Читать книгу Unerhörte Nachrichten - Christian Müller Lorenz - Страница 15
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ОглавлениеParkraumbewirtschaftung. Noch vor ein paar Wochen wäre das Thema als Aufmacher gut gewesen, jetzt gehörte es eigentlich ganz nach hinten. Prähausner hatte es trotzdem auf Seite drei platziert, hatte sich zwei Stunden Zeit genommen, um zu erfahren, dass zu den sogenannten „Blauen Zonen“ gebührenpflichtige grün markierte Areale hinzukommen würden. Das sollte einen Teil der täglich zehntausendfach in Richtung Stadtzentrum drängenden Pendler dazu bewegen, ihr Auto stehen zu lassen und die Öffis zu benutzen.
„Sie schreiben ja überhaupt nichts anderes mehr“, hatte Frau Hirscher sich am Vorabend bei Prähausner beklagt. „Flüchtlinge hier, Flüchtlinge dort. Ich kann es nicht mehr hören.“ Am Nachmittag war sie zusammen mit Mara von „Pontius zu Pilatus“ gerannt, weil sie der Meinung gewesen war, die Sache gehöre geordnet, Mara müsse nach drei Tagen in Prähausners Wohnung doch endlich den Behörden gemeldet werden, und so sei sie mit der Fremden zur Polizei gefahren. Dort seien sie durch weite, hallende Gänge gelaufen, und das anfangs noch so selbstbewusst-laute Knallen von Maras Stöckelschuhen sei immer leiser und zaghafter geworden, und das reichlich aufgetragene Rouge und der Lippenstift hätten aus ihrem blass gewordenen Gesicht gegrellt, als sie einer Gruppe von Beamten begegnet seien. Die junge Frau habe sich an ihre, Elfriede Hirschers, Hand geklammert, und nichts sei mehr zu spüren gewesen von der Freude, die sie während der Busfahrt ausgestrahlt habe und während des kurzen Spaziergangs durch einen Park bis zum Hauptgebäude der Polizei. Und dann sei eine Beamtin mit einem Schäferhund aus einem Dienstzimmer gekommen, sicherlich ein bestens erzogenes und denkbar kurz angeleintes Tier, aber Mara sei trotzdem schockstarr gewesen vor Angst, sie habe sich erst wieder rühren können, als der freundlich schwanzwedelnde Hund und sein Frauchen hinter der nächsten Ecke verschwunden seien. Derart eingeschüchtert sei die arme Mara gewesen, dass sie kaum zu bewegen gewesen sei, den ihnen genannten Raum zu betreten.
Und dann habe der zuständige Beamte, ein müde aussehender junger Mann mit einem blonden Backenbart, unanständig lange auf Mara gestarrt, er habe sogar gefragt, wie sie zu ihrem teuren Kostüm und der Markenhandtasche gekommen sei, bevor er mehrere Schlucke aus einer riesigen Kaffeetasse genommen habe, im ganzen Büro habe es aufdringlich nach Kaffee gerochen. Der Polizist habe sich mit einem Stoßseufzer zurückgelehnt und sie, Elfriede Hirscher, gebeten, in zwei oder drei Wochen wiederzukommen. Er könnte wegen totaler Überlastung im Moment nichts für sie tun. Herrenlose Flüchtlinge gebe es derzeit zuhauf.
„Herrenlose Flüchtlinge? Aber hören Sie mal! Unsere Mara ist doch keine streunende Hündin!“, habe sie sich empört. Der Beamte habe sich mit einem erschöpften Lächeln entschuldigt und sie gebeten, Mara vorerst weiterhin zu versorgen. Sie, Elfriede Hirscher, erweise den überforderten Behörden damit einen großen Dienst.
Annabel, die rückenkrumm vor ihrem Bildschirm saß und gerade die Druckversion des Bürgermeister-Interviews redigierte, murmelte ein „Herein“, als es klopfte. Die Türe ging auf, und zur Abwechslung schlappte einmal nicht Hubert ins Büro, sondern der Gebirgsjäger kam herein. Beeindruckende 1,93 Meter groß, strammte er vor den Schreibtischen. Das Deckenlicht ließ seinen roten Vollbart aufleuchten und spiegelte sich in seiner Glatze.
„Johannes!“ Annabel sprang freudig auf und fiel ihm um den Hals, trotz seines Geruchs, der ihren Latschenduft regelrecht zersäuerte. „Setz dich! Wie geht es dir?“
Der Jäger ließ sich auf ihren Sessel sinken, mit einem zufriedenen Seufzen. Nach zwei Tagen im Dauereinsatz sah er erstaunlich gut aus; kein bisschen übernächtigt, lächelte er Prähausner lässig zu.
„Gut geht’s. Alles paletti. Ich müsste mich bloß mal duschen.“
„Kommst du direkt aus dem Wald?“ Die Röte der Aufregung spielte über Annabels Wangen. Sie stand neben Johannes und hatte ihre Hand auf seine Schulter gelegt.
„Ja. Ich muss mal ordentlich futtern. Und mich nach Zecken absuchen.“
„Zecken, igitt!“ Annabel zog ihre Hand zurück. „Du bist mir einer. Verkriechst dich einfach in einem Laubhaufen.“
„Ist nicht einfach ein Laubhaufen. Ich hab ein Loch ausgehoben und eine Art Kuppel aus Ästen drübergebaut. Dann habe ich die Notfalldecke draufgelegt. Dann wieder Äste drüber und Laub.“
„Warum die Aludecke? Wird es da drunter nicht viel zu warm?“, ließ sich Prähausner vernehmen.
„Schon. Aber das verhindert, dass sie dich mit Wärmebildkameras aufspüren. Du schwitzt wie ein Schwein, aber sie tapsen rund um dich herum und finden dich nicht. Trotzdem habe ich das Biwak gewechselt. Ich habe das Gefühl, dass sie kapiert haben, dass der Informant nicht aus ihren eigenen Reihen stammt.“ Wieder grinste er in Annabels Richtung. „Ich hab eine Zeckenzange. Zupacken und dann nach rechts, damit der Kopf mitgeht!“ Er machte eine Drehbewegung in der Luft, dann hörte er auf zu grinsen und wurde ernst. „Der Zaun ist schon fast zwei Kilometer lang. Sie haben an drei verschiedenen Stellen zu bauen angefangen, und jetzt dauert es noch ein, zwei Tage, bis die Abschnitte miteinander verbunden sind. Sie hauen auch Pfade in den Wald. Für die Wachmannschaften. Zwei der vier Mannschaftsquartiere sind schon belegt.“
„Ableitner behauptet, dass das Unterkünfte für die Flüchtlinge sind. Er hat sich off records ziemlich aufgeregt – über unsere unverantwortliche Berichterstattung“, sagte Prähausner.
„Könnte ich bitte einen Kaffee haben? Einen Verlängerten?“, bat der Gebirgsjäger Annabel. Die Kollegin nickte übertrieben diensteifrig und huschte aus dem Zimmer.
„Tut der Herr Bürgermeister nur so, oder weiß er wirklich nicht, was abgeht?“ Johannes lehnte sich zurück, eine Haltung, die nicht zur seiner plötzlich angespannten Stimme passte. „Es sind massenweise Journalisten und Kamerateams auf der deutschen Seite der Grenze, aber sie bekommen keine aussagekräftigen Bilder, weil hinter jedem zweiten Baum ein Soldat steht. Ein Kamerateam aus der Schweiz hat es von der Straße aus versucht. Sie sind mit sanfter Gewalt wieder auf den Asphalt befördert worden. Und ich hab den Trubel genutzt und bin raus.“
Das Redaktionstelefon begann zu klingeln. Der Gebirgsjäger musste seiner Stimme, die hoch, fast ein wenig fistelig war, Nachdruck verleihen, um sich verständlich zu machen: „In der Nähe der Grenzbrücke steht ein verlassener Bauwagen. Da habe ich die Kleider gewechselt, und jetzt bin ich hier.“
„Kleider gewechselt, wieso?“ Annabel, die wieder ins Büro gekommen war, kellnerte Johannes eine Tasse auf den Schreibtisch. Trotz des Kaffeedufts hing der Schweißgeruch des Jägers weiterhin sauer im Raum.
„Weil ich im deutschen Tarnfleck nicht über die Grenze kann. Die Uniform ist auf dem Gepäckträger meines Fahrrads. Müsste mal gewaschen werden.“ Er wollte Annabel auffordernd zugrinsen, aber sie schlüpfte schon an ihm vorbei zum Schreibtisch und nahm ab. „Ja. Ah, guten Tag. Einen Moment bitte!“ Das Telefon in der Hand, lief sie erneut aus dem Zimmer.
„Was passiert, wenn sie wirklich nicht aufmachen? Wenn sich diese sogenannten Deutschkonservativen durchgesetzt haben? Wenn die anderen europäischen Staaten sich daran ein Beispiel nehmen und keine Flüchtlinge aufnehmen? Was meinst du?“, fragte Prähausner den Gebirgsjäger.
„Tja, dann haben Uniformierte aller Couleur wohl wieder Konjunktur“, antwortete Johannes mit spöttisch geschürzten Lippen. „Dann kann ich mir mein Studium mit ein paar Stunden Wacheschieben finanzieren. Deswegen wollte ich …“
„Das war jemand wegen dieser Kundgebung“, unterbrach ihn Annabel, die erneut ins Büro kam. An Johannes gewandt, fuhr sie fort: „Die Sozialverbände wollen eine Demo für Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft und Respekt abhalten. Diesseits und jenseits der Grenze. Gehst du da am Montag hin? Wir können hier unmöglich weg. Wir haben so viele Anrufe und Anfragen, dass wir überhaupt nicht wissen, wie wir die Print-Ausgabe fertigkriegen sollen. Das Wochenende fällt für uns wahrscheinlich komplett aus.“
„Natürlich fahre ich. Aber dazu sollte die Uniform trocken sein und mein Bauch voll“, gab der Gebirgsjäger zurück. Jetzt erst führte er die Kaffeetasse an den Mund, dafür nahm er gleich mehrere kräftige Schlucke. „Ah, gut. Das ist ein Service. Aber was anderes: Ich liege seit zwei Tagen im Wald und liefere kein schlechtes Material, oder? Da sollte ein bisschen mehr drin sein, finanziell meine ich.“
„Klar“, sagte Prähausner. „Zehn Euro pro Foto sind ein Witz. Wir stellen dich erst mal für … für zwanzig Stunden an.“
„Vierzig“, konterte der Jäger. „Ich brauche das als Schmutzzulage. Sonst muss ich ein paar Bilder an die Kollegen vom Schweizer Fernsehen verkaufen. Die Schweizer haben alle gedient, die wissen, was es heißt, sich an eine Gruppe plauschender Offiziere heranzurobben und das Mikro in Stellung zu bringen. Außerdem ist wohl erst mal nichts mit meinem Studium. Das muss ich irgendwie kompensieren.“
Prähausner brach der Schweiß aus. Trotzdem brauchte er kaum zwanzig Sekunden, bis er einknickte. „Na gut. Damit verdienst du genauso viel wie Hubert. Und mehr als der Chefredakteur, der hat nämlich offiziell nur dreißig Stunden.“
„Und ich habe bloß achtundzwanzig“, fügte Annabel unwillig an. „Seit dieser Wahnsinn hier angefangen hat, komme ich überhaupt nicht mehr nach Hause. Ich kann das nicht alles alleine machen. Wir brauchen Leute!“
Prähausner wischte sich den Schweiß von der Stirn. Jetzt rächte sich die Sache mit Ines. Sie hat Hubert weichen müssen, ist trotz ihres Engagements den Kosten der App zum Opfer gefallen. Ines, die ähnlich gewissenhaft und fleißig gearbeitet hat wie Hertha, aber ganz ohne ihre penetrante Art, ganz ohne die Angewohnheit, für alles und jedes Statistiken, Tabellen und Listen zu führen, Bilanzen selbst noch für den Verbrauch von Bleistiften zu erstellen, achtundfünfzig Bleistifte im einen, sechsundvierzig im anderen Jahr, wie kann das sein? Sind achtundfünfzig Bleistifte für drei Festangestellte und zwei freie Mitarbeiter nicht viel zu viel? Wer verbraucht heutzutage schon noch einen oder zwei ganze Bleistifte im Monat? Herthas Verdacht ist berechtigterweise auf mich gefallen, ich bin ja der allerletzte Journalist in Österreich, der bei einem Interview nicht Laptop oder Smartphone, sondern Block und Bleistift auspackt. Was bin ich froh gewesen, als sie endlich zu der Aufzugsfirma gewechselt ist, was bin ich verzweifelt gewesen. Zu Herthas Zeiten haben wir immer positiv oder zumindest ausgeglichen bilanziert. Und jetzt weiß ich nicht einmal mehr, wie viele Bleistifte ich pro Jahr verbrauche. Manchmal kaufe ich mir sogar welche mit Radiergummi, es gefällt mir, dabei an Hertha zu denken, die das niemals zugelassen hätte, ach Blödsinn, das hätte ich natürlich gerne, ich hätte gerne einen Drachen, der für alles, was schiefgeht, verantwortlich ist, ich hätte jetzt gerne jemand, der mir die Entscheidung abnimmt.
„Okay, okay. Im Moment … im Moment sollten wir wirklich nicht sparen. Ihr kriegt beide vierzig Stunden, auf zwei Monate.“
„Wow!“ Annabel, die wieder ganz in der Nähe des Gebirgsjägers stand, strahlte. Sie sah plötzlich wieder so jung aus, wie sie war. „Da werden mir ein paar Hunderter übrigbleiben. Ich könnte direkt mal in den Urlaub fahren. Am besten irgendwohin, wo es keine Flüchtlinge gibt!“, rief sie ins abermalige Klingeln des Redaktionstelefons hinein, dann scheuchte sie Johannes von ihrem Sessel, setzte sich und nahm ab.