Читать книгу Nanas Reise - Christiane Antons - Страница 10

Blaugrau

Оглавление

Das Auge war ihr gut gelungen. Der Eichelhäher wirkte, als ob er gleich losfliegen wollte. Es war eine Dame, beschloss Nana. Bei den Eichelhähern konnte man das Geschlecht nicht über die Optik bestimmen, Männchen und Weibchen sahen identisch aus. Flieg, du bist frei, schoss es ihr durch den Kopf, als es an ihrer Tür klingelte. Sie öffnete nicht.

Ankes Mann war auch geflogen – über den Lenker seines Rennrades. Die gute Nachricht war, dass er keine Kopfverletzungen davongetragen hatte, weil er einen Helm getragen und sich beim Sturz mit seinen Händen abgefangen hatte. Die schlechte Nachricht war, dass er sich dabei beide Arme gebrochen hatte. Anke konnte ihren Mann in den nächsten Wochen unmöglich allein lassen.

Und Nana konnte unmöglich allein reisen.

Ihr Handy klingelte. Sie ging nicht ran, malte stattdessen weiter. Das Malen hielt sie zusammen, sorgte dafür, dass sie nicht in tausend kleine Stücke zerfiel. Die Pinselstriche mussten langsam und sorgfältig ausgeführt werden, sie versuchte, sich nur darauf zu konzentrieren.

Es poppte eine Nachricht von Phillip auf: Nana, bitte sprich mit mir. Ich stehe vor der Wohnung.

Sie schaltete ihr Handy auf Flugmodus und wählte einen neuen Stein. Sorgfältig wusch sie ihn mit Seife und warmem Wasser. Das war nicht notwendig, denn sie hatte alle Steine bereits gereinigt. Doch es beruhigte sie, also machte sie es. Nana durfte die Trauer, Wut und Hilflosigkeit in ihrem Inneren nicht übermächtig werden lassen. Sie hatte Angst, dass das Loch, in das sie dann fallen würde, zu tief wäre und sie nie wieder herausgekrabbelt käme.

Die Steine, die sie bei ihrem letzten Ostseeurlaub gesammelt hatte, waren flach und glatt, sie hielt sie gern in ihren Händen und mochte die graue Farbe, die so angenehm unaufdringlich daherkam. Nana trocknete den Stein mit einem sauberen Handtuch ab und legte ihn auf das Fensterbrett zum Durchtrocknen.

Sie musste eine Lösung finden. Sie konnte nicht auch noch die Reise absagen, es war ihr einziger Lichtblick. Die Fahrt musste wie geplant stattfinden, wenn doch sonst schon alles um sie herum zerfiel. Im Kopf ging sie ihren Freundeskreis durch: Verheiratet, kleines Kind, pleite, reiste nie, gerade erst Kredit fürs Haus aufgenommen … Nana fiel nicht ein einziger Name als Ersatz für Anke ein. Wer konnte oder wollte schon spontan für drei Wochen alles stehen und liegen lassen und mit ihr nach Großbritannien reisen?

Für eine Weile starrte sie aus dem Fenster und knibbelte an ihrem Daumen, bis sie ein kleines Pflaster aus dem Badezimmerschrank holen musste.

Sie schaltete das Handy wieder auf Empfang.

Ich habe dir eine Nachricht im Briefkasten hinterlassen. Weil du analoge Post lieber magst als digitale. Bitte, Nana, lass uns reden!

Barfuß ging sie die Treppe hinunter zum Briefkasten. Sie genoss die Kälte unter ihren Füßen. Die Abendsonne schien durch die Fenster und tauchte den Hausflur in ein Senfgelb. Nana bekam Hunger auf Heißwürstchen. Zurück in der Wohnung schüttete sie sich ein Glas Weißwein ein, setzte sich auf den kleinen Balkon und öffnete den Brief. Nachdem sie ihn zweimal gelesen hatte, faltete sie aus dem Papier ein Flugzeug. Sie ließ sich viel Zeit dabei und knickte das Blatt sorgfältig. Jede Kante zog sie mehrfach glatt. Schließlich ließ sie es vom Balkon gleiten. Es flog gut und landete auf der Straße. Irgendwann wurde es vom ersten Auto überfahren. Dann vom zweiten. Nach dem dritten holte sich Nana die Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und goss großzügig nach.

Um sich von ihrer Wut über den Brief abzulenken, griff sie zu ihrem E-Book-Reader. Sie hatte nach der Wohnungsbesichtigung recherchiert. Lutz hatte in der Tat vor Jahren ein Buch herausgebracht und sie war neugierig. Stunden später blickte Nana von ihrem Reader hoch. Sie fröstelte. Die Nacht lag auf der Kippe zum Tag.

Sie rappelte sich auf, ihre Glieder waren steif vom langen Sitzen. So wie sie war, legte sie sich auf ihr Bett. Wer so schreiben konnte, dachte sie kurz vorm Einschlafen, konnte kein Vollarsch sein. Dieses Buch hatte Seele. Und es trug unzählige schöne Farben in sich. Ihr schoss eine Idee durch den Kopf, die sie von einer Sekunde auf die nächste wieder hellwach werden ließ. Nana setzte sich auf. Jetzt hoffte sie sogar, dass Lutz sie angelogen hatte. Denn dann könnte er ihre Lösung sein. Dann wusste sie, was sie ihm sagen wollte. Und zwar gleich am nächsten Tag.

Nanas Reise

Подняться наверх