Читать книгу Humbug & Mumpitz – 'Regietheater' in der Oper - Christian Springer - Страница 14
PRIMA LA REGÍA, POI L’OPERA?
ОглавлениеVor nicht allzu langer Zeit behauptete ein nicht mehr ganz junger deutscher Jungschauspieler mit vernachlässigbarer Regie-Erfahrung (er hatte einmal eine Studentenaufführung von Schillers Die Räuber inszeniert) in einer TV-Diskussion über „Sinn und Unsinn des Regietheaters“[47] allen Ernstes, die Inszenierung sei wichtiger als das Stück. Überträgt man derlei nicht argumentierbaren Unsinn in die Realität, ergibt sich daraus zwingend die Schlussfolgerung, der Umschlag eines Buches sei wichtiger als dessen Inhalt, die Fassade wichtiger als das dahinter befindliche Haus, oder die Lackierung eines Automobils wichtiger als das Fortbewegungsmittel. So etwas behauptet allerdings niemand, der sich mit der Materie ernsthaft vertraut gemacht hat.
Was derlei absurden Positionen möglicherweise zugrunde liegt, ist der Umstand, dass vorliegende Werke vergangener Epochen – Theaterstücke wie Opern – vom Regietheater immer häufiger als Vehikel zum Transport von Aussagen verwendet werden, die Regisseure von sich aus tätigen wollen und die mit den Stücken rein gar nichts zu tun haben. Da die Spielleiter mangels Können und Talent zumeist nicht in der Lage sind, gute eigene Stücke zu schreiben oder zu komponieren, missbrauchen sie fremdes Material dafür. So mag Hamlet als Vorwand für Pornographie in einer psychiatrischen Klinik dienen, oder Die Räuber nackten Darstellern als blut-, kotze- und spermaverschmiertes Vehikel für vorgebliche Kritik an der heutigen Gesellschaft. An diesen vom Feuilleton nicht nur geduldeten, sondern aus geradezu pathologischer Sucht nach Neuem und vor allem Modischem sogar geförderten Missständen ändern auch zeitgenössische Stücke nichts, denn ihre Autoren sind noch am Leben und wehren sich gegen einen solchen Missbrauch.
Die Degeneration vieler szenischer Interpretationen mit ihren monströsen, werkentstellenden, sinnlosen Inhalten wird allerdings erst durch die Degeneration jenes Teils des Publikums und der Kritik ermöglicht, der sie hinnimmt oder sogar akklamiert. Oder, wie Erich Kästner sagte: „An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern.“[48]
Man kann Teile des Publikums nicht für gänzlich unschuldig an der Situation erklären. Ob es nun an dem Gebotenen liegt oder ob es einfach an wirklichem Interesse am Dargebotenen mangelt: Es sind Verhaltensweisen der Zuschauer festzustellen, die noch vor dreissig Jahren so nicht zu beobachten waren. In den Pausen der Aufführungen wird heute zumeist nicht mehr über das Stück, die Sänger, den Dirigenten, die musikalische Interpretation, die Inszenierung usw. gesprochen, sondern über Berufsprobleme, Kindererziehung, Politik, Mode etc. Dies unter der Voraussetzung, dass die Zuschauer die Vorstellung nicht vorzeitig verlassen haben. Und nicht selten kann man gelangweilte Zuschauer während den Vorstellungen dabei beobachten, wie sie auf ihren Smartphones SMSs lesen oder schreiben.
Der an dieser Stelle zu erwartende Einwand, im 18. und 19. Jahrhundert habe man in den Theaterlogen während der Vorstellungen geplaudert, gespeist, getrunken und sonstige angenehme Tätigkeiten vollzogen, seine Aufmerksamkeit also nicht ungeteilt dem musikalischen und szenischen Geschehen gewidmet, kann durch das Faktum entkräftet werden, dass das Interesse am Gebotenen so hoch war, dass man die jeweils neuen Opern mehrmals besuchte und sich über die musikalischen Qualitäten der Werke und die Interpretationen intensiv austauschte.
Während ein anderer Teil des Publikums und viele Ausführende seit langem versuchen, den erwähnten Unfug zu verhindern, wird er von vielen sich den Anschein von Modernität gebenden Operndirektoren und Feuilletonisten mit fadenscheinigen Argumenten unterstützt und als allein seligmachend und „zeitgemäß“ propagiert (wobei die Definition des Begriffs „zeitgemäß“ samt entsprechender Begründung immer fehlt). Entstanden ist dieses vorwiegend deutsche Phänomen aus einer Vielzahl von Gründen.
Ein Grund ist das im Schwinden begriffene Selbstdarstellungsvermögen der Bühnen. Trotz der großen Anzahl kleiner, mittlerer und großer Ein- und Mehrspartentheater, die im deutschen Sprachraum Opern aufführen, müssen diese immer eindringlichere, gelegentlich auch fragwürdige Marketingmethoden einsetzen, um Publikum anzuziehen, um die öffentlichen Gelder, die sie verbrauchen, zu rechtfertigen und um von den marktschreierischen Medien überhaupt wahrgenommen zu werden.
Diese Medien sind derzeit damit beschäftigt, gute Geschäfte zu machen, indem sie ein neuartiges Phänomen (be)fördern. Sie vermitteln erfolgreich das Bewusstsein, dass jemand nicht nur ohne Ausbildung, Talent, Können und Leistung zum „Superstar“ werden, sondern dies sogar über gewisse Zeiträume hinweg bleiben und dabei beträchtliche Summen lukrieren kann (von „verdienen“ soll dabei tunlichst nicht die Rede sein). „Heute kann jeder Schauspieler werden oder Popstar“, sagt der Burgschauspieler Nicholas Ofczarek. „Alles geht. Es hält sich nur nicht lang. Das Mittelmaß regiert die Welt. Aber langsam bricht alles ein.“[49] Vollends pervertiert wird dieses Phänomen dadurch, dass auch intensiv über „Stars“ und „Ikonen“ berichtet wird, ohne dass erkennbar würde, was die jeweiligen Personen überhaupt machen und worin ihre Leistungen bestehen. Solche Medien, die bei gewissen Publikumsschichten mit Erfolg meinungsbildend wirken, sind für Opernübertragungen natürlich nicht zu interessieren, denn die sind ihnen und ihrem Publikum herzlich egal. Ihnen sind ja sogar die erst gestern gehypten „Stars“ egal, wenn sie nicht wie erhofft funktionieren und den Knebelverträgen der Fernsehanstalten nicht widerspruchslos Folge leisten.
Was sollen Opernhäuser also tun, um Aufmerksamkeit zu erregen und in die Schlagzeilen zu kommen? Man engagiert nicht mehr teure, verhaltensauffällige oder unzuverlässige skandalträchtige Stars (die auch nicht mehr das sind, was sie einmal waren, denn wer kann heute schon mit dem europaweit wahrgenommenen Eklat mithalten, zu dem es kam, als sich 1727 die Primadonnen Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni auf offener Bühne im Londoner King’s Theatre kreischend beschimpften, mit der von den Medien herbeigeschriebenen „Rivalität“ zwischen Maria Callas und Renata Tebaldi, die jahrelang die Klatsch- und Kulturseiten der Printmedien füllte, oder mit dem unerhörten Faktum, dass Maria Callas eine Norma-Vorstellung in Rom nach dem ersten Akt krankheitshalber abbrach, obwohl der italienische Staatspräsident anwesend war), sondern man baut auf Regietheaterskandale, die unter dem Strich billiger sind, nicht nur beim Boulevard mittels Empörungs- und Rufzeichenjournalismus ihre Wirkung tun und es bisweilen sogar auf die Titelseiten schaffen.
Sogar ein seriöses Theater wie das Royal Opera House, Covent Garden, sieht sich gezwungen, zu diesen Mitteln zu greifen. So war kürzlich zu lesen: „Taking the precaution of advising ticket-holders to Lucia di Lammermoor that Katie Mitchell’s new production would contain scenes of strongly sexual and violent nature, the Royal Opera has found itself at the centre of another controvery about the style and contents of its stagings. This follows the uproar last summer after the depiction of a rape in Guillaume Tell, and the latest response included requests from a number of patrons for refund. Mitchell is no stranger to such strong imagery. She directed Sarah Kane’s play Cleansed at the National Theatre in February, a production that caused five audience members to faint and many more to walk out, upset by scenes of castration, rape and torture.“[50]
Ein weiterer Grund ist der Mangel an guten, neuen Stücken und, daraus folgend, die Ermüdungserscheinungen, die die ständigen Wiederholungen der ewig gleichen Werke[51] in unserer Epoche der künstlerischen Mittelmäßigkeit hervorrufen. Die Wiederholung einer beschränkten Anzahl von Werken wiederum ist auf das Repertoiresystem zurückzuführen, das damit den Wünschen des Publikums entgegenkommt. Es kommt diesen Wiederholungen im Laufe der Zeit aber wohl oder übel jegliche Frische und Originalität abhanden. Wie also den abgespielten Stücken des Standardrepertoires nur einen Teil ihrer früheren, von der Substanz herrührenden Originalität wiedergeben? Dem breiten Publikum unbekannte Werke, so großartig sie auch sein mögen, auszugraben und aufzuführen ist zwar verdienstvoll, kann aber riskant und teuer sein. Also lieber beim Altbekannten und Beliebten bleiben und es so aufbereiten, dass wieder darüber gesprochen wird. Man diskutiert natürlich nicht mehr darüber, wie skandalös es ist, eine Nobelprostituierte oder einen Buckligen als Protagonisten eines Stücks auf der Bühne zu sehen, sondern darüber, was ein Regisseur aus diesen liebgewonnenen Bekannten, die schon fast zur Familie gehören, gemacht hat. Wo und wann wird das Stück spielen? Werden die Hauptfiguren zu erkennen sein? Werden neue Figuren oder Doppelgänger eingeführt? Wird es nackte Darsteller geben, die miteinander kopulieren oder sich in einem Cocktail aus Blut und Exkrementen wälzen? Diese Erwartungshaltung treibt den öffentlichen Blutdruck in die Höhe (wenn auch nur geringfügig, denn die Sex- und sonstigen Skandale öffentlicher Persönlichkeiten, die jeglichen Realitätsbezug verloren haben, übertreffen alles, was selbst ein krankes Regisseurhirn aushecken könnte). Das gewünschte Ziel ist erreicht, denn man spricht und schreibt über diese Events, die immer weniger mit Kunst und den ursprünglichen Werken zu tun haben. Musikalische und sängerische Kompetenz sind dabei sekundär.
Als dritter Grund kommen als Erklärung für das Phänomen Regietheater und seine Täter die Spätfolgen der sogenannten „anti-autoritären“ Erziehung in Frage, bei welcher die „1968er“ die notwendige Erziehung von Kindern mit Laissez-faire verwechselten und unwidersprochen jeden Unsinn tolerierten, der einem Kindergehirn entspringen mochte. Der Begriff „anti-autoritär“ wurde dabei als Kampfparole gegen die bürgerlichen „autoritären“ Erziehungsmethoden eingesetzt, war also wie beim Regietheater ein ideologischer Ansatz. Die Folgen dieser Nichterziehung konnten nicht ausbleiben und wirkten bis in die folgenden Generationen nach. Wie anhand mehrerer Beispiele zu sehen sein wird, besteht kein Unterschied zwischen dem Tun eines nach diesem Erziehungsstil anti-autoritär, d.h. überhaupt nicht erzogenen, weil sich selbst überlassenen Kindes, und dem Treiben von Regietheater-Regisseuren, die bei ihren Opernregien sachlich unbegründbaren infantilen Unsinn und Trotzreaktionen gegen Autoritäten in der Person der Autoren ausleben, keine von den Autoren oder nur vom Hausverstand festgelegten Vorgaben und Grenzen akzeptieren und keine Verantwortung gegenüber dem zu inszenierenden Werk, dessen Schöpfern und dem Publikum zu übernehmen imstande sind. Dass solchen Regisseuren jeglicher Respekt vor den Arbeiten anderer abhanden gekommen ist, ist nur folgerichtig. Das sonderbare Verhalten vieler dieser Regisseure gegenüber ablehnenden Publikumsreaktionen, die sie geradezu zu suchen scheinen, erhärtet diesen Verdacht und ähnelt in verblüffender Weise dem Verhalten von Kindern, die ihre Grenzen gegenüber Erwachsenen ausloten. Zum Unterschied von diesen haben sie gelernt, die Ablehnungen, Zurückweisungen und Schmähungen, die ihnen zuteil werden, mit einem Lächeln und Verbeugungen zu quittieren und in vielen Fällen geradezu zu genießen, oder dies provokativ, jedoch angestrengt vorzutäuschen.
Last, but not least, ist es der üble Einfluss des Feuilletons, das im Kielwasser der Arbeiten erziehungsauffälliger Spielleiter seinen Neophiliewahn besinnungslos und ohne Rücksicht auf die Folgen auslebt und somit in hohem Grade mitverantwortlich ist für die beklagenswerten Zustände, von denen die Rede sein wird.
Der als Sänger seit längerem immer wieder mit Problemen kämpfende Tenor Rolando Villazón hat sich tentativ als Regisseur betätigt und im Jänner 2011 in Lyon Massenets Werther inszeniert. Er besitzt zwar keine Ausbildung als Regisseur, hat aber der gleicherweise unqualifizierten Kollegenschaft etwas voraus: Er kennt wenigstens eine Partie der Oper in- und auswendig, nämlich die des Protagonisten. Das ist schon viel mehr als man von heutigen Regisseuren erwarten darf. Ein renommierter britischer Rezensent hat das als Anlass für eine allgemeine Betrachtung dieses Berufs genommen: „Among his many other non-singing pursuits, Rolando Villazón has become the latest active singer to try his hand at opera directing, which must be one of the only professions in the world these days for which no qualification other than a recognizable name is required.“[52]
Dass der hyperaktive Tenor, Regisseur, Clown, Karikaturist, Schriftsteller usw. mit seinen Regiearbeiten übel danebengreifen kann, zeigte sich an der Wiener Volksoper, wo er 2015 Donizettis Opera buffa Viva la mamma (Originaltitel: Le convenienze e le inconvenienze teatrali) in Szene setzen durfte. Die Reaktionen darauf waren harsch: „die Wrackteile [der Inszenierung] versinken im Marianengraben der Geschmacklosigkeit“, „wer diesen zweiten Akt gesehen hat, wird die Bilder nie mehr aus seinem Gedächtnis bannen können, denn er hat das absolute Grauen geschaut. Und er weiß nun: Die höchste Form allen Grauens ist bunt“ sowie zusammenfassend: „Das ist keine Opernproduktion, sondern ein Verbrechen.“[53]
Dass der auch als Clown aktive Herr Villazón einen starken Hang zum Zirkus und seiner grellen Buntheit besitzt, zeigt seine in einer Zirkusmanege angesiedelte Inszenierung von La traviata in Baden-Baden, wo der Intendanz offenbar ein bekannter Name genügt, um jeden beliebigen Unsinn auf die Bühne zu bringen. Zwar gibt die Pressestelle des Festspielhauses bekannt, dass der Regisseur das „Geschehen aus den Pariser Salons des frühen 19. Jahrhunderts in eine zeitlose [?] Manegen-Landschaft [?] verlegt“, bleibt aber eine Begründung dafür schuldig. (Einen gleicherweise sinnlos in einer Zirkusmanege spielenden Rigoletto hatte man bereits 2013 in Aix-en-Provence gesehen.) Der Höhepunkt der Traviata bestand in einem Auftritt von Vater Germont als steinerner Gast (eine recht primitive Metapher), jener des Rigoletto in einer Selbstentblößung des Duca di Mantova, der splitterfasernackt eine Leiter erklimmt, um mit Gilda zur Tat zu schreiten.
Der Bariton Leo Nucci, der es wegen der Praktiken des Regietheaters[54] seit langem ablehnt, in Regietheater-Inszenierungen deutscher Opernbühnen aufzutreten, hat öffentlich berichtet, dass ihn in der Vergangenheit in mehreren Fällen deutsche Regisseure am ersten Probentag einer neuen Produktion verstohlen um Hilfe bei der Regie gebeten haben, mit der Begründung, dass er das jeweilige Werk doch viel besser als sie kenne und sie selbst weder damit im Detail vertraut wären noch es je auf einer Bühne gesehen hätten. Kein Filmregisseur würde es wagen, ähnlich unvorbereitet zum ersten Drehtag zu erscheinen. Täte er es dennoch, würde er vor Ende des ersten Arbeitstages bereits wieder entlassen. Nicholas Ofczarek bestätigt das: „Immer mehr Regisseure kommen unvorbereitet zu den Proben, das kann man sich beim Film nicht leisten.“[55]
Da ist man bei den Regisseuren[56] angelangt, die weder ihren Beruf ernst nehmen noch ihr Handwerk beherrschen und dies in der Folge durch pseudointellektuelles Geschwätz[57] zu tarnen versuchen. Sie müssen, um ihre Arbeit in Angriff nehmen zu können, zu einem zu inszenierenden Bühnenwerk – durch und durch unprofessionell – „eine Beziehung haben“.[58] Meistens haben derlei impertinente Ignoranten – so nannte der Dirigent Sergiu Celibidache Menschen mit dem Berufsethos der Beziehungs-Regisseure – aber keine Beziehung zu Opern, was nichts anderes bedeutet, als dass sie das jeweilige Werk (oder sogar generell die Oper als Kunstform) nicht kennen und nicht mögen sowie nicht wissen, wie sie beim Regieführen vorgehen sollen. Sie inszenieren aus einem Reclam-Heftchen oder einem CD-Booklet mit einer Librettoübersetzung, weil sie die gesungene Sprache nicht verstehen, und erkennen nicht, wo und weshalb die Übersetzung, die sie vor Augen haben, mitunter weit vom Ausgangstext und somit von ihrer Inszenierung abrückt.