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Die Leute hockten auf dem Boden, auf Decken, Jacken oder ganz einfach im trockenen Gras, nein, sie hockten nicht, sie lagerten, sie hatten sich bequem ausgestreckt und machten ihre Rucksäcke, ihre Taschen zu Kopfkissen, sie hatten sich sämtlich scheinbar locker über die Wiese verstreut, und doch war so etwas wie ein Muster erkennbar: Die Familien bildeten immer einen Kern, ein geschlossenes Zentrum, um das sich junge Männer sammelten, zu dritt, zu viert saßen sie mit überkreuzten Beinen und blickten auf ihre Smartphones, rauchten und aßen die Semmerln, die das Bundesheer verteilte, oft aber nur das Brot, die Wurst landete im Gras.

„Ist da eigentlich Schweinefleisch drin?“ Prähausner zeigte mit der Schuhspitze auf eine zertretene Scheibe Extrawurst.

„Ich glaube schon.“ Annabel nahm die Kamera vom Auge und verzog angewidert das Gesicht. „Können die keine Käsesemmerln verteilen? Dann wüssten die Leute, woran sie wären und es würde nichts verschwendet. Klohäuschen sollten sie aufstellen. Und Mistkübel“, sagte die Kollegin, während der Verschluss ihrer Kamera bereits wieder klickte.

Sie hatte recht. Dem Geruch nach zu schließen, wurde nicht nur die Flussböschung als Toilette benutzt. Zwischen den lagernden Gruppen ließ der warme Wind Plastikabfälle vagabundieren, überall lagen Flaschen, weggeworfene Decken und Kleidung. Toilettenhäuschen statt waschkörbeweise Extrawurst-Semmerln war allerdings kein guter Vorschlag, jedenfalls nicht, wenn es nach dem Polizeisprecher ging, den Prähausner vor etwa zwei Stunden telefonisch erreicht hatte. Man wolle die Leute in der leergeräumten Autobahnmeisterei unterbringen, die nur wenige Kilometer entfernt und inzwischen mit allem Notwendigen ausgestattet sei. Ein wildes Camp an der Grenze werde man nicht dulden. Noch sah es nicht nach einem Camp aus, eher nach einem Massenpicknick.

„Stell dir vor, das wären Österreicher. Die würde alle auf den Bordsteinen sitzen oder auf den Steinen am Flussufer und nicht auf dem Boden.“ Annabel verstaute die Kamera in ihrer Tasche. „Oder sie würden gleich Bierbänke und Biertische aufstellen.“

Prähausner lachte. Tatsächlich hatte das Bundesheer damit begonnen, am Straßenrand Biertische aufzuklappen. Kollegen vom deutschen Fernsehen filmten einen Soldaten, der gerade ein Ofenrohr auf einen klobigen tarnfarbenen Anhänger steckte. Eine Feldküche! Wann hatte er das letzte Mal so etwas zu Gesicht bekommen? Vielleicht als Bub, bei einer der jährlichen Leistungsschauen des Bundesheers?

„Die Brücke. Die habe ich noch nicht!“ Annabel packte die Kamera wieder aus, dann suchte sie sich einen Weg zurück auf die Straße.

Der Grenzfluss war hier nicht sonderlich breit, grün und klar zog das Wasser unter der Brücke, die nicht mehr als siebzig, achtzig Meter überspannte, hindurch. Hundert, hundertfünfzig Flüchtlinge hatten auf den Geh- und Radwegen beiderseits der Brückenfahrbahn Platz gefunden. Die Allermeisten standen an das Geländer gelehnt, viele aber saßen auch am Boden, so wie Ibrahim, ein Schiit aus dem Irak. Prähausner hatte ihn vorhin interviewt, und jetzt waren er und seine beiden Cousins bereit, sich vor Annabels Kamera zu stellen. Keinen Schritt würden sie von der Grenze wegmachen, hatte Ibrahim erzählt, sie seien unter den ersten gewesen, die sich bis hierher durchgefragt hätten, und nun blieben sie, bis die Deutschen den Schlagbaum öffneten. Nach wochenlanger Flucht sahen die drei überhaupt nicht aus, eher so, als hätten sie sich gerade aus einem gut gefüllten Kleiderschrank bedient. Selbst Ibrahims weißes Hemd war fleckenlos sauber; Aftershave-Geruch zog in Prähausners Nase.

„Wir haben uns heute Morgen am Fluss gewaschen und rasiert“, hatte der jüngere der beiden Cousins, dessen schwarze Brauen fast schon schnurrbartartig über seinen Augen stachelten, erklärt. „Wir wollen einen guten Eindruck bei den Deutschen machen.“

Nach einer baldigen Öffnung der Grenze sah es allerdings nicht aus, auch handelte es sich nicht eigentlich um einen Schlagbaum, sondern um eine Art Gitter, das sich genau in der Mitte der Brücke über Fahrbahn und Gehwege spannte und mit zwei Toren für den Verkehr versehen war. Kein eilig herangeschaffter Bauzaun, sondern eine massive, mindestens drei Meter hohe Sperre, die gut vor das Eingangstor einer Kaserne gepasst hätte. Dahinter hatte die deutsche Polizei Stellung bezogen, Beamte in ihrer Alltagsuniform, die den zäh dahinfließenden Autoverkehr kontrollierten, und außerdem ein paar dutzend durchtrainierte Männer, die ihre Helme an ihre Koppeln gehängt hatten. Durchsichtige Schilder lehnten in Reihe am Brückengeländer.

Hinter den Kulissen, hieß es, wurde hektisch verhandelt. Österreichische Spitzendiplomaten waren nach Berlin geflogen, um sich für ein Kontingent von sechshundert bis tausend Flüchtlingen pro Tag einzusetzen. Unverhofft den Rücken gestärkt hatte ihnen die ungarische Präsidentin mit einem offenen Brief an die deutsche Regierung: Auch in ihrem Land seien die Vertriebenen kaum noch unterzubringen; Bahnhöfe, Turnhallen, Militärzelte seien übervoll. Abhilfe könne nur geschaffen werden, wenn das wirtschaftlich stärkste Land Europas sich für die Hilfesuchenden öffne.

„Danke, das reicht. Ich habe euch und den Zaun drauf. Das Foto kommt in unsere Zeitung“, sagte Annabel auf Englisch zu Ibrahim. „Wollt ihr wirklich hier übernachten?“ Sie steckte die Kamera endgültig zurück in die Tasche.

„Ja, eine Nacht ist kein Problem für uns. Morgen werden sie uns hineinlassen.“ Ibrahim war voller Optimismus. In Deutschland, hatte er während des Interviews gesagt, wolle er als Zahnarzt arbeiten, so wie in Basra auch, und nach ein, zwei Jahren seine Familie nachholen.

„Na, dann viel Glück!“

Als Prähausner und seine Kollegin in Richtung Auto gingen, fiepte Annabels Smartphone. „Unser Gebirgsjäger“, sagte sie mit Blick auf den Bildschirm. Sie wurde langsamer, dann blieb sie stehen. „Er ist auf der deutschen Seite der Grenze unterwegs. Schau mal.“ Sie hielt Prähausner ihr Gerät vor die Nase. Auf einem Foto war ein Bautrupp zu sehen, der Nato-Draht auf dem Waldboden ausrollte. „Sieht aus, als wäre es gar nicht weit von hier. Das ist im Auwald.“

„Was? Ein Zaun? Das kann doch … davon war doch nie die Rede!“ Prähausner starrte auf das Foto, ohne einen weiteren Gedanken fassen zu können. Die Sonne im wolkenlosen Himmel, das Rauschen des Flusses. Das friedliche Picknick mit der Extrawurst. Ich will etwas sagen, aber es geht nicht, meine Kehle ist dürr und trocken geworden. Schnell hole ich die Wasserflasche aus meinem Rucksack, nehme einen Schluck, dann noch einen. Annabel scheint nicht zu begreifen, sie blickt mich nur ein wenig verwundert an, weil ich nicht reagiere, nicht reagieren kann. Es ist nicht möglich, nicht hier, an der Grenze zu Deutschland. Das Foto muss Johannes aus einer anderen Gegend bekommen haben, aus Mazedonien, Serbien, aus Griechenland.

„Ruf Johannes an, sofort. Er soll vor Ort bleiben und weitere Fotos machen. Fotos vom Zaun. Vielleicht gibt es Truppenbewegungen. Auch davon brauchen wir Fotos, möglichst schnell.“

„Okay.“ Annabel tippte schon auf ihrem Telefon herum.

„Und dann wechselst du rüber. Du gehst ins Rathaus von Freileichtheim und überrumpelst den Bürgermeister. Du fragst ihn auf den Kopf zu, ob er etwas weiß, und wenn er es leugnet, zeigst du ihm das …“

Wieder fiepte Annabels Handy. Der Gebirgsjäger hatte drei weitere Bilder geschickt. Eines zeigte einen Lastwagen der Deutschen Bundeswehr, der Drahtrollen geladen hatte, die beiden anderen Soldaten, die Zaunpfähle in den Waldboden schlugen. Verblüffenderweise waren beide Aufnahmen gestochen scharf. Sie mussten aus unmittelbarer Nähe gemacht worden sein.

„Wie hat er denn das zustande gebracht?“ Prähausners Kehle war noch immer so trocken, dass er den Satz nur mit Mühe zu Ende bringen kann. Da bin ich seit beinahe fünfzehn Jahren Redakteur bei den Neuesten Grätzelnachrichten, da bilde ich mir ein, dass ich alles, aber auch wirklich alles, was in dieser Stadt passiert, schon Tage vorher erahnen kann, und nun schickt mir ausgerechnet ein jobbender Bummelstudent ein paar Fotos, die möglicherweise mehr verändern werden als alles, was ich bisher erfragt, geschrieben, gedruckt habe. Wasser. Es gluckst aus der Flasche in meinem Mund, schwemmt kühl meine Kehle hinab. Das ist meine Chance. Jetzt heißt es handeln.

„Sieht arg aus, der Zaun.“ Annabel, die langsam zu begreifen schien, fragte nach genaueren Anweisungen.

„Du fährst mit dem Wagen nach Freileichtheim ins Rathaus. Ich fahre mit dem Bus ins Büro. Wir müssen schnell sein. Du hast dreißig Minuten! In höchstens einer Stunde sind wir online!“

Gleichzeitig rannten sie los, Annabel zum Auto, das ganz in der Nähe der Brücke geparkt war, Prähausner in Richtung Busstation, die etwa einen Kilometer von der Grenze entfernt war, er rannte an der Fahrzeugkolonne, die sich von der Brücke aus zurückstaute, entlang, hetzte über eine rote Ampel und steigerte trotz des plötzlichen Stechens in seiner Seite die Geschwindigkeit, während sich in seinem Kopf schon die erste Schlagzeile zu bilden begann:

SCHOTTET DEUTSCHLAND SICH AB?

Bundeswehr baut Zaun an der Grenze. Nato-Draht wird angeliefert. Erste Fotos, exklusiv in den Neuesten Grätzelnachrichten.

Noch im Laufen holte er sein Telefon aus der Hosentasche. Jetzt musste Hubert zeigen, was er draufhatte, jetzt würde sich beweisen, was seine App wirklich konnte, ob das digitale Copyright tatsächlich funktionierte. Bis die großen Agenturen herausgefunden hatten, wo der Zaun gespannt wurde, konnte es zwei, drei Stunden dauern, und bis dahin gehörten die Schlagzeilen ganz allein den Neuesten Grätzelnachrichten.

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