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3.6 Dingliche Quellen

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Ein Überblick über die große Bandbreite von gegenständ­lichen Quellen, die als mög­liche historische Quellen infrage kommen, kann und soll hier nicht geboten werden. Grundsätz­lich kann je nach Fragestellung praktisch alles Ding­liche, jede Realie, zur Quelle werden. Grundsätz­lich lassen sich aber folgende Großgruppen unterscheiden:

Bauwerke und Reste davon geben Auskunft über frühere Wohnverhältnisse, über Formen der Repräsentation, etwa in Form von prunkvollen Schlössern, oder aber auch über die jeweiligen Geisteshaltungen der Zeit. Romanische Kirchen aus dem Hochmittelalter sind häufig in der Form von trutzigen Gottesburgen erbaut, während die grazilen gotischen Kichen aus dem Spätmittelalter mit ihren in der Regel meist sehr hohen Kirchtürmen den Blick in Richtung Himmel lenken, im Inneren aber mit ihren Lichtdurchstrahlten bunten Glasfenstern einen Vorgeschmack auf das himmlische Jerusalem geben sollen. Die katholischen Barockkirchen des 17. und 18. Jahrhunderts wiederum betonen mit ihrer Verspieltheit und dem umfassenden Kirchenschmuck ein Lebensgefühl, das von dem Bestreben geprägt war, in einem nicht nur religiösen Sinne das Jetzt zu feiern, gerade in Anbetracht von Kriegen und Seuchen. Die Kirchen der reformierten Kirchen hingegen weisen eine betonte Sch­lichtheit auf: Kirchenschmuck fehlt fast völlig, mit Ausnahme der Orgel. Die historische Bauforschung wird in erster Linie von kunst- und architekturgeschicht­lichen Fragestellungen geprägt, die sich vermehrt auch naturwissenschaft­licher Methoden bedient, etwa bei der Verwendung der Radiokarbonmethode zur Datierung des verwendeten Bauholzes.

Mensch­liche und tierische Überreste bilden eine zweite Gruppe der „ding­lichen“ Quellen. Besonders die Archäologie und die Anthropologie beschäftigen sich mit den Knochenfunden, doch sind die Ergebnisse auch aus historischer Sicht interessant: Sie geben Auskunft über die Besiedlungsgeschichte einer Region, besonders wenn schrift­liche Quellen dazu weitgehend fehlen (etwa für das Frühmittelalter), sie lassen aber auch Rückschlüsse auf die Körpergröße der Menschen zu, ebenso auf deren Krankheiten und Verletzungen. Massengräber von Pesttoten lassen auf die Dimen­sionen der Seuche schließen, solche von Kriegstoten auf Gräueltaten, die mitunter in den schrift­lichen Quellen verschwiegen oder verschleiert wurden. Tierknochen von (Haus-)Tieren deuten auf die entsprechenden Ernährungsgewohnheiten hin, zeigen aber auch, dass besonders die Großhaustiere wie Rinder, Pferde oder Schweine bis in die Frühe Neuzeit in der Regel deut­lich kleiner waren als heute.

Dinge des täg­lichen Gebrauchs können noch in situ (an Ort und Stelle) oder an anderen Orten (z. B. Museen) in vollständig erhaltener oder fragmentarischer Form vorliegen. Dazu gehören etwa Mobiliar, Schmuck, Geschirr, liturgisches Gerät, Textilien, [<<35] Werkzeuge, technische Geräte etc. Da all diese Gegenstände bestimmten Stilen und Moden unterliegen, können sie in der Regel auch zeit­lich näher eingegrenzt werden. Häufig stehen nicht allein der täg­liche Gebrauch und der praktische Nutzen im Vordergrund, sondern es geht auch um die Konstitution der sozialen Klasse oder den Ausdruck eines bestimmten Lebensgefühls.

Auch die natür­liche Umwelt kann im weitesten Sinne als „ding­liche“ Quelle aufgefasst werden: Reste von Altstraßen oder einstigen Kanalprojekten wie der Fossa Carolina, einem Projekt Karls des Großen, das Flusssystem der Donau mit dem des Rheins zu verbinden, finden sich ebenso im Landschaftsprofil wie solche früherer Naturkatastrophen. Gerade innerhalb der Umweltgeschichte geht es darum, die Landschaft „zu lesen“. Damit ist gemeint, dass sich z. B. frühere landwirtschaft­liche Nutzungsformen, etwa die Aufteilung von Feldern, mitunter noch heute ablesen lassen, insbesondere aus der Luft.

Der Bereich der ding­lichen Quellen macht in besonderem Maße deut­lich, dass der Begriff der „Historischen Hilfswissenschaften“ fließend und fach­lich übergreifend ist. Im konkreten Fall bedürfen die zeit­liche, räum­liche und stilistische Einordnung sowie die Interpretation der Zusammenarbeit vieler Disziplinen, neben der Geschichtswissenschaft auch der Archäologie und ihrer naturwissenschaft­lichen Nachbarwissenschaften, der Ethnologie, der Anthropologie, der Kunstgeschichte und anderer Disziplinen. Jede Einzeldisziplin fungiert dabei auch gleichzeitig als „Hilfswissenschaft“ für die Nachbardisziplinen, ohne dass damit irgendeine Wertigkeit ausgedrückt wird. In interdisziplinären Projekten geht es genau um diese Notwendigkeit, einander hilfs­wissenschaft­liches Know-how zur Verfügung zu stellen: Zu einem archäologischen Fund können mitunter schrift­liche Quellen eine viel präzisere Datierung ermög­lichen, als dies die in der Archäologie gängigen, naturwissenschaft­lichen Mög­lichkeiten imstande wären. Umgekehrt ist durch die Archäologie häufig eine genauere Lokalisierung mög­lich, als dies in der Regel anhand einer schrift­lichen Quelle mög­lich wird. Kunstgeschicht­liche Interpretationen von Alltagsgegenständen wären oft nicht ohne das historische Hintergrundwissen mög­lich und umgekehrt benötigt der Historiker die Expertise der Kunsthistoriker oder Ethnologen, um Gegenstände in ein zeit­liches, künstlerisches und soziales Umfeld einordnen zu können.

Historische Hilfswissenschaften

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