine. Die Jungs vom Sportplatz hassten mich dafür. Zwei Jahre vor der Wende heiratete meine Mutter meinen Stiefvater. Am Tag vor Weihnachten fuhr ich am Morgen mit der U-Bahn und der Tram zum Sportforum nach Hohenschönhausen. Ich bestand einen Leistungstest und reiste danach mit dem Bus Nummer acht vom Bahnhof Lichtenberg nach Biesdorf in die neue Wohnung. Alle meine Sachen standen in Kisten in einem Zimmer mit Dachschrägen, aus dessen Fenster ich am nächsten Morgen Birken und eine Weide sehen konnte. Als Erstes hängte ich den BFC-Wimpel mit den Unterschriften von Andreas Thom und Bodo Rudwaleit an die Wand über dem Bett. Mit meinem Stiefvater verstand ich mich leidlich. Er war ein großer, schlanker Mann mit dunklem, vollem Haar und einem Oberlippenbart, der keine Ahnung von Kindern und zudem einen nervösen Magen hatte.
Der erste Winter in Biesdorf war einsam, der Sommer danach der absolute Hit. Ich fuhr jeden Tag mit dem Rad durch die Gegend, badete in Baggerseen, erkundete den Wald, sprang auf Waggons im Rangierbahnhof auf, schipperte auf selbst gebauten Flößen oder gestohlenen Booten die Wuhle runter und verteidigte Biesdorf zusammen mit meinen neuen Freunden gegen die Jugend aus Mahlsdorf und Kaulsdorf. Fußball spielten wir so gut wie nie. Die drei Dörfer lagen zwischen Köpenick im Süden und Marzahn und Hellersdorf im Norden. Sie waren grün und ländlich und fast ausschließlich mit kleinen Einfamilienhäusern bebaut. Die Stadt war weit weg; das Leben verlief hier langsamer und wurde im Laufe der Jahreszeiten durch die Arbeit in den Gärten bestimmt. Im Frühjahr brachte man die nicht winterfesten Gewächse aus den Garagen, Kellern und Dachböden zurück nach draußen. Man grub um, peppte den dünnen märkischen Sand mit Kompost und Mist auf, man säte, pflanzte und bastelte an den Häusern, Terrassen und Grillplätzen herum. Im Sommer pflegte und wässerte man und erntete das Obst und Gemüse. Im Herbst harkte man das Laub der Bäume von den Rasen, kümmerte sich um den Kompost, pflanzte die Gehölze, häufelte die Rosen an und brachte vor dem ersten Frost die Oleander und Schwertlilien zurück ins Warme. Im Winter hielt man die Wege vor und auf dem Grundstück schneefrei und erledigte die Arbeiten in den Häusern, die das Jahr über liegen geblieben waren.
Ich hatte keine Lust mehr, ständig zum Leichtathletiktraining zu fahren. Den Aufnahmetest für die Kinder- und Jugendsportschule schwänzte ich einfach. Meine Mutter musste sich dafür vor ihrem Parteisekretär rechtfertigen. Als man im darauffolgenden Sommer zum ersten Mal westdeutsches Privatfernsehen in Ostberlin empfangen konnte, waren die Strände der Baggerseen leer, weil die Kids den ganzen Nachmittag lang Serien guckten. Ich wusste nicht, dass Biesdorf zu Marzahn gehörte, bis ich im Jahr der Wiedervereinigung aufs Gymnasium wechseln wollte. Wäre unser Haus nur hundert Meter weiter östlich hinter der Wuhle gewesen, hätte ich in Mahlsdorf zur Schule gehen können. So musste ich für zwei lange Jahre das Albert-Einstein-Gymnasium in Marzahn besuchen. Diese Schule hasste ich von allen am meisten. Manchmal fuhr ich zusammen mit einem Mitschüler nachts mit dem Rad hin. Mit für den Straßenkampf konzipierten Katapulten schossen wir dann auf den weiß und rotbraun gekachelten Neubaublock. Die blanken Stahlkugeln machten fast kein Geräusch, wenn sie durch die Fenster schlugen. Nach der zehnten Klasse wechselte ich an eine mir völlig unbekannte Schule im Friedrichshain. Sie lag zwischen dem Volkspark und dem von russischen Zuckerbäckerbauten umgebenen Strausberger Platz und trug den Namen Erich Fried. Da hatte ich dann aber schon so viele Freunde in Marzahn, dass ich nach dem Unterricht regelmäßig hinfuhr, um mit ihnen im Jugendklub am Springpfuhl abzuhängen. Die Vorstadtkids hatten einfach mehr Drive als meine Mitschüler im Friedrichshain. Sie intellektualisierten nicht alles und hielten zusammen.