Читать книгу Ostkreuz - Christian Mackrodt - Страница 5

2.

Оглавление

An einem Freitagnachmittag, ungefähr fünf Wochen später, lief ich in meiner Wohnung umher und wartete auf Milan. Wir hatten uns im alten Vorstadt-Stil lose verabredet, er war zu spät. Ich räumte irgendwas aus der Küche ins Zimmer und ging in die Küche zurück. Die Wohnung bot nicht viel Platz, um sich zu bewegen, aber sitzen wollte ich auch nicht. Am gardinenlosen Küchenfenster blieb ich vor dem kleinen Tisch stehen und sah, wie schon oft zuvor, den Fußballspielern zu. Über den Hinterhof konnte man die linke Hälfte des Sportplatzes auf der anderen Seite der Weserstraße sehen, weil der große Krieg den gegenüberliegenden Seitenflügel mit sich genommen hatte. Die Sonne schien, aber nicht in mein Fenster, das fast reine Nordseite war. Während es draußen schon Frühling wurde, verharrte bei mir, wie in vielen anderen Hinterhofwohnungen des Friedrichshains, der Winter. Kalte Mauern und ein nicht mehr beheizter Ofen verzögerten den Wechsel der Jahreszeiten erheblich. Auf der Straße erkannte ich die anderen Hinterhofbewohner daran, dass sie mindestens eine Jacke zu viel angezogen hatten und ungläubig in den Himmel schauten, wenn sie aus ihren Häusern ins Licht traten. Im Moment versuchte ich, der Kälte mit dicken Socken und jamaikanischer Musik beizukommen. Kohlen hatte ich keine mehr im Keller. Ich räumte das benutzte Geschirr der letzten zwei oder drei Tage in die Spüle und hob den Toaster wieder auf den Tisch. Beim Frühstück hatte ich ihn mir zwischen die Beine gestellt und als Heizung benutzt. Auf Abwaschen hatte ich keine Lust, der Boiler war seit Tagen ausgeschaltet und meine Hände trocken und rissig. Das Spiel verließ, bis auf den Torhüter und zwei recht unbeteiligt wirkende Verteidiger, die linke Seite. Ich fühlte ein Kribbeln im Bauch und lief etwas planlos zurück ins Zimmer. Die Aussicht war hier dieselbe wie in der Küche. Mehr Fenster hatte ich nicht. Ich wechselte die Platte und kratzte mich am Kopf. Das Warten und meine Wohnung machten mich nervös.

Die durchweg sonnigen Tage der vorangegangenen Woche hatten einander wie ein Ei dem anderen geähnelt. In meiner Erinnerung vermischten sie sich miteinander und ­verschwammen zu einem einzigen Tag: Ich schlief bis Anschlag aus, hörte beim Aufstehen chillige Musik, frühstückte täglich härter werdendes Brot mit Erdnussbutter und Käse, trank grünen Tee und ging dann bei Jan vorbei. Dazu musste ich meine vier Treppen runter, über den Hof, rechts aus dem Haus, fünfzig Meter die Weserstraße entlang und noch mal hundert die Neue Bahnhofstraße hoch. Wenn die Putztruppe die Stahltür zum Puff neben meinem Haus aufgelassen hatte, glotzte ich jedes Mal wie von einer fremden Macht gesteuert rein. Der fleckige rote Samt sah bei Tageslicht unappetitlich aus. An der Ecke zur Neuen Bahnhofstraße blieb ich kurz vor der Litfaßsäule stehen und checkte die Tafel mit dem Tagesgericht der Assi­kneipe. Hier gab es immer nur Klassiker: Pferderouladen, Eisbein mit Erbspüree, Brühpolnische mit Kartoffelsalat, Karpfen blau. Für mich als Vegetarier hatten diese Schrecklichkeiten etwas abstoßend Lustiges, wie Splatter-Szenen in den Filmen von Peter Jackson. Dann lief ich die Neue Bahnhofstraße hoch. Von allen Straßen des Friedrichshains war sie wahrscheinlich die hässlichste: vierspurig, mit extrem schmalen Gehwegen, an denen sich lückenlos graue und braune Hausfassaden aneinanderreihten, zugekackt, dicht beparkt und mit ungefähr acht traurigen Bäumen auf dem ganzen Stück zwischen Weserstraße und Boxhagener. Einzig die Eldenaer Straße konnte ihr in puncto Ungastlichkeit das Wasser reichen. Ich ging an dem geschlossenen Spätkauf, dem kleinen Secondhandshop und dem Ökoladen der weißen Rastafrau vorbei, kurz vor der Boxhagener Straße erreichte ich dann Jans Haus. Seine Hofeinfahrt roch immer nach Urin. Wenn es weniger als zwanzig Grad waren, trocknete die Pissepfütze hinter der äußeren Tür erst gar nicht. Schuld war die Dönerbude an der Ecke. Da half es auch nicht, dass Jan in großen Buchstaben »WER HIER HIN PISST KRIEGT AUFS MAUL!!« oberhalb der Briefkästen an die Wand geschrieben hatte. Über den immerhin mit einem Baum bepflanzten, aber sonst nur zum Abstellen von Müllcontainern benutzten Hof kam ich in das Hinterhaus. Ich stieg die zwei Treppen zu Jans Wohnung hinauf und passierte dabei auf halber Strecke sein Außenklo. Es sah hier eher nach einem Club als nach einem Mietshaus aus. Die Wände des Treppenhauses waren unsauber rot gestrichen und mit Plakaten beklebt. Sie kündigten unter anderem die Skata­lites im SO36 an, riefen zum großen Mayday-Rave für den Erhalt des DDR-Jugendradios DT 64 auf und machten Werbung für die Per Anhalter durch die Galaxis-Show von Feeling B im Tränenpalast. Über den Plakaten befanden sich wiederum mehrere Schichten Tags und Spuckis, wobei ich vor allem die »Teetrinken gegen Ausländerfeindlichkeit«-Aufkleber von Grufti-Steffen immer noch lustig fand. An Jans zigfach übersprühter Wohnungstür hing ein vom Mehrfachgebrauch abgenutzter Zettel, der mir mitteilte: »Bin aufm Dach.«

Über das Treppenhaus des kaum mehr bewohnten Seitenflügels gelangte ich auf den Dachboden, der mit Gerümpel aus Ostzeiten vollgestellt war. Von dort brachte mich eine hohe und wacklige Holzleiter schwingend und knarzend aufs Dach, das etwas von einem verschrobenen Schrebergarten hatte. Ausgeblichene bunte Teppiche lagen auf dem brüchigen und welligen Teer, es gab eine Parkbank, einen Couchtisch mit abgesägten Beinen und jede Menge mit Erde gefüllte Farbeimer, in denen Marihuanapflanzen ungestört und ungepflegt vor sich hin wuchsen. Die grauen, gemauerten Schornsteinschächte waren alle mit irgend­welchen bunten Bildern besprüht. Auf einem flatterte eine rot-gelb-grüne Flagge, auf einem anderen stand »Jah Rule«. Zur Neuen Bahnhofstraße hin begrenzte ein kleines, wie aufgesetzt wirkendes Spitzdach die Spielwiese. An seine roten Schindeln konnte man sich prima anlehnen und nach Westen in Richtung Innenstadt blicken. Außerdem dämpfte das Dach den von der Ampelkreuzung nach oben dringenden Autolärm. Jan saß auf einem der Teppiche zwischen seinen Musikinstrumenten und las in einem Buch. Als er mir dabei zusah, wie ich umständlich aus der Luke kletterte und über das schmale, leicht abschüssige Dach des Seitenflügels zu ihm hinlief, verrieten seine Augen sofort, dass er schon was geraucht hatte. Jans Augen waren tiefdunkelblau und ruhig, er selbst drahtig und mittelgroß. Seine Frisur war wie ein Mix aus seiner Vergangenheit als Skinhead und seinem neuen Leben als Kiffer und Freak. Er hatte eine Glatze, ließ sich aber am Hinterkopf einen Büschel Haare wachsen, der lustig abstand. Seine Klamotten spiegelten den gleichen Stilmix wider. Er trug flache Baustellenschuhe aus einem Arbeitsbekleidungsgeschäft, klassische enge Jeans und ein Jamiroquai-T-Shirt mit spacigem Aufdruck. Als ich sein Lager erreicht hatte, mussten wir beide erst mal breit grinsen.

»Na, was gibt’s heute in der Kneipe zum Mittag?«

»Tote Oma, mit Sauerkraut und Salzkartoffeln.«

Jan fing an zu kichern.

»Und, wie geht’s?«, fragte ich ihn.

Er kicherte sich aus, bevor er mir antwortete.

»Na ja, is super Wetter, die Arbeit is fern, ick würde sagen, es geht gut.«

Ich setzte mich hin und fragte nach einer kurzen Pause weiter:

»Haste heute was vor?«

»Nee. Du?«

»Nee.«

»Na super!«

Er fing wieder an zu kichern. Seine Augen blitzten vor Freude über die viele freie Zeit.

»Ich werde erst mal ein Pfeifchen rauchen, um ein bisschen aufzuholen«, sagte ich dann mehr zu mir selbst. Jan reichte mir, ohne zu zögern, die kleine Blechdose mit den Rauchutensilien.

»Alter, das ist das Beste, was du an so ’nem Tag wie heute machen kannst. Ich hoffe nur, du hast deine Essensmarken nicht vergessen.«

Jetzt mussten wir beide kichern, weil wir uns an das eklige ostdeutsche Schulessen erinnerten und froh waren, dass sowohl der Osten als auch die Schule für uns der Vergangenheit angehörten. Für mich war es immer noch aufregend und irgendwie neu, an einem Wochentag keinerlei fremdbestimmter Beschäftigung nachzugehen und stattdessen rumzuhängen. Es hatte etwas von Freiheit und Schuld gleichzeitig, wie Schule schwänzen, nur in einer anderen, endgültigeren Dimension. Meistens mochte ich dieses Gefühl, denn ich glaubte an die Schönheit des Lebens und die Versprechen der Zukunft. Jan bestärkte mich in diesem Glauben. Er kannte sich mit der Freiheit schon ganz gut aus und half mir, gelegentliche Zweifel zu zerstreuen.

In den Mittagsstunden rauchten wir uns unter freiem Himmel und der schon angenehm wärmenden Sonne in ein schweres Marok-High. Die kleine Maiskolbenpfeife mit dem Strohhalm als Mundstück und das Feuerzeug gingen zwischen uns hin und her. Das Haschisch kribbelte in meiner Nase und brachte mich zum Niesen. Seine Wirkung setzte etwas zeitverzögert ein. Es kam langsam von unten aus dem Bauch, kroch in die Lunge und den Hals und spülte zum Schluss in den Kopf. Wir ließen den ersten Kick vorübergehen, dann machten wir Musik. Jan spielte Didgeridoo und ich Djembe oder Gitarre. Unsere Sessions, in denen wir uns ausgehend von einem einfachen Grundrhythmus treiben ließen, dauerten eine Viertelstunde, zwanzig Minuten. Jan schlug diesen Grundrhythmus in der Regel mit zwei Klanghölzern. Die sich im ­Dialog entwickelnde primitive Musik half unseren Gedanken dabei, klar zu werden, und ließ uns davonfliegen. Hatten wir ein Thema ausgereizt oder den Draht zueinander verloren, fanden wir mühelos ein mehr oder weniger schlüssiges Ende. Im Anschluss saßen oder lagen wir stumm auf dem Dach in der Sonne und horchten nach innen. Als wir sanft gelandet waren, redeten wir eine Weile über die Dinge, die uns bewegten. Unsere Gespräche kreisten um Bücher, Mädchen, Musik, Geschichte, Filme, Freunde, Reisen und Partys. Wenn wir Lust auf einen erneuten Haschischkick bekamen, rauchten wir wieder und machten dann Musik. Dieser meditative Kreislauf hielt uns gefangen, bis Milan am Nachmittag aus der Dachluke kletterte und mit seiner knarzig singenden Stimme auf uns einredete.

»Na, Jungs, wie geht’s?«

Er ließ uns keine Zeit zu antworten.

»Ihr seid ja total fett! Kuckt euch doch mal an! Fett! Fett! Fett! Das hab ich so was von gewusst, Alter! Den ganzen Tag hab ich in der Scheißschule rumgesessen, ausm Fenster gekuckt und gewusst, dass ihr bei dem Wetter hier aufm Dach rumhängt und euch kugelrund raucht. So ’ne Gemeinheit, ey! Ich muss mich mit Mathe und Bio rum­ärgern und ihr habt nichts Besseres zu tun, als euch vom Planeten zu schießen. Ich schwöre, meine Biolehrerin Frau Kruse hat mich heute echt gefragt, warum ich die ganze Zeit ausm Fenster schaue, und da hab ich zu ihr gesagt, dass ich die ganze Zeit an meine Kumpels denken muss, die jetz bei sich aufm Dach rumhängen und ab und zu ’nen kleinen Joint rauchen. Jetz, wo ich das hier so sehe, glaub ich allerdings, dass das eher ein großer Joint war. Kuck dir den Krischan doch mal an, der kann ja nich mal mehr reden, Mann! Liegt hier rum wie ’ne Robbe am Strand und grinst nur noch.«

Während Milan so redete, mussten Jan und ich hysterisch kichern, nicht zuletzt, weil seine Empörung so herz­ergreifend echt rüberkam. Milan war ein Freund von mir aus der Vorstadt, dem ich ein paar Tage zuvor auf der Straße wiederbegegnet war. Er war durch den Friedrichshain geirrt, weil er seine Quelle in der Pfarrstraße nicht angetroffen hatte und er nicht ohne etwas zu kiffen nach Hause zurückfahren wollte. Ich hatte ihm was besorgt und ihn dann mit auf Jans Dach genommen. Seitdem schaute er eigentlich jeden Tag nach der Schule vorbei. Das war normal für uns Kids aus der Vorstadt. Wenn wir einen Ort gefunden hatten, an dem wir uns wohlfühlten und wo wir die Leute mochten, gingen wir wie aus einem natürlichen Reflex heraus immer wieder dorthin zurück, bis wir einen besseren Platz entdeckten oder uns mit den Leuten überwarfen. Wir waren einfach nicht gern allein und trafen uns regelmäßig, ohne einen bestimmten Grund zu haben. Ich glaube, wir langweilten uns allein und bekamen zu Hause schnell das Gefühl, etwas zu verpassen.

Nachdem Milan geraucht hatte, wurde er ruhiger. Seine großen dunklen Augen blickten in die Ferne und er strich sich immer wieder Strähnen seiner langen braunen Haare hinter die Ohren. Als er den Alltagsstress endgültig abgestreift hatte, begann er mit einem Kohlestift in ein ledergebundenes Buch zu zeichnen. Dieses Buch war kein typisches Blackbook eines Sprühers mit Skizzen und Fotos von Graffitis. Es ähnelte vielmehr dem Notizbuch eines Bildhauers oder Filmemachers und war voll mit Gesichtern, Naturstudien und grafischen Geschichten. Jan und ich unterhielten uns währenddessen wieder ein bisschen. Wir führten jetzt kein ernstes und emotionales Gespräch wie am Mittag, eher so eine Art verschrobenen Small Talk. Milan gab hin und wieder auch etwas dazu. Irgendwann schnappte sich Jan sein Buch vom Vormittag und las darin. Ich blickte über den Friedrichshain und übte Akkordwechsel auf der Gitarre. Ab und zu stand ich auf, um Milan über die Schulter zu sehen. Er zeichnete düstere, unzugängliche Bildergeschichten in Schwarz-Weiß, in denen er der Protagonist war und die überhaupt nicht zum Wetter und zu unserer Stimmung passten. Sie waren voller Angst, Sex, Orientierungslosigkeit und Rausch. Er erklärte sie mir bereitwillig.

»Das bin ich und das ist der Augenturm, der immer schon auf mich wartet. Er verfolgt mich nich, verstehste? Er ist einfach immer schon da, wenn ich irgendwo hinkomme. Ich hab Angst vor dem Turm und renn die ganze Zeit durch die Gegend, bis ich zu müde bin. Egal, wo ich hinkomme, der Turm ist schon da. Dann gehe ich durch die Tür in den Turm hinein, weil ich denke, dass die Augen mich da nich sehen können. Aber die drehen sich einfach nach innen und machen mir noch mehr Angst. Dann renne ich die Wendeltreppe rauf. Ich komme aber nich bis nach ganz oben, denn da is ja Gott. Das ist das große Auge. Und hier werden die Augen dann zu einem Strudel, der mich in die Tiefe reißt. In dem unterirdischen Verlies wartet meine Mutter auf mich. Ja, sie is so was wie ein Teufel, deswegen hab ich ihr auch die Hörner gemalt.«

Er lachte. Mich erinnerte die Geschichte daran, wie ich ihn ein paar Jahre zuvor in der Jugendpsychiatrie besucht hatte. Es war eine weite Reise bis nach Hermsdorf im tiefsten Nordwesten der Stadt gewesen. Wir hatten zusammen mit seiner Mutter im Garten der Station hinter einem fünf Meter hohen Zaun gesessen und reizstofffreien Tee getrunken. Milan wollte nicht mit ihr reden und sein Betreuer zwang ihn nicht dazu. Später in der S-Bahn hatte sie mir mit ihrem tschechischen Akzent gesagt:

»Also, der Umgang mit diesem Schmidt, der hat meinem Jungen nicht gutgetan. Der hatte schon immer einen schlechten Einfluss auf ihn. Und dieser Prahl, der hat ihm die Drogen gegeben. Die beiden sind schuld an der ganzen Sache. Das sind ganz verkommene Typen. Die tun immer so nett, aber das sind miese Typen. Die werden noch vor die Hunde gehen, aus denen wird nichts, das kann ich dir sagen. Ich möchte bloß mal wissen, was in deren Köpfen vor sich geht. Mein Milan ist einfach viel zu sensibel, um sich mit solchen Menschen abzugeben.«

Trotz ihrer durchdringenden Stimme und ihres überzeugten Blickes war ich mir damals ziemlich sicher gewesen, dass niemand von unseren Freunden für Milans Zustand verantwortlich war. Auf Jans Dach hallten die Worte seiner jetzt gehörnten Mutter aber in mir nach und ich überlegte, ob es ein Fehler gewesen war, ihm Dope zu geben. Seine ausufernden Fantasien und Visionen und ihre Macht über seine Gefühle waren Milans Problem. Da halfen weitere Manipulationen durch Drogen aller Art wahrscheinlich nicht wirklich, den Alltag zu bewältigen und das Klassenziel zu erreichen. War es aber meine Aufgabe, auf ihn aufzupassen? Wenn ich ihm kein Haschisch besorgte, ging er wahrscheinlich direkt zurück zum Eisenbahner in der Pfarrstraße und kaufte von irgendeinem grindigen Punker in der Hausbesetzerkneipe ekelerregenden, mit Schallplatten oder Schuhcreme gestreckten Standard. Abgesehen davon, dass er dafür mehr bezahlen würde als für den von uns so geliebten Zero Zero, hatte der Punker bestimmt auch alle Sorten billige Chemie im Angebot und die war nun wirklich nicht gut für Milan. Ich beobachtete ihn eine Weile beim Zeichnen. In seinem Oldschool-­Sprüher-Schick sah er aus wie viele andere Kids auch, nur cooler. Er trug gerade geschnittene dunkle Cordhosen, einfache zweifarbige Sneaker und eine lange blaue Windjacke mit spitzem Kragen. Seine Bewegungen hatten etwas Weiches, Tanzendes und er strahlte Selbstbewusstsein und Ruhe aus. Seine großen braunen Augen trugen zu seiner melancholischen Erscheinung bei, seine langen, feingliedrigen Hände deuteten auf seine Berufung zum Künstler. Ich konnte nicht sagen, worüber er nachdachte oder was ihn bewegte. Er wirkte irgendwie alterslos und so, als hätte er mit der Welt um sich herum wenig zu tun. Er war ein Prinz. Ich fragte ihn schließlich:

»Sag mal, Milan, wie geht’s dir eigentlich? Ich meine, so im Großen und Ganzen. Is das mit dem Kiffen okay für dich? Ich meine, für deinen Kopf? Was sagt’n der Arzt dazu?«

Die Worte kamen nur mühsam aus meinem Mund, denn ich wusste nicht, welche Betonung ich ihnen geben sollte. Milan hörte auf zu zeichnen, drehte sich langsam zu mir um und antwortete fast spöttisch:

»Findste die Geschichte mit dem Turm so krank? Der Arzt sagt natürlich, ich soll keine Drogen nehmen, weil ich depressiv bin. Is doch aber nur Kiffen. Außerdem geht’s mir gerade ganz gut. Ich geh ja sogar regelmäßig zur Schule.«

»Auf deine alte Schule?«

»Ja, ich hatte keine Lust, noch mal neue Arschlöcher kennenzulernen, und die Lehrer da wissen wenigstens alle schon, dass ich ’nen Knall habe, und lassen mich in Ruhe.«

Während er das sagte, fing er wieder an zu zeichnen.

»Und, verstehst du dich mit deiner Mutter wieder?«

»Nee, ich bin ausgezogen. Ich wohne jetzt in so ’ner betreuten Wohngemeinschaft in der Richard-Sorge-Straße.«

»Biste raus aus Marzahn?«

»Ja.«

»Und dein Vater?«

»Der is auch ausgezogen, wohnt aber noch am Springpfuhl.«

»Is das gut oder schlecht?«

Er blickte erneut von seinem Skizzenbuch auf.

»Für ihn is das gut, für meinen Bruder schlecht.«

Jetzt sah er nachdenklich aus. Wahrscheinlich machte er sich Sorgen um seinen kleinen Bruder, der dem aggressiven und fehlgelenkten Ehrgeiz seiner Mutter jetzt beistandslos ausgeliefert war.

Kurz vor dem Dunkelwerden kamen meistens noch zwei oder drei Leute aufs Dach, um mit uns den Tag zu verabschieden. Im malerischen Stadtpanorama sah man die Sonne neben den Zwillingstürmen am Frankfurter Tor untergehen und in einiger Entfernung den Fernsehturm. Wenn wir Pech hatten, waren die Punker aus dem teilweise besetzten Eckhaus auf der anderen Straßenseite am Abend auch auf ihrem Dach. Sie grölten dann die ganze Zeit irgendwelchen Scheiß über die Neue Bahnhofstraße hinweg zu uns rüber. Manchmal schmissen sie auch mit hartem Obst oder leeren Bierflaschen und wir mussten hinter dem kleinen Spitzdach in Deckung gehen und ihren Anführer Lenin bitten, den gefährlichen Beschuss einzustellen.

Sobald die Sonne weg war, wurde es schlagartig kühl. Jan rollte seine Teppiche zusammen und verstaute sie unter einer Plastikplane. Die Holzleiter, die auf dem Weg nach oben schon gefährlich gewesen war, wurde jetzt auf dem Weg nach unten, im Dunkeln, total bekifft und mit einer Trommel unterm Arm, zu einer wahren Prüfung. Jan verließ das Dach als Letzter und schloss die schwere Luke hinter sich, nachdem er noch schnell die Pflanzen mit einem Schlauch gewässert hatte. Im Hof angekommen, trieb uns der Hunger gleich aus dem Haus, vor zur Boxhagener Straße. Hier unten war die Luft spürbar schlechter, die Menschen sahen gestresst und deformiert aus. Die Dunkelheit und die Geschäftigkeit zum Feierabend hatten aber einen belebenden Einfluss auf uns. Milan haute ab, weil er sich in seinem Wohnprojekt an feste Zeiten halten musste, und wir entschieden uns, schnell und billig im Grillo zu essen. Das war die Dönerbude mit Sitzecke und Spielautomaten an der Ecke zur Boxhagener. Es gab wenig andere Alternativen. Der einzige arabische Imbiss im ganzen Friedrichshain war weit entfernt am Boxhagener Platz, der nächste Inder in Kreuzberg. Also holten wir uns im Grillo industriell gefertigte Falafel im Dönerbrot mit Salat und Soße. Dazu tranken wir Eistee. Wenn man genug Hunger hatte, schmeckte es ganz gut.

Nach dem Essen gingen wir hoch in Jans Wohnung und trafen dort auf Anton, der bereits an den Plattenspielern stand. Anton war auch aus der Vorstadt und früher mal Skinhead gewesen. Im Gegensatz zu Jan hatte er noch immer eine Glatze, trug jetzt aber Turnschuhe und weite Hosen. Mit seinem netten Gesicht war er eh nie als klassischer Skinhead durchgegangen, obwohl er groß und breitschultrig war. Auf dem Dach rumzuhängen, war nicht so sehr Antons Ding. Das Bisschen Zeit, das ihm der verhasste Zivildienst in der Charité ließ, verbrachte er lieber mit Auflegen. Jan und er hatten ihre Platten und Anlagen vor einiger Zeit zusammengeschmissen. So brachten sie es auf zwei halbwegs gute Plattenspieler, ein Mischpult und einen Haufen tolle Musik. Außerdem hatten die beiden es irgendwie geschafft, die Public-Address-Anlage eines seit Monaten in Renovierung befindlichen Clubs bei Jan unterzustellen und seine Wohnung dadurch zur lautesten Hinterhaus-Einraumwohnung in ganz Ostberlin zu machen. Sie bestand aus einem großen Berliner Zimmer mit typischem Eckfenster und einer kleinen Küche. Jan hatte sich vor das Fenster ein Podest gebaut, auf dem er schlief, las und chillte. Zwischen Zimmer- und Küchenfenster bog sich eine abenteuerlich befestigte Holzlatte, die über der Hofecke schwebte. Auf dieser stand ein weiterer alter Farbeimer mit einer etwas kümmerlichen Graspflanze. Sie bekam hier unten fast niemals direktes Sonnenlicht. Die ursprünglich ordentlich tapezierten Wände hatte Jan mit einem Schwamm unregelmäßig orange eingefärbt. Überall lagen Platten, CDs, Tapes, Bücher und lose Zettel herum. Es war ziemlich unordentlich, roch nach kaltem Marok-Rauch, grünem Tee und indischen Nag-Champa-­Räucherstäbchen. An der Decke des Zimmers hing eine in dem Raum riesig wirkende Verkehrsampel, die dauerhaft gelb leuchtete. Rot und grün waren zu dunkel und machten außerdem eine komische Stimmung, die nicht zur Musik passte. Unsere Musik war Jungle. Wir hörten eigentlich alle möglichen Musikstile: Dub, Reggae, Hip-Hop, Trippiges mit langsamen Beats, Detroit-Zeug und auch Gitarrenlärm und Achtziger-Gruft-Sound. Wenn es aber ums Ausgehen, Tanzen und Partymachen ging, war Jungle unser Ein und Alles, mehr als Musik, eher so eine Art Religion. Jungle war wicked und gleichzeitig positiv, die Beats schepperten einem um die Ohren, die Breaks gingen durch Mark und Bein, die Echos und Sirenen-Sounds schrien über den wabernden Bass und die Geschwindigkeit trat einem ordentlich in den Hintern. Dazu wurde man von stumpf gesampelten Lines verschiedener jamaikanischer DJs angefeuert. Push up u Lighter inna di Air! Booyakaa, Booyakaa! Das ganze trieb einem ein fettes Grinsen ins Gesicht und verursachte starken Bewegungsdrang.

Wir kifften weiter, spielten Platten, mixten Tapes, bis uns die Wohnung zu eng wurde und die Stadt schlief. Dann brachen wir auf, um genau denselben Sound noch lauter in einem Club zu hören, andere Leute zu treffen und zu tanzen. Unser Weg führte uns dabei in den Toaster, den Suicide Club, das WTF oder den Eimer. Der absolute Höhepunkt der vorangegangenen Woche war aber wie immer die Donnerstagnacht im Acud. So ziemlich jeder, den wir vom Ausgehen kannten, kam donnerstags ins Acud, um in dem maximal zwanzig Quadratmeter großen und nicht viel mehr als zwei Meter hohen Kellerraum zu feiern oder draußen auf der kleinen Mauer an der Veteranenstraße rumzuhängen und zu quatschen. Unten gab es nur eine Richtung: Rumhüpfen, Arme hoch, Trillerpfeifen wie beim Raven, Schweiß, DJs und MCs anfeuern und vehement Rewind fordern, wenn ein richtiger Kracher losrollte. Die minutenlangen Intros von Songs wie T Powers »Mutant Jazz« oder Ganja Krus »Super Sharp Shooter« liefen teilweise dreimal, bevor der DJ die Amen-Breaks endlich auf uns losließ und wir komplett ausflippten. Der niedrige, dunkle Raum entwickelte einen enormen Schalldruck und eine unglaublich schöne Energie. Wir tanzten, holten uns in dem kleinen Nachbarraum an der Bar Leitungswasser, kifften weiter und trafen Leute, bis wir uns irgendwann völlig fertig auf den Rückweg machten.

Der N5 brachte mich nachts nach Hause, seitdem ich damit angefangen hatte, in Clubs zu gehen. Er fuhr vom Alexanderplatz aus die Bundesstraße eins in östlicher Richtung entlang. Wenn ich als Teenager aus den Rockläden Knaack oder Duncker gekommen war, war ich bis zur Ecke Alt-Biesdorf und Köpenicker Straße gefahren und dann noch einmal dreißig Minuten zu Fuß nach Biesdorf-Süd reingelaufen.

Am Freitagmorgen stiegen wir ungefähr sechs Kilometer früher an der Frankfurter Allee aus. Auf dem Weg zum Ostkreuz kehrten wir noch kurz im Supamolly am Traveplatz ein, um zum Runterkommen ein Bier zu trinken. In den letzten zwei Jahren hatten die meisten Feiernächte in Jans Wohnung begonnen und im Supamolly geendet. Mir waren die ganzen Hausbesetzer und Politpunker da eigentlich zu anstrengend, aber irgendwie war es ein guter Kontrast zum Feierfilm und Jan und Anton fühlten sich dem Ganzen aus ihrer Zeit als Skinheads noch verbunden. Außerdem hing am frühen Morgen in der Regel der dünne, lange Mann mit den stecknadelkopfgroßen Pupillen, den stoppeligen Haaren und dem unangenehmen Körpergeruch mit seinem Schäferhund an der Bar rum. Er erzählte dann in seinem breiten bayrischen Dialekt Geschichten von der Verschwörung und dem Untergang und war die Quelle des von uns so innig geliebten goldbraunen marokkanischen Haschischs. Wir nutzten die Gelegenheit, um unsere Vorräte aufzufüllen. Danach trennten wir uns von Anton, der die Oderstraße Richtung Jung nahm, und liefen die Jessner hoch bis zur Weser und am Sportplatz entlang Richtung Neue Bahnhof. Von hier aus konnte man rüber nach Lichtenberg sehen, wo in den Achtzehngeschossern des Neubaugebiets Frankfurter Allee Süd bereits zahlreiche Fenster erleuchtet waren. Über den grauen Hochhäusern dämmerte es. Jans Schritte waren trotz der frühen Stunde noch immer energisch und lang. Vor meiner Tür fragte ich ihn:

»Sag mal, haste eigentlich irgendwelche Pläne fürs Wochenende?«

»Na, ich fahr mit Anna an die Ostsee.«

»Morgen schon, also heute?«

»Nee, Samstag früh, mit’m Wochenendticket, sie kommt aber heute Abend schon zu mir. Und du?«

»Ich wollte nachmittags mit Milan Pilze nehmen. Sonst hab ich nichts vor.«

»Nur so?«

»Ja, nur so, tagsüber schön soft draußen rumlaufen, weil ja langsam Frühling is. Ich hab noch welche seit dem Herbst rumliegen, in Honig eingelegt, mit Muskat und ein bisschen Fliegenpilz. Außerdem dachte ich, das is vielleicht ganz gut, um die letzte Woche abzuschließen. Ich muss mir ab Montag eigentlich wieder ’nen Job suchen, sonst muss ich nachher noch im Sommer arbeiten gehen und kann nicht wegfahren. Weißt ja, das Geld wird immer weniger, wenn kein neues dazukommt.«

»Das mit den Pilzen hört sich gut an, aber du weißt ja, dass Anna nix nimmt. Is eigentlich schade, aber ich hab sie die ganze Woche über nich gesehen, weil sie für ihre letzten Prüfungen lernt. Das wird nix.«

»Und was is mit Arbeiten? Haste Bock?«

Er verzog das Gesicht.

»Ja, müsste ick auch mal wieder. Lass uns doch am Montag bei mir zum Frühstück treffen, dann können wir das zusammen angehen, okay?«

»Okay.«

Jan lief los. Nach zwei Schritten drehte er sich noch mal zu mir um und schoss beidhändig mit seinen Zeigefingern auf mich.

»Ey, und viel Spaß morgen!«

Ostkreuz

Подняться наверх