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„Morgen. Hast du’s schon gehört?“ Annabel stand mit dem Redaktionstelefon in der Hand vor ihrem Schreibtisch. „Ich habe gerade mit unserem Gebirgsjäger geredet. Ich wollte ihn hinschicken, aber er hat einen Termin auf der Uni. Bald ist Semesteranfang.“

„Was? Wen? Wen wolltest du schicken?“ Prähausner, der eine Stunde später dran war als gewöhnlich, stellte den Rucksack neben seinen Schreibtisch und zog die Jacke aus.

„Na, wen wohl. Johannes.“ Sie steckte das Telefon zurück in die Ladestation und strich sich ihr lockiges Brünett mehrmals mit der Hand zurück, wie immer, wenn sie aufgeregt war.

„Ach so, den Gebirgsjäger. Was ist passiert? Ist jemand abgestürzt oder so?“ Prähausner setzte sich und schaltete seinen Computer ein. Das gewohnte Summen erst gab ihm das Gefühl, im Büro angekommen zu sein.

„Sag bloß, du hast es noch nicht mitgekriegt? Vor zwei Stunden ist es das erste Mal gemeldet worden. Überall!“ Annabel lachte ungläubig. Sie setzte sich in gewohnt rundrückiger Haltung wieder an ihren Schreibtisch, der so nahe an Prähausners Arbeitsplatz herangeschoben worden war, dass sich die Längsseiten der Tischplatten berührt hätten, wenn nicht die Bildschirmkabel dazwischen hindurchgeführt worden wären.

„Nein, habe ich nicht. Ich habe noch keine Zeit gehabt, die Nachrichten zu scrollen.“

„Mal wieder Hertha“, stellte Annabel trocken fest. „Vier, fünf Jahre noch, dann hast du sie endlich los. Dann ist Franzi erwachsen.“

„Ja“, sagte Prähausner, der von den Ereignissen der Nacht noch halb benommen war. Selbst die wichtigste Mahlzeit des Tages, sein Frühstück, hatte er ausfallen lassen.

„Verkehrskollaps an der Grenze!“, rief Annabel. „Die Flüchtlinge belagern den Grenzübergang bei Freileichtheim. Es sollen schon mehr als vierhundert dort sein! Sie weigern sich, weiter in der Tiefgarage zu übernachten. Alle wollen vom Bahnhof zur Grenze. Die Polizei holt immer wieder welche von den Gleisen. Sie sind kaum zu stoppen.“

„Oje. Auch das noch“, stöhnte Prähausner. Er stützte seinen Kopf mit der rechten Hand und massierte sich mit dem Daumen kurz die Schläfe.

„Sag mal, was ist denn los mit dir?“ Annabel stand wieder auf, umrundete ihren Schreibtisch und beugte sich, echte Besorgnis im Gesicht, zu mir herunter. Ach, ich habe großes Glück mit meiner Kollegin. Sie beträufelt beinahe täglich die Zimmerpflanzen, die vor dem einzigen Fenster dschungeln, mit Wasser, sie gibt mir das schöne Gefühl, nicht in einem viel zu kleinen Büro, sondern im Urwald zu arbeiten, einem Urwald voller exotischer Gerüche, denn sie hat auch eine Schale für Duftöle aufgestellt, Bromelienauszug, Epiphytenöl, Papayaessenz, jeden Tag fragt sie mich danach, welches Aroma ich mir heute wünsche, und immer überlasse ich am Ende die Auswahl ihr. Ich nicke höflich, wenn sie sich eines ihrer Fläschchen vor die Augen hält und mir vorliest, welche Wirkung der Duft haben soll, entspannend, belebend, ausgleichend, euphorisierend; mir ist es gleich, aber ich schaue ihr immer zu, wenn sie ihre Schale beträufelt, und dann rieche ich den ganzen Tag doch nichts anderes als die Arbeit, nichts als das viele Papier, das sich hinter mir in den billigen Stellagen stapelt, Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, und, in schlecht verschlossenen Kartons, die Neuesten Grätzelnachrichten der letzten drei Jahre. Alle anderen Ausgaben, die ich verantwortet habe, setzen bei mir zu Hause im Keller Schimmel an, der Schimmel hüllt all die ehemaligen Neuigkeiten in seinen weißen Flaum, er flauscht sich zwischen die Seiten, streut seine Sporen auf die Fotos, auf die Köpfe der Politiker, Sportler, Künstler.

Jetzt erzähle ich Annabel von der Fremden, ich erzähle ihr nichts von ihrem Amorbogen und schon gar nichts von ihrem sauren Waldgeruch, sondern davon, wie die schläfrige Stille aus ihren Gliedern weicht, als ihr klar wird, dass Frau Hirscher die Wohnung verlassen hat, ich erzähle Annabel, dass die junge Frau von ihrem Sessel hochfährt und mir mit ihren Händen, ihren Armen ein einziges lautes Nein! entgegenschreit. Ich verstehe sie, ich verstehe alles, und doch kann ich ihr keine Antwort geben, vollkommene Sprachlosigkeit im Gesicht, in den Gliedern, stehe ich da und sehe sie aus dem Zimmer, aus der Wohnung rennen, und ich verschweige Annabel, dass ich mich für fünf, für zehn Minuten nicht vom Fleck bewege, dass ich der Fremden nur in Gedanken nachrenne zum Bahnhof, wo sie ihre Familie wiedertrifft oder Leute aus ihrer Stadt, Gehörlose, denen sie endlich alles mitteilen kann. Ich berichte meiner Kollegin nicht, dass ich mich erst danach dazu zwinge, hinaufzugehen in den dritten Stock und bei Frau Hirscher anzuläuten, ich berichte, dass das offene Haar der Nachbarin spinnwebgrau um ihren Kopf steht, als sie öffnet, dass sie sich aber trotzdem, noch im Bademantel, sofort auf die Suche nach der Fremden macht. Dass sie sie nur wenige Minuten später findet, weil sie nicht zum Bahnhof oder in den Park gelaufen ist, sondern schluchzend auf dem Rasen vor dem Wohnblock sitzt, die Hände verzweifelt auf das Gesicht geschlagen. Ich berichte, wie es Frau Hirscher nach längerem freundlichem Zureden gelingt, die junge Frau wieder zurück ins Haus zu führen, zurück in meine Wohnung, wo sie sich nach und nach beruhigt, als die Nachbarin Bettzeug aus ihrer Garçonnière holt, auf der Couch im Wohnzimmer ausbreitet und sich dort niederlegt.

„Warum hat der Gebirgsjäger keine Zeit?“, fragte Prähausner plötzlich. Er merkte, dass er auf den Bildschirm starrte, ohne etwas zu sehen. Kurz rieb er sich mit der Hand über die geschlossenen Augen und blickte dann noch einmal hin. Auf einem Foto konnte er die Brücke bei Freileichtheim, vor der sich zahllose Menschen drängten, erkennen. Flüchtlinge belagern Grenze stand unter dem Bild. Noch einmal rieb sich der Redakteur die Augen. Es brauchte sofort eine größere Meldung auf Grätzel-News, am besten inclusive Fotostrecke. Warum nochmal hatte der Gebirgsjäger gerade keine Zeit? Seine kleine Kolumne Aus Wald und Fels machte er wirklich gut.

„Krass!“ Annabel staunte ihn kopfschüttelnd an.

Manchmal, wenn sie solche Wörter benutzte, hatte Prähausner das Gefühl, mit Franzi im Büro zu sein. Dabei war seine Kollegin schon Mitte dreißig. „Wieso heißt die Gebirgsjägerkolumne eigentlich Aus Wald und Fels? Wer hat sich so einen Blödsinn ausgedacht?“

„Die Kolumne? Wie kommst du denn gerade jetzt da drauf? Johannes wollte das so. Er findet, dass die Leute progressive Texte eher lesen, wenn sie konservative Überschriften haben.“

„Ah ja, ich erinnere mich. Du hast die Überschrift durchgesetzt, nachdem du mit Johannes wandern warst.“

Annabel kehrte schnell hinter ihren Schreibtisch zurück. An ihrem irritierten Gesichtsausdruck merkte Prähausner, dass er sich im Ton vergriffen hatte. „Bitte entschuldige. Das alles hat mich ziemlich … ich habe kaum ein Auge zugekriegt. Außerdem brummt mir der Kopf.“

„Schon gut. Soll ich nach Freileichtheim? Die Besprechung für die nächste Print-Ausgabe fällt ja wohl aus.“

„Gute Idee. Fahr gleich hinaus. Ich rufe Hubert und Johannes an, damit wir wissen, wer was übernimmt. Vielleicht machen wir zwei Interviews an der Grenze. Eines mit einem Flüchtling und eines mit einem Caritas-Mitarbeiter. Sind die Hilfsorganisationen schon vor Ort?“

„Nein.“ Annabel hatte bereits ihre Jeansjacke vom Kleiderständer genommen. „Freiwillige schenken Tee aus und schmieren Butterbrote. Das ist bis jetzt alles.“

„Gut. Ruf mich an, wenn du dort bist.“ Er schaute ihr nach, als sie, das Täschchen mit Aufnahmegerät und Kamera in der Hand, aus dem Redaktionszimmer lief und dachte daran wie sie vor fast vier Jahren bei den Grätzelnachrichten angefangen hat, eine schlanke junge Frau, die ich sofort um ihre Neugier beneidet habe, um ihren ehrlichen Willen, alles gut zu machen, und um ihre Angewohnheit, nach zwei, drei Stunden eifriger Arbeit zu einem groben Holzkamm zu greifen, um vergeblich Ordnung in ihr Haar zu bringen, in diese Anarchie aus Locken und Löckchen, Kringeln und Krauseln, Zotteln und Zwirbeln. Wo sie den Kamm voll energischer Ungeduld durch ihre Mähne zieht, fahre ich vorsichtig damit in den Nacken, um nicht allzu viele Haare zu verlieren, um am Hinterkopf nicht noch lichter zu werden, als ich es ohnehin schon bin. Wenn ich mich um dieses Blatt bemühe, dann nur wegen Annabel, wegen ihrer Haare, die sie weiterhin kämmen soll, sie kämmt sich ihre Haare, während ich mir die meinen raufe, es ist lächerlich, ganz einfach lächerlich, was zurzeit an Anzeigen hereinkommt, jetzt geht es um unsere Existenz, um eine Zeitung, die längst keiner mehr braucht, am allerwenigsten ich selbst. Finanziell wäre es viel vernünftiger, die Nachrichten einzustellen und irgendwo anzuheuern, vielleicht, um Online-Content zu produzieren, aber nein, dazu bin ich zu alt, zu langsam und zu technikfeindlich, es wäre also am besten, das Arbeitsmarktservice aufzusuchen, ach Unsinn, das Arbeitsmarktservice wäre dann für Annabel zuständig, Hubert und mir bliebe als Selbständigen nur noch die Mindestsicherung. Ich müsste Franzi eingestehen, dass ich gescheitert bin, Franzi, die die Neuigkeit brühwarm zu Hertha tragen wird, eine wunderbare Gelegenheit für meine Ex, unserer Tochter zu beweisen, dass sie es schon immer gewusst und sich völlig zurecht von mir getrennt hat, aber Franzi ist zum Glück nicht auf den Mund gefallen. Franzi wird fragen, warum sich ihre Mam, wenn sie es schon immer gewusst hat, ein Kind hat machen lassen, es gibt doch eine Menge Möglichkeiten, Spaß zu haben und gleichzeitig Nachkommenschaft zu verhindern, die Pille, die Spirale, Kondome und natürlich die Abtreibung, die den niedlichen kleinen Embryo-Franzis absolut zuverlässig den Garaus macht, und Hilde wird sich über ihr Kind entsetzen und gleichzeitig losheulen aus schlechtem Gewissen, oh, wie ich es gehasst habe, wenn sie plötzlich zu heulen angefangen hat, sie ist wochenlang kalt beherrscht, ein Eisberg schwimmt durch die Wohnung, und dann zerfließt dieser Eisberg mit einem Mal zu Tränen und legt sich nass um deine Füße, im Nu steht dir das Wasser bis zu den Knöcheln, den Knien, es umschließt deine Hüften und läuft dir in die Hosentaschen, saugt sich in dein Hemd und füllt dir den Kragen. Du kannst froh sein, wenn du es schaffst, ein paar Schwimmzüge zu machen, wenn du oben bleibst, weil sich Hertha an dich klammert und versucht, dich hinunterzuziehen in ihr Elend, bis du darin ersäufst.

Ach Hertha, ich war ein Schiffbrüchiger im Nordpolarmeer des Lebens, ausgezehrt von der weißen Wüste der Einsamkeit bin ich auf dich zugetrieben, das Herz eine Frostbeule, und so warst du mir, südwärts ziehender Eisberg, wundervolle Rettung vor der drohenden Polarnacht der Depression. Und jetzt haben wir dieses Kind, das schon bei Minusgraden auf die Welt gekommen ist und immer noch keine Anstalten macht, zu erfrieren, im Gegenteil, es kennt nichts anderes als das Eis, es hat sich nach und nach eine so dicke Speckschicht rund um seine Seele angefressen, dass es nicht einmal dann zu frösteln scheint, wenn zwischen seinen Eltern wieder einmal der arktische Winter aufzieht.

Für Annabel mache ich dieses idiotische Anzeigenblatt, für Annabel und für Franzi und deswegen, weil ich mich ja irgendwie ablenken muss, vielleicht von mir selber, davon, dass ich mein Talent an eine Bürgerinitiative, die einen Fußgängerüberweg um dreihundert Meter versetzt haben will, verschwende, daran, dass ich mich jetzt am liebsten mit einem Bier beruhigen würde oder vielleicht sogar mit zwei. Erst ein gelungen eingeschenktes Glas durchschäumt die drückend gewordenen Tage mit Leichtigkeit, erst die Bitterkeit des Hopfens lässt mich vergessen, wie bitter das Leben doch ist.

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