Читать книгу Unerhörte Nachrichten - Christian Müller Lorenz - Страница 6
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ОглавлениеEs gibt keine Leitungen, es gibt nur diese Kratzer über der Kreuzung. Wer an der Haltestelle steht und kurz hinauf in den Himmel schaut, sieht ein wirr zerschrammtes Blau. Allein wer die Stromabnehmer der zufahrenden Busse im Blick hat, kann die parallel verlaufenden Ritzen und Riefen erkennen, die Scharten und Schrunden. Wenn der Abend kommt, wird vieles deutlicher. Blenden die Autos ihre Scheinwerfer auf, schimmern die Kratzer plötzlich blank in der Dämmerung. Dann wird eine Ordnung erkennbar, dann wird es leichter, den Schrammen zu folgen, weg vom betriebsamen Platz, hinein in die Nacht.
Prähausner stieg in den O-Bus und setzte sich an einen Platz am Fenster, der gerade frei geworden war. Das Fahrzeug ruckte an, dann blieb es wieder stehen. Durch die Hintertür, die sich noch einmal zischend öffnete, drängelten etliche Mädchen in Franzis Alter herein. Ganz in der Nähe des Redakteurs sammelten sie sich mit Gekicher im Gang. Sie griffen nach den Halteschlaufen und schwankten übertrieben stark hin und her, als der Bus endgültig anfuhr. Parfumgeruch süßelte durch das Fahrzeug. Prähausner, der noch immer Herthas hysterische Stimme im Ohr hatte, fragte sich, ob eines der Mädchen schon einmal im Piercing-Studio gewesen war. „Nasenringe! Sie hat sich nicht die Ohrläppchen durchstechen lassen, sondern die Nasenflügel. Beide!“ Herthas Stimme war aus Prähausners Telefon geschrillt, als er auf dem Weg zur Bushaltestelle gewesen war. Die teuren Ringe, die er seiner Tochter zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, silberten nun also nicht an ihren Ohren, sondern mitten in ihrem Gesicht. Er verspürte Verständnis für Hertha, das erste Mal seit Langem – trotz ihrer Überzeugung, ihn, ihn ganz allein als den Schuldigen für die Zerstörung der Stupsnase ausgemacht zu haben.
Mit einem Seufzer blickte der Journalist aus dem Fenster. Der Bus hielt eben auf dem Bahnhofsplatz, wo erst am Vortag zwei riesige Zelte zur Erstversorgung aufgebaut worden waren. Zweihundert, dreihundert vornehmlich junge Leute standen wartend davor. Viele von ihnen hatten Flip-Flops an den Füßen und trugen Tüten oder Täschchen in der Hand; sie sahen aus, als hätten sie sich nach Büroschluss spontan dazu entschieden, das ungewöhnlich warme, ja heiße Septemberwetter für einen Ausflug zu nutzen. Nein, hier wollte niemand in die Berge oder an die Seen, hier wollten alle nach Westen, nach Deutschland, doch die Grenze war für Flüchtlinge geschlossen, keine Züge fuhren mehr, keine Busse, und unten in der Tiefgarage des Bahnhofs hockten zweitausend Menschen auf Feldbetten, Isomatten, Decken oder auch nur auf dem nackten Betonboden und warteten, warteten vergeblich darauf, dass sie weiterkonnten, während mit jedem Sonderzug aus Wien ein paar hundert nachrückten.
Ein Transporter des Roten Kreuzes, der mitten auf der Straße hielt, blockierte die Weiterfahrt des Busses. Zwei Männer in warnroten Uniformen stiegen aus. Sie öffneten die Ladetüren, klappten eine Rampe auf den Asphalt und bugsierten mehrere Wägelchen voller großer Kartons ins Freie. Eine der Schachteln stürzte zu Boden. Fächerförmig platzten unzählige weiße Plastiklöffel auf die Straße. Zweitausend Menschen! Ein Artikel über die Einsatzzentralen der Hilfsorganisationen war gewiss keine schlechte Idee, ein Artikel über jene Frauen und Männer, die mit ihrer Logistik dafür sorgten, dass die Flüchtlinge satt wurden und nicht auf den Gehsteigen schlafen mussten.
Prähausner schaute wieder auf die Mädchen, die allesamt ihre blau spiegelnden Smartphones hervorgezogen hatten. Vergeblich versuchte er, einen Blick auf eine der digitalen Pfützen zu werfen in der irrigen Hoffnung, dort die kürzlich online gegangene App der Neuesten Grätzelnachrichten zu sehen, den „regionalen Mehrwert“, wie Hubert die passgenaue Werbung genannt hatte, inklusive. Zum Beispiel jetzt, im Herbst, einen Artikel über die wohltuende Kraft des warmen Wassers. Öffnete jemand den Beitrag, poppte unaufdringlich Thermenwerbung auf. Was Wellness-Anwendungen betraf, war die Grenze nicht geschlossen, man konnte für ein paar Saunagänge hinüber nach Deutschland fahren, aber wer wollte bei diesen Temperaturen schon zusätzlich schwitzen?
Ein paar Passanten eilten herbei und bückten sich nach den Löffeln. Binnen weniger Minuten lagen sie wieder in der Schachtel. Die warnroten Männer stiegen in ihren Transporter, wendeten und fuhren davon. Summend setzte sich der O-Bus in Bewegung.
Der Redakteur stieg zwei Stationen früher aus dem Bus als sonst. Er umrundete eine flussnahe Kreuzung, nein, das war keine Kreuzung mehr, sondern ein riesiger Kreisverkehr mit einem Berg aus Blumen und trocken werdenden Schilfgräsern mittendrin, und er erinnerte sich an den Chef des Gartenamts, den er vor ein paar Jahren auf den Roten Klappstuhl gesetzt und fotografiert hatte. Ein Beitrag über das Gartenamt! Wirklich ruhige Zeiten waren das damals gewesen, derart ruhige Zeiten, dass er fast schon verzweifelt nach griffigen Storys gesucht hatte. Und nun gab es nur noch ein einziges Thema, nun war das Interview mit dem Polizeisprecher bereits im Druck, und morgen landeten die neuen Gratiszeitungen in den Briefkästen, auch die App wurde gerade neu befüllt, aber wie war das eigentlich mit Huberts passgenauer Werbung? Hatte das Rote Kreuz, hatten die Diakonie oder der Samariterbund Inserate geschaltet, in denen um Spenden gebeten wurde? Alleine die Hilfsorganisation ohne Namen, die auf den Bahnsteigen belegte Brote und heißen Tee verteilte, hatte um eine Anzeige gebeten – um eine unbezahlte natürlich. Dass sich das Werbegeschäft so flau entwickelte, war eigentlich kein Wunder: Wer inserierte schon auf einer App namens Grätzel-News? Hubert hatte diesen unmöglichen Namen durchgesetzt, Hubert, der nach beinahe eineinhalb Jahrzehnten in Deutschland plötzlich bei mir in der Redaktion steht, mit einem Gesicht, das mich tief erschreckt, weil es rund um die Augen regelrecht zerknittert ist, zerknittert wie Papier, das jemand voller Wut zerknüllt und nachher wieder glattzustreichen versucht hat, und ich klopfe ihm auf die Schulter und sage, dass er sich überhaupt nicht verändert hat, dass er immer noch so dauerwellenblond ist wie früher, obwohl sich längst Reif in seine Mähne geschlichen hat. Ich überspiele meine Befangenheit und gehe mit ihm auf einen Kaffee, und über einer Mehlspeise und einem Verlängerten beginnt er mir von seiner App zu erzählen, so lange zu erzählen, bis ich das Gefühl habe, dass es ohne nicht mehr geht, nein, bis ich bereit bin, mich „auf die Zukunft einzulassen“, wie er das ausdrückt, während er die Tassen beiseiteschiebt und seinen Laptop aufklappt, um mir die Vorteile seiner Tools zu demonstrieren. Aber eigentlich weiß ich vom ersten Moment an, dass es nicht die Zukunft ist, auf die ich mich einlasse, sondern die Vergangenheit.
Und nun war Huberts Werk endlich online, nun hingen die Neuesten Grätzelnachrichten auf Gedeih und Verderb an einer teuren App, die nur fünf oder sechs Mal am Tag heruntergeladen wurde. Hatte er, Ingo Prähausner, sich wirklich für die Zukunft entschieden, oder war er dabei, seine Zeitung zu ruinieren?
Der Journalist bog in den angenehm kühlen Uferpark ein. Er knisterte durch herabgefallenes Platanenlaub in Richtung Fluss. Ein Kind von drei oder vier Jahren wühlte in den modrig riechenden Blättern; es füllte den Eimer, den seine Mutter hinter ihm hertrug, mit Kastanien, mit Augen, die nassbraun zu Prähausner heraufglotzten, als er nahe an den beiden vorüberging und einen Blick in den Kübel tat.
„Gell, Mama, die Tiere freuen sich. Wenn es kalt ist.“ Der kleine Bub hatte rote Wangen, ob vor Eifer oder wegen seines viel zu dicken Mützchens, ließ sich nicht sagen. Unentwegt bückte er sich, und selten war seine Mühe vergebens.
„Ja, Leopold, wenn es kalt wird, gehen wir in den Wald und bringen sie den Tieren“, sagte die junge Mutter gelangweilt. Sie mochte Mitte dreißig sein und hatte große grüne Augen, mit denen sie Prähausner, der halb schon vorbei war, voll trägen Interesses musterte, alleinerziehend und einsam, überfordert mit ihrer Arbeit und ihrem Buben, der eben heftig auf die Stachelschale einer Kastanie trat, um die Frucht herauszulösen; oder frustriert von der Ereignislosigkeit einer Ehe in einer der nahen Villen. „Es macht mich wahnsinnig, dass du dir dauernd vorstellst, wie etwas sein könnte. Du lebst doch bloß im Konjunktiv“, hörte Prähausner Hertha so deutlich sagen, als stünde sie direkt neben ihm.
Er nickte der jungen Mutter zu. Sie lupfte ihre Mundwinkel zu einem Lächeln, dann fing der Kastaniensammler zu plärren an und Prähausner machte, dass er davonkam. Was stand schon dagegen, sich die Dinge einfach nur auszumalen? Sich zum Beispiel vorzustellen, den Buben in der Minigolfanlage, die in einem verwunschenen Winkel des Parks vor sich hindämmert, mit Ball und Schläger zu versorgen und mit seiner Mutter im Gebüsch zu verschwinden. Aufgehäuftes Laub umknistert ihre Schenkel, als sie sich auf die Erde setzt; die rote Flamme der Erregung im Gesicht, wühlt sie sich in die Blätter, begierig, ihren Buben einmal für zehn Minuten zu vergessen, begierig, sich von mir, einem vollkommen Fremden, mit glührotem Laub überhäufen zu lassen, aufgezehrt zu werden von der Hitze des Augenblicks.
Was stand dagegen, sich auch andere Sachen lediglich vorzustellen, Mord und Totschlag zum Beispiel, Kriege und Genozide oder ganze Völkerschaften, die auf der Flucht waren? Nur wer nicht genug Phantasie, genug Anschauungskraft und Einfühlungsvermögen besaß, war in der Lage, einen Krieg vom Zaun zu brechen, einen Krieg, der hunderttausende von Menschen nach Norden getrieben hatte. Zweitausend von ihnen waren nun am Bahnhof, hier in Prähausners Stadt, und es wurden täglich mehr.