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Den Samstag nach der Nacht mit Milan und Katja verbrachte ich in einem tiefen Loch allein in meiner Wohnung. Ich kochte mir etwas zu essen, trank Tee, las in meiner zerfallenen Ausgabe von Leonhard Franks Räuberbande und spielte die alten Bob-Dylan-Scheiben, die ich mit meiner Mutter immer gehört hatte. Jan fehlte mir.

Als ich am frühen Sonntagvormittag aufwachte, war ich noch immer erschöpft und verstört. Ich quälte mich vom Hochbett runter und stöhnte dabei vor Gliederschmerzen. Bei den ersten Schritten über den roten Teppich taten mir die Füße und Beine noch richtig weh. Vor dem Schreibtisch blieb ich stehen und sah aus dem Fenster. Das Wetter war gut und der Sportplatz voller Freizeitkicker in uneinheitlichen bunten Trikots. Ich ließ die Musik aus, ging ins Bad und duschte, bis das warme Wasser alle war. Danach zog ich mir saubere Sachen an und aß in der Küche im Stehen ein paar Bissen altes Brot mit Butter und Marmelade. Auf meinem armeegrünen Iriedaily-Shirt stand »What goes up must come down«, was irgendwie zu diesem Tag passte. Während ich kaute, dachte ich darüber nach, was ich mit ihm anfangen könnte. Das Brot quietschte zwischen den Zähnen. Ich würde auf keinen Fall zu meiner Mutter raus fahren und sie in mir rumbohren lassen. Dafür war ich echt nicht in Form.

Noch unentschlossen stopfte ich meine hölzerne Purpfeife, einen kleinen Stein Dope, ein Feuerzeug und etwas Geld in die rechte Hosentasche, legte mir meine alte rote Osttrainingsjacke über die Schulter, zog meine Airwalks an und ging los. Als ich in die Neue Bahnhofstraße einbog, beschloss ich, kurz auf Jans Dach zu chillen. Ich holte den saubersten der Teppiche unter der Plastikplane hervor und zog meine Schuhe und Socken aus. Die Sonne und die unbegrenzte Aussicht entspannten mich und ließen meine Laune wieder auf ein annehmbares Niveau steigen. Weil Jans erstes Didgeridoo unter der Plane hervorlugte, zog ich es irgendwann raus und trötete darauf rum. Es war kein echtes Didge aus Australien, auch kein selbst gebautes aus Bambus, sondern einfach ein dickes Abflussrohr aus blauem Plastik mit einem Mundstück aus Bienenwachs. Jan hatte es sich nach seinem ersten Jamiroquai-Konzert gebastelt. Ich hatte schon öfter darauf geübt und mein Spiel klang mittlerweile auch ganz gut. Nur diesen langen meditativen Dauerton kriegte ich noch nicht hin. Wenn ich keine Luft mehr in den Lungen hatte, musste ich den blubbernden Sound immer kurz absterben lassen, um Luft zu holen. Jan hatte mir mehrfach den Ablauf der Zirkularatmung erklärt, bei der man während des Luftholens durch die Nase die im Mund angestaute Luft mit der Kraft der Wangen herauspresste. So erhielt man die schwingende Säule im Rohr am Leben. Er meinte, es wäre wie Fahrradfahren, hätte man es einmal gemacht, könnte man es nicht wieder verlernen.

Ich nutzte den sonnigen Tag, an dem ich eh nichts Besseres vorhatte, und übte bestimmt zwei Stunden lang. Mit der Zeit bekam ich ein ganz gutes Gefühl für den Ton und fiel durch die permanenten Schwingungen, die sich von meinem linken Mundwinkel auf mein Gesicht und dann auf den ganzen Kopf übertrugen, in eine Art Trancezustand. Wahrscheinlich war es von Vorteil, dass ich völlig aufgeweicht, ehrgeizlos und allein war. In dieser ungestörten Konzentration auf meine Atmung und den brummenden und schnatternden Klang im Rohr bemerkte ich irgendwann, dass die immer kürzer werdenden Pausen schließlich ganz verschwunden waren. Ich spielte weiter, bis ich mich dabei völlig sicher fühlte, und lag dann überglücklich grinsend auf dem Dach rum. Nach dem ersten Mal fühlt man sich immer gut. Ich kannte dieses Hoch von meinem ersten Dunking beim Basketball, von meinem ersten mehrfarbigen Graffiti, das nicht sofort am nächsten Tag hämisch mit »Toy« gecrosst worden war, vom ersten Sex, von meiner ersten Tramptour zur Ostsee. Man fühlt sich in diesen Momenten, als würde man in ein größeres und besseres Ich hineinwachsen, und spürt das Leben durch seine Adern strömen.

Mit dieser neuen Energie in mir verließ ich das Dach und lief durch den Friedrichshain zum Boxhagener Platz. Die Menschen auf der Straße hatten gute Laune und lächelten sich gegenseitig an. Auf den breiten Gehwegen, die den kleinen Park umschlossen, war wie jeden Sonntag Kiezflohmarkt. Ich ging von Stand zu Stand, schaute und machte mir die Finger an den staubigen Platten schmutzig. Es war schon zu spät, um die wirklich guten Sachen zu finden. Bei einem Typen, der aus Verzweiflung seine ganze Sammlung anbot, kaufte ich für etwas zu viel Geld das Inspiration Information-Album von Shuggie Otis und die erste von Curtis Mayfield. Danach hing ich eine Weile am Stand von meinem Kumpel Stefan rum, der am Boxi seine Kunst verkaufte. Wir tranken Filterkaffee aus dem Spätkauf in der Krossener und sahen den Leuten dabei zu, wie sie sich den Stand mit den Bildern anguckten. Die meisten von ihnen hatten irgendetwas in der Hand, das sie wahrscheinlich schon am Montag völlig nutzlos und hässlich finden würden. Ich rauchte ein kleines Pfeifchen mit Stefan und machte mich dann auf den Weg nach Treptow. Unterwegs holte ich Peter in der Libauer ab, der vor seinen MKs saß und Techno-Platten mixte. Wir liefen die Warschauer Brücke runter und über die Oberbaumbrücke nach Kreuzberg. Die Sonne schien uns ins Gesicht. Auf der Spree fuhren Ausflugsdampfer mit vollen Oberdecks.

Das Yaam befand sich kurz hinter der ehemaligen Grenze auf einer betonierten Freifläche am Ufer. Es war einmal der Hof der dahinter gelegenen Omnibushalle gewesen. Jetzt stand hier ein Soundsystem, das jamaika­nische Musik spielte. Um die Boxentürme herum gab es ein paar Stände mit kreolischem und afrikanischem Essen, zwei desolate Basketballkörbe, viele improvisierte Sitzmöbel und eine große Bar. Hier war es noch voller als auf dem Boxi.

Die Gang lagerte auf einer der alten blauen Hochsprungmatten in der hinteren rechten Ecke des Geländes in der Sonne und erholte sich vom Wochenende. Ich freute mich, meine Leute zu sehen, und legte mich dazu. Die Gang war eine Feierclique, die sich im Friedrichshain gefunden hatte. Sie bestand aus lauter kleineren Gruppen von Leuten, die sich aus der Vorstadt kannten, und ein paar Zugezogenen. Es gab die Biesdorfer, die Buckower, die Pankower, die Leute aus Schöneweide, die Mädchen aus Karolinenhof, die Jungs aus Eichwalde, Michaela aus Leipzig, Peter aus Angermünde und Georg aus Oldenburg. Wir hatten fast alle kurze Haare, trugen Klamotten zwischen Hip-Hop, Techno und Punk und die Mädchen waren im Gesicht gepierct. Wir waren alle mit der Schule fertig, bei unseren Eltern ausgezogen, hingen in der Luft, nahmen das Leben easy und feierten gern. Mit der Gang gab es keine leeren Tage. Man traf sich zum Essen, fuhr zusammen weg, besuchte sich gegenseitig, ging zusammen aus, nahm zusammen Drogen und erzählte sich von seinen Plänen. Wir hatten uns räumlich von unseren Familien getrennt und aus Verunsicherung erst mal eine neue Familie gegründet.

Ich hörte mir die Geschichten ausm E-Werk an, erzählte von meinem komischen Trip, vermied den Blickkontakt mit meiner Exfreundin, schaute dafür in die flache Sonne, baute ab und zu ein Pfeifchen, ließ die Basswellen der dubbigen Musik durch meinen Körper wandern und redete eine Weile mit Michaela, die sich von ihrem Typen getrennt hatte und unglücklich war. Aus der Masse der Menschen kamen immer wieder neue Bekannte und Feierfreunde zu unserem Lager. Wir borgten uns gegenseitig Münzgeld und kauften davon Essen und Getränke. Nachdem die Sonne untergegangen war, wurde es kühl. Ich zog meine Trainingsjacke an und ließ zu, dass sich Michaela an mich schmiegte.

Als die Gruppe sich gegen neun trennte, blieb ich bei ihr und wir liefen gemeinsam zurück in den Friedrichshain. Michaela redete. Sie war aus der Einraumwohnung ihres Freundes ausgezogen und wohnte zum Übergang in einer WG im Nordkiez. Genau wie ich wollte sie nicht allein sein. Bei ihr kochten wir Tee und gingen in die Badewanne, um uns aufzuwärmen. Bei Kerzenlicht berührten wir uns vorsichtig mit nassen Händen. Ich suchte ihren schüchternen Blick und küsste sie, während im Radio der Carpenters-Song »We’ve only just begun« lief.

Nach dem Baden hatten wir in einem uneingerichteten Zimmer Sex, der eigentlich mehr ein Kuscheln war. Michaela blieb sehr ruhig. Ihre Haut war weich und roch gut und ihr Körper war noch immer fest vom Leistungssport. Während wir miteinander schliefen, dachte ich an Katja. Sie war verschlossen und dunkel und trug das Versprechen auf Wiederbelebung der toten Regionen meiner Seele in sich. Würde ich sie wiedersehen und würde sie sich meiner annehmen? Ich kam in Michaela und streichelte sie danach. Sie wirkte jetzt noch trauriger. Wir redeten eine Weile im Bett und schliefen noch ein zweites Mal miteinander, bevor ich mit meinen Platten unterm Arm nach Hause ging. Wenn man einsam ist, findet man immer nur die anderen einsamen Seelen, aber niemanden, der einen bewohnt.

Ostkreuz

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