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„Hallo Papsi! Wo warst du so lange?“ Franzi rutschte von der Couch, als Prähausner das Wohnzimmer betrat. Im Schlafanzug tappte sie auf den Journalisten zu. Er drückte sie an sich, küsste ihr traumverwirrtes Gesicht und sog ihren Geruch ein, ihren Nachtgeruch, den sie schon als kleines Kind gehabt hatte, einen Geruch nach Bettwärme, Schlaf und der süß schmeckenden Kinderzahnpasta mit dem Mammut auf der Tube, die sie noch immer benutzte. Es war 3 Uhr nachts.

„Tut mir leid, Franzi, es war die Hölle los. Es ist etwas Unglaubliches passiert. An der Grenze.“

„Ist das wegen dem Zaun, den sie bauen?“

Prähausner ließ seine Tochter los. „Woher weißt du davon?“

„Von deiner App. Ich habe zusammen mit Mara geschaut. Ich habe den Beitrag sofort geteilt.“

„Danke, Franzi. Die App … sie funktioniert wirklich gut.“ Prähausner war plötzlich schwankig zumute. Er hielt sich an der nächstbesten Sessellehne fest und kam zu dem Schluss, dass er seit vierzehn Stunden weder gegessen noch getrunken hatte und dass er zumindest die Flüssigkeitsaufnahme schleunigst nachholen sollte, wenn er morgen wirklich noch vor acht wieder in der Arbeit sein wollte, nein musste, denn Hubert, der am Abend ins Büro gekommen war, um Annabel abzulösen, konnte unmöglich bis in den Vormittag hinein durchhalten; aufgekratzt, wie er seit Stunden war, brach er immer wieder in unkontrolliertes Gelächter aus, und das selbst dann, wenn er mit einer großen Agentur telefonierte, so wie vorhin, als die BBC angerufen hatte. Woher die Infos, die Bilder, die Mitschnitte denn kämen? Ob es glaubhaftere Quellen gäbe als das Gestotter dieses Provinzbürgermeisters?

Das deutsche Verteidigungsministerium wiegelte ab; Truppenbewegungen an der Südgrenze gebe es nicht, die Fotos und Filmchen seien wohl bei einer Übung der Gebirgspioniere aufgenommen worden und der kurze Gesprächsmitschnitt der beiden Offiziere wahrscheinlich eine Fälschung.

„Paps? Geht’s dir nicht gut?“

„Doch, gut. Sehr gut. Ausgezeichnet sogar“, sagte Prähausner, bevor er auf den Sessel kippte, den ihm seine Tochter unter den Hintern schob.

„Mam hat recht. Du bist immer viel zu lange in der Arbeit. Warte, ich hol dir ein Bier.“ Die Besorgnis schien Franzi wieder munter gemacht zu haben. Sie lief in die Küche, und Prähausner hing auf seinem Sessel und starrte auf die Couch, wo der Schlafhase meiner Tochter verstört neben dem Kopfpolster sitzt. Ich habe das Tier mit den übergroßen Augen und den zerfransten Ohren noch nie wirklich leiden können, ich weiß nicht warum, und jetzt erinnert es mich absurderweise an Hubert und sein hysterisches Lachen. Da ruft einmal im Leben die BBC bei den Neuesten Grätzelnachrichten an, und dann geht ausgerechnet Hubert, dessen Englisch in den letzten Jahrzehnten regelrecht erodiert ist, an den Apparat, major, Bürgermeister, spricht er aus wie einen militärischen Titel, und wenn er etwas nicht verstanden hat, sagt er nicht can you repeat it, sondern can you say it again. Schon auf der Fahrt nach Bosnien hat er nicht wenige seiner Gesprächspartner mit diesem Englisch verstört, und Marina hat sich oft darüber lustig gemacht, Marina, die sich damals gerade eine Fremdsprache nach der anderen angeeignet hat, Kassette in den Walkman, Kopfhörer aufgesetzt, ganz gleich, ob sie in der Stadt unterwegs gewesen oder am Herd gestanden ist, Marina, die nie Vokabeln gelernt hat, die sich scheinbar niemals hat anstrengen müssen: Marina wird bereits mitbekommen haben, was hier unten los ist.

„Hier, trink.“ Franzi stellte nicht nur eine, sondern zwei Flaschen auf den Tisch, dann verschwand sie wieder in der Küche. Das Bier war wunderbar kalt; mit gierigen Schlucken kühlte Prähausner sein überhitztes Inneres herunter, bis die erste Halbe leer war und er sich fragte, was es mit Hubert und dem Hasen auf sich hatte, und die BBC wollte sich morgen Vormittag noch einmal melden, schon allein deshalb, weil der Gebirgsjäger ständig neue Fotos schickte, zuletzt von Militärlastwägen, die im schwindenden Abendlicht an einem Fluss entlangfuhren. Es konnte irgendein Fluss sein, Johannes konnte sich das alles ausgedacht und zusammenkopiert haben, aber das war nicht wahrscheinlich, wahrscheinlich war, dass ausgerechnet die Neuesten Grätzelnachrichten Bilder und Schlagzeilen lieferten, die nicht nur die großzügig aufgerundeten 450 lokalen Stammleser der neuen App, sondern spätestens morgen früh Millionen und Abermillionen von Menschen auf den Bildschirmen haben würden, von Hammerfest bis Hurghada und von Kabul bis Casablanca.

Prähausners erneut einsetzender Schwindel verging, als ihm Franzi Käsebrote servierte, eine aufgeschnittene Karotte und eine offene Dose mit Gemüsemais. Obwohl er nicht den geringsten Hunger verspürte, aß er fügsam, und als seine Tochter sich zu ihm setzte, sah er Ibrahim und seine Cousins, die an der Grenze warten, Tag um Tag auf den Augenblick warten, in dem die Deutschen das Brückentor öffnen; zwischen die Bäume des Auwalds gedrückt, warten sie unter kaltem Regen; sie warten unter rasch zusammengeklopften Brettern, unter Plastikplanen, Dachpappe, Schalungstafeln. Ibrahims weißes Hemd hängt ihm tagelang, wochenlang am Leib, es dunkelt nach, wird stockfleckig und feucht; das Warten zermürbt die Baumwolle, immer liegt sie klamm und kalt auf der Haut, und irgendwann reißt das Gewebe ein, es löst sich unter den Achselhöhlen auf, die Knöpfe springen ab, und nun ertragen es er und seine Cousins nicht länger. In einer mondlosen Nacht schwimmen sie durch den Fluss, nass und zitternd kriechen sie die Böschung hinauf und versuchen, sich unter dem Rasiermesser-Zaun hindurchzuwinden. Ibrahims Hemd geht dabei in Fetzen, der Stoff saugt sich voll mit Blut, aber er kriecht weiter, hinein nach Deutschland, wo er sich immer noch willkommen glaubt, am Ziel.

„Schmeckt’s dir nicht?“ Die angewinkelten Beine vor die Brust gezogen, saß ihm Franzi gegenüber.

Prähausner merkte, dass er zwar kaute, aber auf das Schlucken vergessen hatte. Hastig holte er es nach. Als sein Mund wieder frei war, sagte er: „Schmeckt gut, vielen Dank, Franzi. Was ist mit Mara? Wie hat sie auf die Bilder von der Grenze reagiert?“

„Sie ist gleich ganz ernst geworden und hat auf sich selbst gedeutet und dann auf den Bildschirm. Sie hat das Handy genommen und die Fotos, auf denen Menschen gewesen sind, größer gezogen. Ganz konzentriert ist sie gewesen.“ Franzi erzählte, dass die Fremde das Smartphone nach ein paar Minuten zur Seite gelegt habe und aufgestanden sei. Sie habe eine Figur neben sich in die Luft gezeichnet, zweifellos einen Mann, denn Mara habe sich einen Schnauzer ins Gesicht gemalt, und nicht nur einen Schnauzer, sondern auch eine ziemlich große Nase. Der Mann sei ganz bestimmt nicht dick, sondern eher dünn und ein wenig kleiner als Mara und habe vielleicht deswegen eine Vorliebe für Schuhe mit eher hohen Absätzen, die sich Mara mehrmals unter die Fersen gekeilt habe. So habe sie, Franzi, binnen einer halben Minute ein ziemlich deutliches Bild von ihm erhalten. Nur ob der Mann ein Transpirationsproblem oder eine Vorliebe für Deos habe, oder ob ihn Mara dazu habe erziehen wollen, Deos zu benutzen, sei nicht richtig rübergekommen. Zu schnell hintereinander habe sich Mara ihre Nase unter die Achsel gesteckt, das Gesicht verzogen und anschließend einen Sprühstoß aus Luft in ihre Achselhöhle gegeben.

„Das hat sie dir alles erzählt?“, fragte Prähausner verblüfft.

Franzi antwortete stolz, dass sie noch mehr zu berichten habe. Dass Mara, als der Mann fertig dagestanden sei, ihre beiden Zeigefinger kurz aneinander gerieben, und sich, da sie nicht gleich verstanden worden sei, einen Ring aus Luft an den Finger gesteckt habe. „Sie ist verheiratet, Paps!“, triumphierte Franzi. „Und sie haben gestritten!“ Mara nämlich habe ängstlich auf den gezeichneten Mann geschaut und ihre Fäuste mehrmals gegeneinandergestoßen, habe sich geduckt und sich ihre Hände schützend vor ihr Gesicht gehalten. Der Luftmann habe heftig nach ihr getreten, aber sie habe sich verteidigt. Mit Wutgekeuche sei Mara auf ihn losgegangen, habe ihm ihr Knie in den Unterleib gestoßen, habe dann aber ihr Gesicht in plötzlichem Schmerz verzogen. Sie sei gekrümmt vor ihm auf dem Boden gesessen und habe sich Tränen auf die Wangen gezeichnet, aber nur für einen Augenblick, denn dann habe sie mit einem Mal wirklich zu weinen angefangen, sie habe geschnieft und sich in das Taschentuch geschnäuzt, das sie, Franzi, ihr gegeben habe.

„Unglaublich! Vielleicht ist sie wirklich geschlagen worden. Dann hätte Frau Hirscher recht gehabt“, rief Prähausner kopfschüttelnd aus. „Was hat sie noch erzählt?“

„Nichts mehr. Das alles hat sie ziemlich mitgenommen. Sie hat mir noch den Bluterguss auf ihrem Bein gezeigt. Dann ist sie ins Bett gegangen – ohne Zähneputzen. Sie putzt sich nie die Zähne. Ist dir das schon aufgefallen?“, fragte Franzi mit missbilligend kraus gezogener Stirn. Als Prähausner verneint hatte, wechselte seine Tochter das Thema: „Bauen die Deutschen echt einen Zaun?“

„Gut möglich. In Deutschland gibt es seit ein paar Monaten diese sogenannten Deutschkonservativen. Noch sind sie ein Teil der Partei, der der deutsche Bundeskanzler angehört. Sie haben ihn in den letzten Monaten ziemlich unter Druck gesetzt. Aber eigentlich weiß ich nur, dass ich um acht wieder im Büro sein muss. Die Fotos sind nämlich von uns. Alle.“

„Echt? Von den Nachrichten?“ Franzi stellte ihre Füße auf den Boden. „Wer hat die Fotos gemacht? Du?“

„Nein. Es war ein Kollege, ein …“ Prähausners Smartphone, das neben seinem Teller lag, piepste. Der Gebirgsjäger hatte eine SMS geschickt: arbeiten wurden endgültig eingestellt. begebe mich zur ruhe. melde mich wie besprochen um 8.

Gleich darauf kam das erste Infrarot-Foto. Annabel hatte die Kamera kurz vor Geschäftsschluss gekauft und gegen 10 Uhr am Abend unweit der Grenze unter einer Bank deponiert. Das Gerät hatte Prähausner eine Stange Geld gekostet, und nun waren nur Baumschemen zu sehen und ein Busch, unter dem ein großer Laubhaufen lag.

„Was ist denn das?“, fragte Franzi, die nun neben Prähausner stand. „Das sieht aber nicht sehr besonders aus.“

„Hm, ich weiß nicht recht.“ Prähausner wischte die Aufnahme beiseite, dann suchte er nach der Weckerfunktion. „Unser Informant legt sich schlafen. Das werde ich jetzt auch machen. Danke für das Essen.“

„Bitte.“ Sie küsste ihn auf die Wange. „Und vergiss auf das Zähneputzen nicht!“

Prähausner versprach es ihr. Zähneputzen, ja, sie hatte recht, sie war bisweilen verblüffend vernünftig, das hat sie von Hertha, die Inkonsequenz nicht leiden kann. Die Zähne hatten am Morgen und am Abend sorgfältig gesäubert zu werden, Munddusche, Zahnseide, Interdentalbürsten, Zahnbürste, Zahnspülung: Immer in dieser Reihenfolge. Gegen Ende der Beziehung habe ich mir vor dem Mittagessen Zahnseide durch den Mund gezogen, ich habe mir nach der Suppe ein Stamperl Zahnspülung gegönnt und gleich nach dem Dessert die Bürste eingesetzt, obwohl man nach der Mahlzeit mindestens eine halbe Stunde mit dem Putzen warten soll, besonders, wenn man etwas Saures gegessen hat. Ich habe mir am Nachmittag stundenlang mit den Interdentalbürsten zwischen den Zähnen herumgestochert und die Munddusche mitten in der Nacht angeschaltet. Das war meine Art, Hertha Kontra zu geben, mich für all ihre Demütigungen zu rächen. Franzis Sinn für die richtige Reihenfolge ist dadurch nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Ich muss sie nie dazu ermahnen, sich vor dem Schlafengehen die Zähne zu putzen, eher ist es umgekehrt. Vielleicht kommt ihr zwanghafter Zugang zur Zahnhygiene ja wirklich von meiner anarchischen Art, vielleicht habe ich Franzi tatsächlich verstört? Hertha zumindest sieht es so. Sie hat versucht, dem Kind einen Alltag anzutrimmen, in dem Schlamperei und Nachlässigkeit nicht vorkommen. Aber Franzi wehrt sich, Franzi lässt sich die Nasenflügel durchstechen und nicht die Ohrläppchen, oh, ihr Näschen ist noch immer rot entzündet, es sieht aus, als sei sie stark verschnupft.

Ob Ibrahim und seine Cousins Zahnbürsten in ihren Rucksäcken haben? Sitzen sie abends unten am Fluß, tauchen sie die Bürsten in das Wasser und putzen sich dann, hinüber zum Land ihrer Träume blickend, die Zähne, oder reinigen sie sich die Zahnzwischenräume eher mit Holzstückchen, so, wie der Prophet Mohammed das vorgelebt hat? Sind Flüchtlinge, die Munddusche, Zahnseide, Interdentaldusche, Bürste, Zahnspülung benutzen, besser als jene, die islamische Mundhygiene machen?

Prähausner merkte, dass er aufgestanden, dass er ganz in Gedanken zur Türe gegangen war. „Gute Nacht. Schlaf gut, Franzi“, murmelte er und schaltete das Licht aus. Was fehlte als erstes, wenn das gesellschaftliche Ordnungssystem ins Kippen geriet? Zahnpasta? Würde dann noch jemand seinen Köter an die Leine legen? Den Hundedreck in ein Plastiksackerl packen? Unfähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen, ging er ins Bad. Das Zähneputzen würde ihn nicht nur hygienisch, sondern auch mental auf die dringend benötigte Ruhe vorbereiten. Fraglich nur, ob er danach tatsächlich würde einschlafen können.

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