Читать книгу Unerhörte Nachrichten - Christian Müller Lorenz - Страница 8
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ОглавлениеFranzi: Hi Pap.
Prähausner: Hallo Franzi. Na, wie geht’s deinem Näschen?
Franzi: Brennt ein bisschen. Aber das halt ich schon aus. Mam geht’s schlechter als mir. Sie hat kein Wort mit mir geredet, seit sie nach Hause gekommen ist.
Prähausner: Tja, du weißt ja, dass bei ihr immer alles genau an der richtigen Stelle sein muss. Sogar der Schmuck.
Franzi: Ich kann selbst entscheiden, ob ich mir Löcher in die Nase zwicken lasse oder nicht. Ich bin alt genug dafür.
Prähausner: Wegen ein paar Nasenringen geht die Welt nicht unter – außer für deine Mutter natürlich. Franzi, ich stehe gerade vor deinem Kleiderkasten, weil ich für jemanden einen Pullover brauche.
Franzi: Einen Pullover? Für wen?
Prähausner: Für eine Frau. Sie hat nichts zum Anziehen. Sie ist vor unserem Supermarkt gelegen. Sie spricht kein Wort und hat kein Gepäck. Vielleicht kommt sie ja vom Bahnhof. Frau Hirscher hat sie zum Pinkeln mit in ihre Wohnung genommen. Wir haben überlegt, ob wir sie nicht für heute Nacht in deinem Zimmer …
Franzi: Wow, das ist lässig von dir, Paps! Klar kann sie in meinem Zimmer schlafen. Sie soll sich einen Pullover aussuchen. Was hat sie für eine Figur? Passen ihr meine Pullover überhaupt?
Prähausner: Die größten vielleicht.
Franzi: Dann nimm den roten Wollpulli. Der ist schön weich und dehnt sich gut.
Prähausner: Frau Hirscher kocht gerade Gulasch für die Frau. Gehört in ein Gulasch eigentlich Schweinefleisch? Vielleicht ist sie ja Muslimin.
Franzi: Sie wird dir schon klarmachen, ob sie Fleisch isst oder nicht. Was machst du morgen mit ihr? Nimmst du sie mit in die Redaktion?
Prähausner: Da habe ich noch nicht darüber nachgedacht. Bestimmt geht es ihr morgen wieder besser. Vielleicht geht sie zurück zum Bahnhof.
Franzi: Glaube ich nicht. Die sind tagelang an irgendwelchen Gleisen entlanggewandert. Die müssen sich erst mal ausruhen. Vielleicht ist bei der Überfahrt ihr Kind aus dem Schlauchboot gefallen und ertrunken, und deswegen hat es ihr die Sprache verschlagen. Weißt du was, ich komme morgen Abend zu dir und bringe ihr Sachen von Mama.
Prähausner: Untersteh dich! Du bist unter der Woche bei deiner Mutter, so ist es ausgemacht.
Franzi: Beruhig dich, Paps! Ich bin fast erwachsen. Ich kann selber sagen, wohin ich will. Das hat sogar der Richter gesagt.
Prähausner: Schon. Aber wenn du einfach zu mir kommst, dann wird deine Mutter …
Prähausner: Gar nichts wird sie! Ich nehme einfach das Zeug, das Mama zu klein geworden ist. Seit sie mit dem Günther zusammen ist, ringelt sich das Fett um ihre Hüften. Aber mit dem Günther ist zum Glück eh aus.
Prähausner: Mit dem Günther ist es aus?
Franzi: Ja, seit vorgestern. Ich bin so was von froh, dass Mama sich endlich entschieden hat. Kaum ist Günther da, holt er schon die Yogamatte aus der Ecke. Er zündet eines von diesen stinkenden Räucherstäbchen an, hockt sich auf den Boden und sagt Namaste. Kann er nicht einfach Hallo sagen?
Prähausner: Lassen wir das mit Günther. Die Frau braucht auch Unterwäsche. Sie ist gerade bei Frau Hirscher im Bad.
Franzi: Gib ihr eines von meinen Schlafleibchen, die sind lang und weit. Hat sie einen dicken Hintern?
Prähausner: Nein. Aber ganz so schmal wie du ist sie auch nicht.
Franzi: Dann gib ihr einen String-Tanga, die dehnen sich. Es sind zwei oder drei in meiner Unterhosenlade. Mit lauter Snoopys drauf. Hast du die Lade?
Prähausner: Einen String-Tanga? Also ich weiß nicht. Das könnte sie als Anzüglichkeit auffassen.
Franzi: Mensch, was du immer alles denkst! Snoopy und anzüglich, das ist echt lächerlich. Nimm den String, auf dem Snoopy auf seiner Hütte schläft. Die Frau soll merken, dass sie sich ausruhen darf.
Prähausner: Na gut. Hier ist Snoopy auf der Hütte. Ich gebe die Sachen Frau Hirscher.
Franzi: Ich komme morgen Abend zu dir, und wenn sich Mam auf den Kopf stellt!
Prähausner: Franzi, bitte …
Franzi: Keine Chance, Papsi! Bis morgen.
Prähausner stellte das aufgeschnittene Weißbrot, das in einem Körbchen lag, auf den Esstisch im Wohnzimmer. Er faltete Servietten neben die Teller, dann legte er das Besteck darauf. Erwartungsvoll grummelte sein Magen dem Gulasch entgegen. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal unverhofft Besuch bekommen? Es musste mehrere Monate her sein. Froh, seiner weißkäsigen Diät wenigstens für diesen Abend entkommen zu sein, beschloss er, den Mozzarella im Gefrierfach seines Kühlschranks verschwinden zu lassen. Kulinarische Erneuerung tat not, allein schon seiner Tochter wegen. Am kommenden Samstagvormittag werde ich um frisches Gemüse in den Biomarkt fahren, ich werde gegen 11 Uhr den Nudeltopf aufstellen und Zwiebeln, Karotten, Brokkoli für die Sauce schneiden, ich werde mich kopfschüttelnd an all die Jahre erinnern, in denen mein Kühlschrank nicht viel mehr enthalten hat als mein Bier, meine Kaffeemilch und Franzis weißes Joghurt; ich werde an die Wochenenden zurückdenken, an denen meine Tochter stundenlang joghurtlöffelnd vor ihrem Laptop gesessen ist, reinweißes Joghurt und eine Serie aus dem tiefschwarzen Mittelalter, wie passt das eigentlich zusammen; ich werde daran denken, wie ich sie vergeblich mit Pizza, Curryreis, Glasnudeln an den Esstisch zu locken versucht habe, wie ich appetitlos alleine vor den Kartonboxen mit all den Köstlichkeiten gehockt bin und mir der Geruch nach Tomatenmark, Kokosmilch und Glutamat das Gefühl gegeben hat, in irgendeiner zugigen Imbissbude zu sitzen, und, trostlos transitorisch für den Rest meiner Tage, eine Luft zu atmen, die vom Fett der unablässig zischenden Fritteuse ranzig geworden ist.
Ich werde meine Tochter nicht zu Tisch bitten müssen, sie wird um Punkt 12 Uhr mit gewaschenen Händen im Wohnzimmer erscheinen und sich artig für die Pasta bedanken, sie wird mit Messer und Gabel essen, statt ihren Kopf mit der linken Hand vor dem freien Fall auf den Teller zu bewahren und mit der rechten lustlos in den Nudeln herumzustochern, und nach der Mahlzeit wird sie das Geschirr in die Küche tragen, statt sofort wieder hinter ihrem Laptop zu verschwinden.
Der Redakteur ging in die Küche und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Erst als er die Flasche bereits geöffnet hatte, kam ihm der Gedanke, dass es einer Muslima möglicherweise missfallen könnte, wenn er sich, wie so oft nach einem anstrengenden Tag, zwei oder drei Flaschen gönnte. Aber nein, dies war seine Wohnung, dies war ein Land, in dem nicht Haschisch, sondern Alkohol dazu beitrug, Spannungen abzubauen, und überhaupt war es an der Zeit, an einen Artikel zu denken, in dem es um gegenseitigen Respekt ging und nicht um eine Toleranz, die von den Neuankömmlingen vielleicht falsch verstanden wurde.
Mit der Flasche in der Hand setzte er sich an den gedeckten Tisch, dann stand er wieder auf, holte ein Glas aus dem Geschirrkästchen über dem Herd und schenkte sich sorgfältig ein.
Als das Schrillen der Türglocke seine Gäste ankündigte, als Frau Hirscher und die junge Fremde ein paar Sekunden später in der Wohnzimmertüre standen, hatte er es bereits geleert, hatte er sich so weit entspannt, dass das Erschrecken durch mich hindurchfährt, ohne dass es mein Gesicht verstört; dass ich ruhig sitzen bleibe, obwohl alles in mir aufspringt; dass ich einladend auf einen Sessel zeige, während ich sie hinausdrängen möchte aus meinem Wohnzimmer; dass ich wieder diesen Waldgeruch in der Nase habe, den kaltfeuchten Geruch nach moderndem Laub, nach Schimmel und sauer geschwitzten Kleidern. Für eine Sekunde verschwarzt mir ihr offenes Haar den Blick, ich schließe die Augen und öffne sie wieder, und jetzt ist alles anders, jetzt duftet sie nach Badewasser, nach Shampoo und Seife, jetzt schimmern ihre Augen groß und dunkel in einem seltsam zart wirkenden Gesicht, seltsam zart, weil ihre Nase sehr ausgeprägt ist, schmalrückig, aber ausgeprägt, und die Lippen haben etwas Mulattisches, mir fällt kein anderes Wort dafür ein, mulattisch, und nun sehe ich es: Es ist der ungewöhnlich ausgeprägte Amorbogen, der der Oberlippe etwas Geschürztes, etwas Hochgezogenes gibt, eine winzig kleine Ähnlichkeit, nichts sonst. Sie lächelt mir zu. Die Schneidezähne stehen irritierend schief in ihrem Mund.
„Ein schönes Mädchen, nicht wahr? Was so ein Badezimmer doch aus einer Frau machen kann!“, ließ sich Frau Hirscher vernehmen, die den Gulaschtopf vor dem Bauch trug. „Die Unterhose, die ihr Franzi geliehen hat, ist seltsam. So winzig. Trägt Ihre Tochter nur solche Unterhosen?“
Prähausner überhörte die fast schon besorgt vorgebrachte Frage. Mulatte, hatte dieser Begriff inzwischen nicht einen rassistischen Beiklang, war das nicht ein Wort, das von Mulo, von Maultier, herkam? Er atmete tief durch und deutete noch einmal einladend auf den Sessel, der ihm gegenüberstand. Es brauchte aber noch eine weitere Aufforderung von Frau Hirscher, bis die Fremde sich setzte.
Zwei Minuten später dampfte das Gulasch in den Tellern. Obwohl Prähausner seit dem Frühstück kaum etwas gegessen hatte, vergaß er in Beobachtung der jungen Frau, zuzugreifen. Mit Hunger in den Augen schaute sie kurz auf die Speise, in der nicht nur Kartoffeln und reichlich Fleisch, sondern auch Karotten und Petersilie schwammen, dann nahm sie den Löffel.
„Mahlzeit. Lassen Sie sich’s schmecken!“, sagte Frau Hirscher und schob der Fremden den Korb mit dem Brot zu. Sie nahm ein Stück, dann führte sie ihren vollen Löffel zum Mund, ganz ohne zu spritzen oder auch nur zu tröpfeln. Was würde Hubert sagen, wenn er diese Oberlippe sehen könnte, die Art, wie sie sich über dem Löffel aufwirft? Seit er hier ist, hat er kein einziges Mal über unsere gemeinsame Vergangenheit gesprochen, er redet immer nur über technische Neuerungen, über die Zukunft. Seine Stimme ist über die Jahre stickig geworden, stickig und dumpf, sie kommt aus seinem Mund wie aus einer drückend niedrigen Kammer. Nur wenn er über seine Innovationen spricht, lüftet er vorher das innere Gelass, und dann hört sich alles, was er sagt, frisch und unverbraucht an. Er ist einer der ersten gewesen, die damals auf das Internet gesetzt haben, er hat all die Entwicklungen richtig vorhergesagt und behauptet auch jetzt, über alles Kommende Bescheid zu wissen. Nur dass die Zukunft heute eine andere ist als in den 1990er Jahren, dass man kein Visionär mehr sein muss, um sich eine Welt ohne gedruckte Zeitungen vorstellen zu können. Aber Hubert tut so, als wüsste er Bescheid, muss so tun, um sich selbst verheimlichen zu können, dass er nicht zurück nach Österreich gegangen ist, um einem alten Freund mit einer revolutionären App aus der Bredouille zu helfen; Hubert hockt doch längst nicht mehr vor dem Computer, er hockt nur noch tief in sich selber drinnen, und die Erinnerung an bessere Zeiten schimmert bildschirmhaft vor seinem inneren Auge. Damals dieses kantige, fast immer blond verstoppelte Kinn, heute ziehen sich Backentaschen voller Fett bis hinunter zum Hals, das kann selbst der modisch-graue Vollbart nicht vertuschen – aber wer weiß, was er über mich denkt, darüber, dass ich inzwischen fast vollständig ohne Muskeln auskomme, dass ich ohne mein Bier in einer Woche verhungert wäre und dass mein Hinterkopf nicht mehr in einen Pferdeschwanz ausläuft, sondern in eine Drachenschnur. Allein Huberts wegen ist es mir aufgefallen, Huberts wegen, der vor Kurzem angekündigt hat, doch nicht weiter nach Wien zu ziehen, sondern in dieser „schnuckelig-schönen Touristenstadt“ bleiben zu wollen, um gemeinsam mit mir den Zeitungsmarkt aufzumischen, warum gerade den Zeitungsmarkt, hat er vielleicht doch eine Zukunft?
Erst die Paprikaschärfe des Gulaschs belebte Prähausner wieder für die Gegenwart. Er blickte zu der Fremden hinüber, die ihren Löffel ausgesprochen manierlich führte. Ihr sattfeuchtes, nicht eben leises Schmatzen hingegen wirkte irritierend, besonders auf Frau Hirscher, deren Stirne sich in vorwurfsvoll-feine Falten legte. Die junge Frau aß drei gestrichen volle Teller und ließ fünf Scheiben Brot verschwinden; Prähausner spülte sich mit drei Bieren frei von Erinnerung. Es war gut, nicht allein an diesem Tisch zu sitzen, gut, jemandem beim Essen zuzusehen, und es war schön, dass Frau Hirscher nach fast zehn Jahren Nachbarschaft das erste Mal in seiner Wohnung war. Nicht zuletzt tat das Gulasch gut, viel besser jedenfalls als der Mozzarella, als dieser kühlschrankkalte, weißfleischige Mozzarella, der eigentlich nur dann richtig schmeckte, wenn es Sommer war.
Nachdem der Topf geleert war, machte sich wohlige Entspannung im Wohnzimmer breit. Frau Hirscher lobte den Appetit der jungen Frau, die sich zurückgelehnt hatte, das selige Lächeln einer wahrhaft Satten im Gesicht.
Prähausner räusperte sich, es war ihm danach, so etwas wie eine Konversation nach Tisch zu beginnen. Gab es unter Schwerhörigen, unter Gehörlosen vielleicht ein besonderes Zeichen für derartige Gelegenheiten, ein visuelles Räuspern sozusagen? Während der Journalist noch überlegte, kam von der jungen Frau ein langes Gähnen, ein so hingebungsvoll lautes Gähnen, dass ihr Frau Hirscher sofort mit dem Finger drohte: „Das ist keine Art! Halten Sie sich wenigstens die Hand vor den Mund!“ Gleich demonstrierte Prähausners Nachbarin das richtige Benehmen, ohne Reaktion von Seiten der Fremden allerdings. Ihr Körper verstummte gerade, ihre Hände liegen auf dem Tisch und machen kein Geräusch mehr. Das Gesicht wird still, nur ihre Zungenspitze streicht noch für einen Augenblick über die Oberlippe, über den Amorbogen. Dann legt sie den Kopf etwas zurück, ihre Augen schließen sich, und nun ist kein Laut mehr, es ist etwas Schalldichtes um sie, um mich, ich stecke meinen Kopf in einen Kubus mit schmutzigweißen Bordwänden, zerkratzt und zerschunden von zahllosen Lasten. Einige Zurrgurte am Boden, und in einer Ecke ein Haufen zerwühlter Herrenmäntel, einige davon mit Krägen aus Kunststoffpelz. Direkt neben mir steht Hubert, er öffnet den Mund, ohne etwas zu sagen, er meint später, dass ich minutenlang in den Lastwagen gestarrt habe, ohne mich zu rühren, dass ich durch seine Fuchtelhand hindurchgesehen, dass ich erst reagiert habe, als er heftig an meinem Pferdeschwanz gezogen hat, und ich erinnere mich tatsächlich an eine Art von Klingelschmerz in der Kopfhaut, an ein heftiges haptisches Schrillen, das mich alarmiert herumfahren lässt, ich erinnere mich, wie ich hineinlaufe in den Wald, ohne auf Hubert zu hören, der hinter mir ist. Ich renne in immer größer werdenden Kreisen um die Lastwägen herum durch den schmutzig getretenen Schnee, da sind die Fichten rund um die morastige Senke und da ist der Wind, der kalt den Hang herunterzieht.
„Sie muss ins Bett.“ Frau Hirschers Stimme kam aus weiter Ferne, aus dem weiß gestrichenen Technikerraum eines Aufnahmestudios, vor dessen Mikrofonen sich Prähausner sitzen sah, sitzen, ohne zu wissen, wie er es sagen, wie er beginnen sollte.
Er merkte, dass ihm der Schweiß auf der Stirne stand. Das pfefferscharfe Gulasch hatte seine Zunge in einen brennenden Lappen verwandelt. Dieser Lappen schmerzte, als er sagte: „Wäre es nicht besser, wenn die Frau doch oben in Ihrer Garçonnière schlafen würde? Ich weiß nicht, ob sie sich wirklich wohlfühlt, wenn sie hier ganz alleine mit mir …“
„Das ist ihr durchaus zuzumuten“, bestimmte Frau Hirscher. „Meine Wohnung ist klein und hier hat sie ein eigenes Zimmer.“ Sie stand entschlossen auf. „Sie können mich ja anrufen, wenn es Probleme geben sollte. Gute Nacht!“