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ОглавлениеAls Kind hatte ich immer wiederkehrende Albträume. In dem ersten, an den ich mich erinnern kann, steht mein Bett auf dem dunklen, holzverkleideten Flur eines alten ländlichen oder vorstädtischen Tanzlokals. Ich liege unter meiner Decke auf der Seite und beobachte die Schwingtüren, die in den Saal hineinführen. Musik ist zu hören und durch die Milchglasscheiben sieht man farbige Lichter im Takt aufleuchten. Über das Kopfende meines Bettchens hinweg erblicke ich ein Stück den Flur hinunter eine nicht besetzte, aber mit schweren Wintersachen vollgestopfte Garderobe. Sie ist spärlich beleuchtet und die einzige Lichtquelle auf dem Flur. Auf dem Boden liegt gelbes, abgelaufenes Linoleum. Ab und zu kommt ein Erwachsener allein oder in Begleitung aus dem Saal. Wenn die Schwingtüren sich öffnen, kann ich kurz hineinblicken. Die Musik ist dann lauter und Fetzen der lebhaften Gespräche dringen an mein Ohr. Manche Erwachsene schauen verwundert auf mein Bettchen und sprechen mich mit ruhiger Stimme an, ohne eine Antwort von mir zu erwarten. Sie fragen, was ich denn hier mache oder wo meine Eltern sind. Die meiste Zeit bin ich jedoch allein auf dem Flur. Dabei warte ich auf meine Eltern. Ich weiß, dass sie mich abholen wollen.
Je länger ich auf sie warte, desto angespannter und verzweifelter werde ich. Manchmal, wenn sich die Türen kurz öffnen, kann ich die helle und laute Stimme meiner Mutter hören. An ihrem Tonfall erkenne ich, dass sie fröhlich ist und sich amüsiert. Gleichzeitig versuche ich, die große, lockige Gestalt meines Vaters zu erspähen. Was mir Angst macht, ist das tiefe, dunkle Ende des Flurs, in das ich über meine Füße hinweg sehen kann. Ich spüre deutlich, dass sich aus dieser Dunkelheit etwas auf mich zubewegt. Es ist noch nicht sichtbar, aber ich nehme schon die Geschwindigkeit wahr, mit der es mir näher kommt. Es ist sehr langsam. Die Gestalt lässt sich bald gegen das Dunkel des Flurs ausmachen. Sie ist in eine mattschwarze, leicht staubige Kutte gehüllt und trägt eine weit ins Gesicht gezogene Kapuze. Ich kann keine menschlichen Züge an ihr erkennen, weder ein Gesicht noch Hände oder Füße. Sie hat aber die Proportionen eines normal großen, hageren Mannes und macht beim Gehen leise Geräusche mit ihrem Gewand. Wenn Erwachsene aus dem Saal kommen, bleibt sie regungslos stehen und entzieht sich den nicht an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Dann bewegt sie sich wieder sehr langsam und unabwendbar auf mich zu.
An einem Punkt des Traumes zeichnen sich die Silhouetten meiner Eltern in den Milchglasscheiben ab. Sie sind auf dem Weg zu mir stehen geblieben und fangen an zu argumentieren. Ich vernehme die gutmütige, tiefe Stimme meines Vaters und blicke zu der Gestalt, die jetzt vielleicht noch zehn Schritte von mir entfernt ist und sich weiter auf mich zubewegt. Meine Eltern entscheiden sich dafür, doch noch zu bleiben. Ohne die Türen zu öffnen und nach mir zu sehen, gehen sie zurück in das Gedränge des Saales.
Ich fühle mich verloren, schließe die Augen und ziehe die Decke über meinen Kopf. Ich spüre deutlich, wie die Gestalt näher kommt. Je geringer der Abstand wird, desto mehr Angst und Energie fließen durch meinen kleinen Körper. Mein Herz schlägt heftig unter meinem Brustbein und ich kreuze die Arme davor. Dann verebbt das sanfte Geräusch seiner Kutte direkt vor mir und ich weiß, dass er sich über mich beugt. Ich warte angespannt und vergebens auf seine Berührung. Seine Nähe aber ist wie strahlendes Licht. Ich treibe an die Oberfläche.
Die körperlichen Symptome der Angst hatte ich, wenn ich aufgewacht war, jedes Mal tatsächlich, schweißüberströmt und mit Herzrasen lag ich im Bett. Dazu kam die Angst selbst. Sie war so stark, dass ich mich minutenlang nicht traute, die Augen aufzumachen, weil ich seine Anwesenheit immer noch zu spüren glaubte. Es kostete mich unvorstellbare Überwindung, die Augen zu öffnen. Jedes Mal erwartete ich, in sein Gesicht zu sehen, und war dann fast mehr überrascht als erleichtert, nicht mit ihm zusammen auf diesem Flur zu sein, sondern allein in meinem Zimmer in Berlin-Lichtenberg.