Читать книгу Ostkreuz - Christian Mackrodt - Страница 6
3.
ОглавлениеIch stand wieder am kleinen Tisch in meiner Küche und blickte auf meine Hände. Der Einlassstempel vom Acud war beim Duschen nicht runtergegangen. Im Hof krachte die Tür zu. Ich hörte, wie ein Fenster geöffnet wurde, und wartete auf das Unvermeidliche.
»Ey, muss das sein?! Könnt ihr nicht ein Mal die Scheißtür leise zumachen? Ich glaub langsam, ich bin hier von lauter Idioten umgeben. Ja, du, dich meine ich! Glotz doch nich so blöde! Irgendwann müsst ihr das doch mal lernen! Oder is das zu hoch für euch?«
Der Typ, der neben mir wohnte, hatte seine eigenen Probleme: früher mal reich, früher mal jung, früher mal Charlottenburg, früher mal kein Alkoholiker. Dass ich manchmal mit ihm in seiner Küche unter dem gerahmten Ulrike-Meinhof-Bild Tee trank und mir Geschichten aus seiner besseren Zeit anhörte, bewahrte mich nicht davor, genauso angeschrien zu werden, wenn ich die Hoftür unbedacht zufallen ließ. In unserem baum- und strauchlosen Hof mit dem grauen Betonboden schallte es aber auch wirklich sehr. Ich vernahm Schritte von mehr als einer Person im Treppenhaus, dann Stimmen vor meiner Tür. Es klopfte. Als ich aufmachte, sah ich Milan und ein Mädchen, das offensichtlich zu ihm gehörte, obwohl es optisch nicht unbedingt zu ihm passte. Nachdem ich die beiden ein paar Sekunden lang angeschaut hatte, sprach das Mädchen mit kehliger Stimme zu mir.
»Hi, ich bin Katja, ich bin einfach mitgekommen.«
Sie musterte mich unverhohlen. Milan murmelte nur irgendetwas und sah mich nicht an. Er wirkte niedergeschlagen, so als hätte er einen Kampf verloren. Die beiden gingen durch den kurzen Flur und standen dann in meinem Zimmer. Sie sahen sich um. Nach kurzem Zögern setzten sie sich in die Mitte des Raums auf den Teppich. Die Couch war bereits von der Gitarre und getragenen Sachen belegt. Katja brachte mich vom ersten Moment an aus der Fassung. Sie war schlank, hatte schulterlanges glattes, rotes Haar, kleine süße Brüste und sanfte grünliche Augen mit fein geschwungenen Brauen. Ihre Bewegungen kamen wie aus dem unteren Bauch und wirkten katzenhaft. Ihr Rücken war gerade, Schultern und Oberarme definiert. Ihre Augen schauten sehr wach und neugierig über die kleine Nase. Sie war nicht der Typ Mädchen, mit dem ich es sonst zu tun hatte. Sie schüchterte mich mit ihrer Schönheit und ihrem selbstbewussten Verhalten ein. Ich stand vor den beiden an der Teppichkante und steckte meine kalten Hände in die Hosentaschen. Milan saß im Schneidersitz, Katja mit seitlich angewinkelten Beinen, alles andere wäre mit ihrem kurzen, dunklen Kleid nicht möglich gewesen. Wir schwiegen. Katja schaute mich an, Milan ins Nichts und ich immer von einem zum anderen.
»Wollt ihr was trinken?«, fragte ich schließlich, um die Situation aufzulösen.
»Etwas Warmes, wenn das geht«, sagte sie nach kurzem Schweigen.
Ich machte den beiden Musik an und verschwand in der Küche, um Tee zu kochen. Auch von dort aus hörte ich sie nicht miteinander reden. Mit einer Kanne und drei unterschiedlichen Tassen setzte ich mich dann zu ihnen auf den Teppich. Milan fragte nach Jan und rauchte eine Zigarette wie jemand, der sonst nicht rauchte. Katja schaute sich weiter um. Sie wippte leicht mit dem Kopf zu Lee Perry und sah in dieser Umgebung völlig deplatziert aus, zu hübsch und zu gut angezogen. Es war mein erstes eigenes Zuhause. Meine Exfreundin, zu der ich von meiner Mutter und meinem Stiefvater aus gezogen war, hatte mich nach unserem gemeinsamen Urlaub im Winter, kurz nach Davids Beerdigung, aus ihrem Zimmer in einem der besetzten Häuser in der Kreutzigerstraße geschmissen. Jan hatte mir dann geholfen, die Wohnung bei ihm um die Ecke zu finden. Er hatte diesen Studenten angequatscht, als der gerade mit einem Stapel »Nachmieter gesucht«-Zettel aus dem Copyshop kam.
Von meinem Vormieter hatte ich ein gut gebautes Hochbett übernommen, es stand neben dem fast weißen Ofen. Darunter hatte ich meine alte, schmale Schaumstoffmatratze gelegt. Ich schlief oben und las unten. Vor dem Fenster stand ein einfacher, schwarzer Schreibtisch, den mir ein Freund geschenkt hatte, an der Wand dahinter meine alte, braune Ledercouch. Das Zimmer hatte gut erhaltene, ochsenblutrot gestrichene Dielen und der Rest der Wohnung gelben Linoleumfußboden. Alle Wände waren mit weißer Raufaser tapeziert. In der Mitte des Zimmers zwischen Schreibtisch, Couch und Hochbett lag der rot-schwarze Teppich, auf dem wir saßen. Er war ein Geschenk meiner Großeltern, die sich nach der Wende für ihr Wohnzimmer einen neuen gekauft hatten. Links neben dem Schreibtisch stand meine Anlage auf dem Fußboden. Die Platten lehnten in kleinen Stapeln im Zimmer verteilt an den Wänden. Über der Couch hing ein vergrößertes Foto. Darauf waren meine Freunde Alex und Pernd zusammen mit mir und J Mascis von Dinosaur Jr. zu sehen. Wir hatten alle drei lange Haare und J wirkte betrunken.
Die Wohnung war nicht schmutzig, aber etwas unordentlich. Sie sah nicht gerade eingerichtet und bewohnt aus. Ich schlief hier, konnte die Tür hinter mir zumachen und nicht ans Telefon gehen, wenn meine Mutter vormittags anrief. Sie quälte mich seit einem halben Jahr mit der Frage, was ich denn jetzt machen wolle. Ich konnte laut sein, denn außer mir wohnten nur noch drei andere Leute im Seitenflügel und im Hinterhaus, keiner von ihnen über oder unter mir. Das Treppenhaus war sauber, ich hatte eine eigene Dusche und ein Klo, worum mich Jan beneidete. Und es war billig. Mein ganzes Leben war billig. Ich musste ungefähr fünf Tage im Monat aufm Bau arbeiten gehen, um meinen Unterhalt zu verdienen. Dann hatte ich wieder Zeit zu lesen und auszugehen und mit den Menschen zusammen zu sein, die ich mochte. Niemand in meinem Leben war wie Katja. Sie war anziehend, bewegte sich sanft und bewusst und sprach leise und gewählt. Sie sah wie jemand aus, für den man sein ganzes Leben änderte. Ich wollte mit den beiden rausgehen, raus aus der Wohnung, die mir auf einmal ein Gefühl der Unfreiheit vermittelte. Ohne viel zu reden, nahmen wir Pilze und rauchten ein paar Pfeifen Haschisch. Der muffige Geschmack ekelte mich wie immer an. Als ich schließlich die Tür hinter uns abschloss, war aus dem Nachmittag früher Abend geworden.
Friedrichshain
war nicht unbedingt ein schönes Viertel, dafür ein eng bebautes und dicht bewohntes. Was wir Friedrichshain nannten, deckte sich auch nicht ganz mit den auf Karten eingetragenen Grenzen des Stadtbezirks. Für uns war es das ungefähr anderthalb mal anderthalb Kilometer große Viereck südlich der Frankfurter Allee mit den Eckpunkten Ostkreuz, S-Bahnhof Frankfurter Allee, Frankfurter Tor und S-Bahnhof Warschauer Straße. An seiner nördlichen Grenze fuhr die U-Bahn-Linie 5 unter der Frankfurter entlang. Auf einer leichten Anhöhe dahinter lag der Nordkiez, der eigentlich auch Friedrichshain war, dessen Lebensgefühl sich aber vom restlichen Kiez unterschied. Im Süden bildeten die von Ost nach West verlaufenden Bahngleise eine Barriere. Man konnte sie nur an der Warschauer Brücke, der Modersohnbrücke und am Ostkreuz überqueren. Zwischen diesen Gleisen und der Spree weiter im Süden lag ein schmaler Streifen, den wir Corinthstraßenghetto nannten. Er gehörte zwar offiziell auch zum Friedrichshain, war aber Niemandsland. Die westliche Grenze bildete die Warschauer Straße mit ihrem breiten mittigen Grünstreifen, auf dem die Straßenbahnen der Linie 20 fuhren, die den Friedrichshain mit dem Prenzlauer Berg verband. Jenseits davon befand sich um die Marchlewskistraße herum ein in den 1950ern gebautes Wohngebiet mit wenigen Häusern aus der Vorkriegszeit. Von den Straßen dort fühlten sich nur die Kadiner und die Gubener wie echter Friedrichshain an. Im Osten trennten die S-Bahn-Gleise der Ringbahn hinter der Neuen Bahnhof- und Gürtelstraße das Viereck von Lichtenberg. Das war die einzige echte Stadtbezirksgrenze unseres Kiezes. Man konnte sie nur an der Boxhagener Straße, dem Wiesenweg und der Frankfurter Allee überqueren.
Innerhalb des Friedrichshains gab es elf von Ost nach West und zwanzig von Nord nach Süd verlaufende Straßen und noch mehr Straßennamen, weil viele Straßenzüge an bestimmten Kreuzungen ihre Namen änderten. So hieß die Straße, die von der Modersohnbrücke zum U-Bahnhof Samariterstraße führte, zwischen der Brücke und der Simplonstraße Modersohnstraße, zwischen der Simplon- und der Grünberger Straße Gärtnerstraße und zwischen der Grünberger Straße und der Frankfurter Allee Mainzer Straße. Innerhalb des dichten Straßengitters lagen vier kleine Parks: der Boxhagener Platz, der etwas schmalere Traveplatz und die beiden dreieckigen Grünflächen Wühlischplatz und Wismarer Platz, die so klein waren, dass man sie eigentlich nicht mehr als Parks bezeichnen konnte. Wollte man wirklich mal seine Ruhe haben und nicht in Glasbruch und Hundekot rumsitzen, ging man besser auf den Friedhof zwischen Mainzer und Kreutzigerstraße. Eine gute Alternative dazu waren die Ruinen entlang der S-Bahn-Linie an der Revaler Straße. Die zerfallenen Häuser, Schuppen und Hallen der Reichsbahn hatten zu den südlich gelegenen Gleisen hin ungepflegte Wiesen, auf denen man in der Sonne rumhängen und die Enge des Friedrichshains vergessen konnte.
Die Bebauung des Kiezes war uniform: stuck- und zierwerklose braune und graue fünfstöckige Häuser mit angedeuteten Spitzdächern. Die meisten hatten einen Hof und ein ebenerdiges unteres Stockwerk. Sie standen lückenlos nebeneinander, sodass die Straßenzüge düstere Mauern bildeten. Der Krieg hatte allerdings einige Löcher und freie Grundstücke hinterlassen. Am östlichen Ende der Boxhagener Straße gab es ein paar ältere und weniger hohe Gebäude aus der Zeit der Industrialisierung. Großzügige bürgerliche Architektur fand man nur in der kurzen Knorrpromenade mit ihren Vorgärten und der Toreinfahrt an der Wühlischstraße.
Der Friedrichshain war immer ein Arbeiterviertel gewesen. Nach der Wende sank die Zahl der arbeitenden Friedrichshainer durch die Schließungen des Glühlampenwerkes »Rosa Luxemburg« und der Schwerindustriebetriebe in Rummelsburg und Schöneweide allerdings erheblich. Es entstand die Kultur des alltäglichen, nicht uhrzeitgebundenen Trinkens auf der Straße. Gleichzeitig hatten sich Hausbesetzer leer stehende Mietskasernen gesucht und sie wieder bewohnbar gemacht. Man fand die besetzten Häuser in der Scharnweberstraße, der Kinzigstraße, der Jessnerstraße, der Kreutzigerstraße, im Nordkiez um die Rigaer Straße herum und im westlichen Lichtenberg in der Pfarrstraße. Die sozialdemokratische Stadtregierung hatte dem selbstbestimmten Freiheitswillen der Hausbesetzer direkt nach der Wiedervereinigung die Muskeln gezeigt. Sie räumte die 13 zu Ostzeiten zum Abriss nominierten Häuser auf der westlichen Seite der Mainzer mit roher Polizeigewalt. Danach waren die Fronten im Kiez klar: Bullen waren Schweine, Kapitalisten Ausbeuter, Politiker im Allgemeinen Kriegstreiber und Sozialdemokraten Faschisten. Man hatte es ihnen durch die Torpedierung der Olympiabewerbung zwei Jahre später heimgezahlt. Die besetzten Häuser bildeten ein Netzwerk von Cafés, Kneipen und Veranstaltungsorten im Friedrichshain. Zusätzlich gab es etwas Gastronomie in der westlich gelegenen Simon-Dach-Straße und in der Sonntagsstraße am Ostkreuz. Temporär öffneten auch immer mal wieder kleinere Clubs in Ladengeschäften, Hinterhof-Parterrewohnungen oder Kellern. An der Ecke Boxhagener- und Niederbarnimstraße befand sich das einzige Kino im Kiez. Das Intimes bot weniger als hundert Besuchern Platz, wurde mit einem Kachelofen beheizt und strahlte großväterlichen Charme aus.
Innerhalb der Grenzen des Friedrichshains konnte man super leben. Man fand schnell eine Wohnung oder ein Zimmer, so viele Freunde und Bekannte, wie man wollte, und ein raues und herzliches Miteinander, das stark von Alkohol und Drogen bestimmt wurde. Für andere Dinge musste man den Kiez verlassen: zum Arbeiten, zum Ausgehen, zum Studieren, zum Platten- und Klamottenkaufen oder wenn man mal in einen richtigen Park oder schwimmen gehen wollte. Blieb man zu viele Tage am Stück innerhalb der engen Straßen, die nur wenig Sonne auf den schmalen Bürgersteigen zuließen, legte sich einem etwas Bedrückendes aufs Gemüt.