Читать книгу Ostkreuz - Christian Mackrodt - Страница 7
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ОглавлениеDraußen zu sein, gab uns ein neues Gefühl der Zusammengehörigkeit. Sogar Milan erwachte aus seiner Starre. Wir waren weit davon entfernt, irgendetwas von den Pilzen zu merken, doch wir wussten alle drei aus Erfahrung, dass sie kommen würden, zuerst sanft und subtil, dann hoffentlich stark, ohne zu stark zu sein. An der Kreuzung Neue Bahnhof- und Boxhagener Straße beobachteten wir das alte Schauspiel der Naturgewalten. Wie an jedem Feierabend strömten Tausende Mitarbeiter der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte unter der Brücke Richtung Rummelsburg hervor und auf die Kreuzung zu. Hier wälzten sie sich über zwei Fußgängerampeln, um zum S-Bahnhof Ostkreuz zu gelangen. Die gesamte Straßenführung war auf mehr als hundert Metern mit Gittern gesichert, um diese hirnlose, triebgesteuerte Herde von Datenverarbeitern daran zu hindern, sich diagonal über die Kreuzung zu schieben und den Verkehr morgens und abends für eine Stunde lahmzulegen. Wir nannten sie Lemminge. Keiner von uns hatte je mit einem von ihnen gesprochen. Sie wirkten fremd und unmenschlich. Es waren Frauen mit komischen Frisuren, Hackenschuhen und zu großen Handtaschen und Typen in schlecht sitzenden Anzügen mit Aktenkoffern. Sie erinnerten mich immer an meine als Schüler absolvierten Pflichtbesuche im Berufsinformationszentrum in der Ruschestraße in Lichtenberg. Die Sachbearbeiterin dort hatte mir dringend zu einer Laufbahn als verbeamteter Verwaltungsangestellter geraten. Wenn mir das zu langweilig wäre, könnte ich ja auch Speditionskaufmann werden. Die Risiken auf dem freien Arbeitsmarkt wären aber unkalkulierbar, warnte sie mich in Räumen, die fünf Jahre zuvor noch von der Staatssicherheit genutzt worden waren.
Jetzt liefen wir mit den Lemmingen zusammen die Neue Bahnhofstraße hoch. Die Skinheads vorm Bierexpress pöbelten mich gewohnheitsmäßig an. Sie waren der Meinung, ich solle mir andere Schuhe besorgen und aufhören, mit Hippies rumzuhängen. Mit meinen gerade geschnittenen Jeans, dem schwarzen Rugby-Shirt und meinen circa zwei Zentimeter langen Haaren sah ich wirklich skinheadmäßig aus. Nur meine maronenbraunen Airwalks störten das Bild. Im Vergleich zu der kalten Ignoranz der Lemminge, die einfach durch uns hindurchsahen, wirkte das Gepöbel fast zärtlich.
Wir überquerten das Ostkreuz und bogen rechts in den Markgrafendamm ein. Der Bahnhof, an dem sich die beiden Hauptstrecken der Ostberliner S-Bahn kreuzten und sich die östlich laufenden Strecken gabelten, war voller Menschen. Milan fing kurz an, sich über die Bahnbullen aufzuregen, die auf dem Weg in ihre Zentrale dieselbe Strecke wie wir gingen. Er sang mit seltsam nasaler Stimme und angepasstem Text den alten Slime-Song:
Bullenschweine, Bullenschweine
In der ganzen Welt
Söldner aller Staaten
Schläger für wenig Geld
Verteidigt eure Scheiß-Bahn
Wisst selber nicht warum
Die Scheiß-Bahnbonzen freuen sich
Verkaufen euch für dumm
Ich schaute Katjas Beine und ihren Po an, fing die Stimmung auf und horchte nach innen. Das Marok-High war eigentlich immer gut, um Pilzen die Tür zu öffnen. Im Bauch spürte ich langsam dieses typische flaue Gefühl und meine Arme kribbelten leicht. Die Sinneswahrnehmung wurde zunehmend stärker. Das konnte aber auch daran liegen, dass ich wie immer hypochondrisch in meiner Wahrnehmungswelt und meinem Körpergefühl rumsuchte, um endlich die beginnende Drogenwirkung zu spüren. An der großen Kreuzung vor der Elsenbrücke bogen wir links nach Stralau ab und folgten der langen Straße, vorbei an dem uns grüßenden schiefen Kirchturm, bis zum Ende der Halbinsel. Ich war froh, dass es hier kaum Menschen und Autos gab. Wir standen eine Weile an der betonierten Uferkante und schauten zu den Spreeinseln rüber. Bei den Wasservögeln war Balzzeit. Die Erpel machten sich gegenseitig die Enten streitig und die Schwäne vollführten mit rauschenden Flügeln beeindruckende Flugmanöver. Am linken Spreeufer hinter den Inseln lag das Kraftwerk Klingenberg. Aus seinen beiden hohen Schornsteinen stieg weißer Rauch auf. Der Himmel hatte sich zugezogen und es sah nach Regen aus.
Wir eroberten den Spielplatz nahe dem Ufer, drehten uns auf dem kleinen Karussell, chillten auf dem Klettergerüst, schaukelten und spielten »Wie-lange-willst-du-oben-bleiben?« auf der Wippe. Ich fühlte mich wie in einem wunderschönen traurigen Traum von Kindheit und Erwachsenwerden. Die Pilze machten unsere Bewegungen langsam und unsere Gefühle weich und groß.
Irgendwann saßen wir zu dritt auf dem jetzt still stehenden Karussell und kicherten. Es war dunkel geworden und wir wurden ruhiger, wie Kinder nach dem Toben. Milan sah besorgt aus.
»Krischan, weißt du, wie spät es ist?«
»Nee, warum? Is doch nich wichtig.«
»Doch, is wichtig. Ich muss um acht zu Hause sein und meinen Betreuer treffen.«
»Und was is, wenn du nich kommst? Is bestimmt bald acht.«
»Nee, das geht nicht. Dann krieg ich Stress. Komm doch einfach mit, ich muss ihn nur kurz treffen, danach können wir machen, was wir wollen.«
Wir liefen quer durch den ganzen Friedrichshain, durch die Corinthstraße, über die Modersohnbrücke mit ihrem tollen Ausblick Richtung Alex, durch die Simplonstraße, am Conmux vorbei in die Simon-Dach-Straße, kreuzten die Grünberger und die Boxhagener, gingen die auf Drogen immer beeindruckende Frankfurter Allee hinunter bis zum Kino Kosmos und dann die Richard-Sorge-Straße rauf. Die Gehwege waren schon voller Leute im Freitagabendfieber. Die Augen von Katja und Milan glänzten. Mein Gang war ein tanzartiger Schlingerkurs, ich hatte eine Gänsehaut und spürte meine Wangen glühen. Im oberen Bauch strahlte eine Sonne. Das uns verbindende Gefühl war jetzt wie eine Mauer um uns, hinter der wir in einen Raum der Nähe, Wärme und Arglosigkeit schwammen. Neugierig fühlten wir die verzauberte Stadt, sahen die bunten Neonfische am Frankfurter Tor über die graue Steinwand schwimmen, lachten über komische Menschen, verloren uns in unseren Gedanken und Gefühlen, suchten wieder Blickkontakt zueinander, rempelten uns spielerisch an, tanzten auf einem Bein und sangen dazu den Degree-Song »Hav Balance are di new Dance«, bis wir umfielen. Milan war voll in Fahrt, er fantasierte und redete pausenlos vor sich hin. Ich hörte ihm zu und sah Katja an. Sie lachte jetzt wie ein normales glückliches Mädchen, ihre Stimme war offener und lauter geworden, ihr Kleid dreckig vom Spielplatz und ihre Haare zerzaust. Sie sah hinreißend aus.
Als wir bei Milan ankamen, waren wir natürlich zu spät. Er wohnte in einer großen, sanierten Wohnung weit oben im Vorderhaus. Sein Sozialarbeiter war froh, ihn zu sehen, und machte ihm keine Vorwürfe. Er trug das verständnisvolle, müde und zu geduldige Gesicht eines Menschen, der Helfen zu seinem Beruf gemacht hatte und auf den Feierabend wartete. Wir rissen uns, soweit es ging, zusammen und verschwanden in Milans Zimmer.
Ich war vor weniger als einem Jahr bei meiner Mutter und meinem Stiefvater ausgezogen und fühlte mich durch die Situation an zu Hause erinnert und beklemmt. Ich hatte stets versucht, nicht stoned mit den beiden zusammenzutreffen, weil ich das für alle Seiten erniedrigend fand. Wenn man sich schon nicht verstand, konnte man sich wenigstens nüchtern und mit abgeklärter Fairness begegnen. Da die Beziehungen hier aber eher professionell als familiär waren, galten wahrscheinlich andere Regeln.
Das Zimmer war schön und hatte einen Balkon. Ich setzte mich in einen Sessel, der offensichtlich schon länger zu der Wohnung gehörte als Milan.
»Können wir jetzt wieder gehn? Ich fühl mich echt komisch mit dem Typen da draußen. Der muss doch gemerkt haben, dass wir was genommen haben.«
»Meinste? Glaub ich nich. Der hat doch den ganzen Tag mit Leuten zu tun, die auf Psychopharmaka sind, da fallen wir gar nich weiter auf.«
»Können wir trotzdem woanders hingehen?«
»Nee, noch nich, wir müssen noch warten, bis er um zehn abhaut.«
»Das haste vorhin aber nich gesagt.«
»Nee?«
»Nee.«
Der Wecker neben dem Bett stand auf Viertel vor neun. Ich versuchte, mich auf die vor mir liegende Wartezeit einzustellen. Die Wirkung der Pilze wurde nicht schwächer und es war ein unangenehmes Gefühl, sich nicht frei bewegen zu können. Katja wühlte in einem Haufen hüllenloser Tapes, die auf dem Schreibtisch am Fenster lagen, und spielte das neue Fugees-Album auf Milans Rekorder. Ich konnte nicht sitzen und lief im Zimmer hin und her. Den anderen ging es genauso. Helle Farben machten den Raum ungemütlich. Wir standen dann auf dem Balkon rum und rauchten ab und zu eine, ohne viel zu reden. Die Richard-Sorge-Straße war ruhig und die Nacht schön. Es regnete nicht. Die Musik gefiel mir sehr gut, sie war entspannt und hatte das Feeling und die Tiefe des Reggaes. Katja bewegte sich verführerisch dazu, langsam und mit viel Körperspannung. Ihre Füße hielt sie dabei still. Ready or not, here I come, you can’t hide, gonna find you and make you want me. Milan summte die Melodie beim Rauchen mit und schaute auf die gegenüberliegenden Häuser. In einer der Wohnungen saß eine Familie mit zwei Kindern vor dem Fernseher und aß. Katja blickte auf den Boden vor sich. Ich beobachtete sie beim Tanzen und fühlte mich ertappt, als sie mir mit einem Aufschlag direkt in die Augen sah.
Als die Zigaretten alle waren, ging Milan los, um neue zu holen. Bevor mir klar wurde, dass ich mit Katja allein war, nahm sie meine linke Hand in ihre rechte. Und so standen wir nebeneinander auf dem Balkon und schauten runter. Milan überquerte die Straße und verschwand in den Tilsiter Lichtspielen. Das war eigentlich eher eine Kneipe mit einem kleinen, angeschlossenen Kinosaal, in dem jeden Abend abgenudelte und zerkratzte Kopien von irgendwelchen Klassikern liefen. Ich fühlte Katjas Hand in meiner, traute mich aber nicht, ihr näher zu kommen oder sie anzusehen. Milan kam mit den Zigaretten in der Hand aus dem Kino und schaute zu uns hoch. Wir blieben unverändert stehen. Unsere Hände waren unterhalb der Brüstung und für ihn nicht sichtbar. Als wir ihn ins Zimmer kommen hörten, ließen wir uns zögerlich wieder los. Dabei drehten wir uns einander zu und sahen uns in die Augen. Milan streckte uns die Zigaretten entgegen und wir rauchten. Mit diesem Blick hatten wir uns einander versprochen.
Dann gerieten die Dinge aus dem Gleichgewicht. Ich konnte meine Augen nicht mehr von Katja lösen und sie hörte einfach nicht auf, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Kurz vor zehn bekam Milan eine kleine Ansprache von seinem Betreuer, der von ihm erwartete, dass er die Nacht zu Hause verbrachte. Als wir ihn aus der Wohnungstür gehen hörten, verließen wir endlich das Zimmer und setzten uns zu Milans Mitbewohnern in die Wohnküche. Die Stimmung hier war ein bisschen wie in einem Hostel, in dem Leute zusammenkommen, die beim Reisen schlechte Erfahrungen gemacht haben. Hier bestand die Mischung jedoch aus Drogen, sexuellem Missbrauch, psychischen Störungen, versuchtem Selbstmord und sozialer Verwahrlosung der Familie. Da Katja und Milan kaum Geld hatten, entschlossen wir uns, mit Katjas Klubmarke in den Toaster zu gehen. Das bedeutete, keinen Eintritt und Flaschengetränke umsonst. Von den anderen wollte keiner mit uns kommen, worüber ich ganz froh war. Aus Freundlichkeit blieben wir noch eine Weile bei ihnen und hörten uns ihre holprig erzählten Geschichten an. Sie sprachen, als hätten sie die Sätze vorher mit dem Therapeuten eingeübt. Ihr Selbstbewusstsein war im Arsch.
Katja saß mir an dem großen, weißen Esstisch gegenüber, Milan zwei Plätze von ihr entfernt. Er war wieder in seine Starre abgeglitten. Die Kids musterten mich mit versteckter Neugierde. Die Situation überforderte mich total. Irgendwann stand Katja auf, um ins Bad zu gehen. Sie lief umständlich um den Tisch herum und hinter mir entlang. Ich spürte ihre Nähe und wie sie die Schritte verlangsamte. Mit ihrer linken Hand streifte sie spielerisch meine Schulter und meinen Hals und machte dabei ein leise gurrendes Geräusch. Ihre Finger fühlten sich gut und warm auf meiner Haut an. Die Kids auf der anderen Seite des Tisches starrten in unsere Richtung. Ich musste mich zwingen, nicht die Augen zu schließen. Nachdem sie die Küche verlassen hatte, machte sich eine befangene Stimmung breit. Ich sah Milan an. Seine Augen waren voller Trauer und Angst, wanderten im Raum umher, mieden jedoch meinen Blick. Ich fühlte keinerlei Schuld, war aber auch ratlos, wie der Abend weitergehen sollte.
Auf dem Weg nach Mitte war unsere Stimmung gedämpft. Wir liefen die Straße runter zur Karl-Marx-Allee und nahmen die U-Bahn zum Alex. Im Waggon hörten wir uns die idiotischen Gespräche der lauten und angetrunkenen Prolls aus Lichtenberg und Hellersdorf an. Katja saß zwischen Milan und mir. In der Reflexion der gegenüberliegenden Scheibe konnten wir uns sehen. Die Unschärfe ließ den Augenkontakt nur erahnen. Ein paar kurzhaarige Typen mit Bierflaschen in den Händen beleidigten andere Fahrgäste. Wir sprachen nicht miteinander. Unsere verschrobene Euphorie und unser Zusammengehörigkeitsgefühl waren schwächer geworden. Vielleicht lag es an der neuen Dreieckskonstellation zwischen uns, vielleicht hatten wir auch einfach ein bisschen zu viel von den verstörenden Vibes aus Milans Wohngemeinschaft abbekommen.
Während der drei Stationen schaute ich die meiste Zeit an die Decke und zwang mich, nicht darüber nachzudenken, wie und wann ich mit Katja endlich allein sein würde. Ich las immer wieder den Text einer Werbung für medizinische Kosmetik und stellte mir den Sex mit ihr vor. Vom Alex aus liefen wir zu Fuß ins Scheunenviertel. Da es ziemlich früh war, setzen wir uns erst noch in den Monbijoupark und rauchten einen Joint. Durch das Haschisch und die Ruhe unter den Bäumen tauten wir wieder ein bisschen auf. Milan erzählte Geschichten aus seiner Schule und Katja und ich lachten leise darüber. Als wir kurz nach zwölf im Toaster ankamen, hatte der Laden gerade erst aufgemacht. Der gekachelte Keller war kalt und wirkte leer ungemütlich. Wir saßen rum und tranken Cola, bis es voller wurde. Die Musik war wahnsinnig laut. Sie klatschte gegen die glatten, weißen Wände und tat mir in den Ohren weh.
Ich schaute in die verschiedenfarbig blinkenden Lichter und verlor ein wenig das Gefühl für Raum und Zeit. Es lief Happy Hardcore, das waren zwar Breakbeats, aber kein Jungle. Die brachiale Gewalt der Musik wurde nicht vom Groove des Dancehalls aufgelockert. Milan und Katja unterhielten sich. Sie hatte ihre Hand auf seinen Kopf gelegt. Ich versuchte zu tanzen, fand aber nicht hinein und stand dann eine Weile am Rand der halbvollen Tanzfläche herum. Die Leute machten komische Verrenkungen zu den hochgepitchten Breaks. Milan und Katja sahen sich in die Augen. Er schien hilflos und sie besorgt.
Von ihnen unbemerkt, ging ich irgendwann nach draußen und setzte mich auf eine Laderampe. Ich zog meine Beine nah an mich ran und lehnte mich an ein Gitter. Die frische Luft tat mir gut. Von der Straße kamen ständig neue Leute auf den Hof und es wurde voll. Ich blickte durch all die Menschen hindurch und fühlte mich verliebt. Die Dinge um mich herum erschienen mir zu schnell.
Eine Exfreundin meines Freundes Alex tauchte aus der Menge auf und setzte sich neben mich. Sie teilte ihr Wasser mit mir und berührte mich mit ihrem rechten Arm und Oberschenkel. Dabei redete sie. Wenn sie mich etwas fragte, antwortete ich kurz angebunden, denn ich hatte meine Stimme nicht wirklich unter Kontrolle. Ich mochte Akiko und war froh, dass sie neben mir saß. Durch gelegentlichen Augenkontakt gab ich ihr zu verstehen, dass ich bei ihr war. Sie nahm meine Einsilbigkeit hin und machte keine Anstalten zu gehen. Ihre Stimme klang vertraut.
Mit 16 war ich mal kurz in sie verliebt gewesen und sie vielleicht auch in mich. Alex hatte sie zu einer dieser typischen Wohnungspartys unserer Clique mitgebracht. Wir waren damals bei Andreas in Weißensee. Ich rauchte mit den Jungs Joints und trank dann mit Akiko Tequila. Sie lachte mit mir und schlief irgendwann mit ihrem Kopf auf meinem Schoß ein. Morgens fuhren wir alle zusammen nach Marzahn und gingen auf eines der großen Hochhäuser am Springpfuhl. Der Himmel und der Blick auf die Stadt verschlugen uns erst mal die Sprache. Es war ein kristallklarer Morgen und die Blautöne waren nicht von dieser Welt. Akiko fuhr später mit der S-Bahn nach Hause und ich schlief bei Björn, dessen Eltern im Sommer immer in ihrem Garten wohnten. Als ich sie das nächste Mal sah, war sie dann schon mit Alex zusammen. Wir hatten uns aber auch danach immer sehr gut verstanden und irgendwie hatte es uns geschmeichelt, dass Alex deswegen manchmal ein bisschen eifersüchtig war.
Jetzt vermied sie es, von ihm zu reden. Stattdessen sprach sie von Konzerten, die sie besucht hatte, und von Bands, die sie mochte. Ich verstand nicht alles, was sie sagte, weil in dem kleinen Hof viele Gespräche durcheinander geführt und die Stimmen immer lauter wurden. Akiko war der einzige Mensch, den ich außer mir kannte, der sowohl Hip-Hop als auch Gitarrenlärm mochte. Man konnte mit ihr My Bloody Valentine und EPMD hören und sie flippte bei beiden vor Begeisterung aus.
Ich saß neben ihr, hörte ihr zu und spürte die angenehme Wärme ihres Körpers an meiner linken Seite. Dabei fiel mir auch wieder ein, dass ich sie als Kind im Fernsehen gesehen hatte – Jahre, bevor wir uns kennengelernt hatten. Es war im Westfernsehen gewesen, wo sie in einem ziemlich langen Bericht der Jugendsendung Moskito vorgestellt worden war, das japanische Mädchen aus Berlin-Treptow, das dreimal die Woche die für seine Mitschüler und Lehrer unüberwindbare Grenze passierte, um zur japanischen Schule in Westberlin zu gehen. Ich konnte mich noch genau an das Gefühl erinnern, wie ich sie in dem mit Holzfurnier bezogenen Kasten in unserer Schrankwand sah und ihr zuhörte. Sie war mir damals schon vertraut gewesen. Vielleicht hatten die Hippies ja recht und man behielt seine Freunde in den aufeinanderfolgenden Leben.
Der Gedanke gefiel mir und ich fühlte mich ganz gut, bis ich Katja und Milan die Treppe raufkommen sah. Sie standen im Hof rum und suchten mich, ohne sich zu bewegen, mit den Augen. Katja entdeckte mich zuerst und zeigte Milan die Richtung. Er blieb vor mir stehen. Niedergeschlagen und mit knotiger Stimme sagte er:
»Krischan, wir gehen jetzt nach Hause.«
Ich verstand sofort, dass mich dieses »wir« nicht einschloss, und brachte kein Wort heraus. Katja stand einige Schritte hinter Milan und sah mich an, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Ich wollte unbedingt bei ihr bleiben. Dafür nahm ich auch in Kauf, dass wir zu dritt rumhingen und ich ihr nicht näherkommen konnte. Milan wandte sich ab und lief durch die Hofeinfahrt rechts von mir auf die Straße. Katja sah mir noch immer verwunschen in die Augen und bewegte sich nicht. Wie auf dem Boden eines Sees konnte ich ihre Seele funkeln sehen. Das war sehr schön. Sie senkte schließlich ihren Blick und folgte Milan. Ich verstand nicht, warum sie gegangen waren. Wie konnten sie mich denn einfach aus unserer kleinen Reisegruppe schmeißen und in der Fremde allein zurücklassen? Das war gegen jede Tripregel. Ich war wie betäubt. Nach einer Weile fragte Akiko:
»Was war’n das gerade?«
»Mh, weiß nich.«
»Du bist doch in die Frau verschossen, oder?«
»Mh, ja, irgendwie.«
Sie rückte spürbar von mir ab.
»Und seit wann geht das?«
»Seit heute.«
»Seit heute?«
»Ja, ich hab sie heute erst kennengelernt.«
»Echt? Das sah aber anders aus.«
»Ja, nee, ich hab sie heute Nachmittag zum ersten Mal gesehen.«
»Die beiden sind doch ein Paar, oder?«
»Ja, ich glaub schon.«
»Das ist doch dein Freund Milan, oder?«
»Ja.«
»Mh.«
Kurz danach haute auch sie ab. Die Sache mit Katja hatte die schöne Stimmung zwischen uns kaputt gemacht. Jetzt fühlte ich mich richtig allein unter den in Grüppchen herumstehenden Partygängern und wusste nicht, was ich tun sollte. In meinem Zustand wollte ich auf keinen Fall ins E-Werk gehen, wo einige meiner Freunde höchstwahrscheinlich feierten. Die ganzen Raver da auf ihren Chemiedrogen waren mir im Moment einfach zu hart.
Ich verließ die Laderampe und ging wie ferngesteuert zurück in den Club. Unten lief immer noch dieselbe Musik und die Tanzfläche war voll. Vergeblich sah ich mich nach jemandem um, den ich kannte, und ging wieder raus. Da ich auch nicht mehr auf dem Hof bleiben wollte, lief ich die Rosenthaler hoch Richtung Torstraße und verlor mich dabei wieder in meinen Gedanken und Gefühlen. Aus dem Eimer dröhnte fiese Industrial-Musik. Vorm Burger King standen Teenager. Der Abend lag wie ein Ziegelstein in meinem Bauch und in meinem Mund hatte ich einen schlechten Geschmack.
Ich nahm die Torstraße Richtung Rosa-Luxemburg-Platz. Die Vorstellung, in meine Wohnung zurückzukehren, machte mich krank. Am liebsten hätte ich eine Gruppe Vorstadtkids um mich gehabt und einfach auf den Sonnenaufgang gewartet. Ich wollte mich irgendwo hinlegen und die Augen zumachen, ohne dabei allein zu sein. Auf einer Bank in der Nähe der Volksbühne ruhte ich mich kurz aus. In den Büschen rechts vom Theater sang eine Nachtigall. Von Katja getrennt zu sein, tat mir weh. Allein zu sein, tat mir weh. Meine Augen fingen an zu jucken und ich spürte diesen typischen erhöhten Druck in ihnen, der mit den ersten Tränen wieder vergeht. Obwohl ich kein Ziel hatte, stand ich auf und lief weiter. Ich trieb langsam durch Mitte und schlurfte dabei mit den Füßen über das unregelmäßige Pflaster. Wochenendausgeher eilten an mir vorbei, um sich etwas von der Nacht zu nehmen. Ich wurde immer langsamer. Die erleuchteten Firmenschilder auf den zahlreichen Baukränen bildeten ein Meer von künstlichen Monden, die mir die Orientierung raubten. Ich dachte an meine Mutter, meine Kindheit, meinen Vater, die Schule, meine erste Freundin. Die alten Gefühle des Verlassenwerdens, der Einsamkeit und der Isolation schnürten mir den Hals zu. Die Pilze schwirrten und summten durch meinen Körper, machten meinen Geist elektrisch, meine Augen unscharf und meine Seele nackt. Ich dachte auch an De Niro, den ich mir einige Male im Tilsiter angesehen hatte, wie er auf Drogen Nacht um Nacht mit seinem Taxi durch die Stadt fährt und die Welt um sich herum nicht mehr versteht. Mein ganzes Leben war ich einsam. Überall. In Kneipen, im Auto, auf der Straße, in Geschäften, überall. Es gibt kein Entrinnen vor der Einsamkeit. Ich bin Gottes einsamster Mann.
Irgendwann wurden meine Beine und Füße müde und ich gab das Laufen auf. Im Nachtbus presste ich die Stirn an das kühle Glas und schaute ohne Unterbrechung aus dem Fenster. Wir umkurvten den Strausberger Platz und rauschten die Karl-Marx-Allee hinunter. Die Fische am Frankfurter Tor leuchteten nicht mehr. Zu Hause setzte ich mich an meinen Küchentisch und fror. Der Sportplatz war dunkel und verwaist. Ich ließ das Licht im Zimmer an und legte mich auf das untere Bett. Nach einiger Zeit entspannte ich mich und ein warmes Gefühl legte sich auf meine Seele. Ich schlief ein.