Читать книгу Nanas Reise - Christiane Antons - Страница 14
Krassgrün
ОглавлениеNana kam nur langsam im morgendlichen Berufsverkehr voran. Vor der großen Fahrt hatte sie ihren geliebten Toyota von Kalle durchchecken lassen. „Alles tippitoppi, Nana! Gute Fahrt und bring mir nen Whiskey mit“, hatte er beim Abschied gesagt. Kalle war der KFZ-Mensch ihres Vertrauens. Wenn Kalle sagte, ihr Corolla würde die Reise schaffen, würde er sie schaffen.
An der Fußgängerampel überquerten fast ausschließlich Schülerinnen und Schüler die Straße. Mädchen in Sommerkleidern oder hochgeschnittenen Jeans mit kurzem Top, Jungs mit bis zu den Knöcheln hochgekrempelten Hosen, Turnschuhen und T-Shirts. Gemeinsam war ihnen der müde Blick. Nana erinnerte sich gut an ihre eigene Schulzeit. Die ersten beiden Schulstunden war sie ausschließlich physisch anwesend gewesen.
Ich habe bestimmt nur Falsches eingepackt, dachte sie, als sie den Wagen im Innenhof des Mehrparteienhauses parkte, in dem Lutz wohnte.
„Ich komme herunter“, knarzte es wenige Sekunden nach ihrem Klingeln aus der Gegensprechanlange.
Die Morgenluft war angenehm kühl. Nana nahm einen tiefen Atemzug und wippte in ihren Chucks ungeduldig auf und ab. Die Schuhe quietschten. Auch wenn sie am liebsten barfuß ging oder Sandalen trug, hatte sie sich für die Autofahrt extra festes Schuhwerk angezogen und ein schlichtes, weitgeschnittenes graues Kleid, das nirgendwo drückte oder spannte, wenn sie lange saß.
Lutz trat mit einem kleinen Koffer vor die Tür, nickte Nana zur Begrüßung zu und verfrachtete ihn sogleich in den Kofferraum. Er trug das gleiche Outfit wie bei ihrer ersten Begegnung: Lange schwarze Hose, weißes Hemd, Lederschuhe.
„Kein Beautycase?“, fragte er, als er sein Gepäck neben ihrer Sporttasche und dem großen roten Koffer verstaute.
„Es gibt zwei Frauentypen: Die mit und die ohne Beautycase“, gab sie zur Antwort.
„Welche sind die besseren?“, fragte er.
„Definiere besser.“
Er schmunzelte. „Touché.“
„Ich kann dir nur sagen, welche erfahrungsgemäß länger das Bad blockieren.“
Lutz nickte und schloss den Kofferraum. „Kannst du mir helfen, Churchills Käfig hinüber zu bringen?“ Er wies mit einer Kopfbewegung zum Kiosk.
„Klar.“
Vorsichtig trugen sie das Terrarium durch das Treppenhaus hinunter. Yasemin erblickte die beiden bereits durch ihr Schaufenster und öffnete ihnen, mit Ela auf dem Arm, die Tür.
„Moin“, begrüßte die junge Kioskbesitzerin sie in einem krassgrünen Jumpsuit, der ihre dunklen Haare und dunkelbraunen Augen besonders gut zur Geltung brachten. „Kommt mit.“ Sie verließen den Kiosk durch die Hintertür, und Yasemin führte die beiden in den zweiten Stock. „Den Käfig stellen wir ins Wohnzimmer, neben den Sessel an die Wand“, wies sie an. Kurz bevor die beiden das Terrarium absetzten, verzog Lutz schmerzverzerrt das Gesicht. Fragend blickte Nana ihn an.
„Legostein“, erklärte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Nana grinste. „Karma“, flüsterte sie.
Lutz verdrehte die Augen. „Ich hole Churchill.“ Er verschwand im Treppenhaus.
Yasemin nickte zufrieden und setzte ihr Kind auf dem Teppich ab. „Da steht der Käfig gut und kriegt keine Sonne ab.“ Die Kioskbesitzerin schaute nun neugierig zu Nana. „So, und ihr fahrt jetzt für drei Wochen weg, obwohl ihr euch nicht wirklich kennt und Lutz dich mit der Wohnungsanzeige belogen hat. Übrigens ne echte Kacknummer! Hab ich ihm auch gesagt, als er rüberkam.“
Nana lachte. „Ja“, entgegnete sie nur, weil sie nicht wusste, was sie sonst noch sagen könnte.
„Krasser Scheiß. Du wirst deine Gründe haben, warum du das machst. Falls du ein bisschen Muffensausen hast: Von allem, was ich mitbekommen hab, trägt Lutz das Herz am rechten Fleck.“
„Was hast du denn so mitbekommen?“, fragte Nana neugierig.
„Na ja, wenn er im Kiosk ist, hält er meiner Stammkundin Erika, die schon voll alt ist, immer die Tür auf. Und Lutz redet ja nicht viel, aber wenn’s drauf ankommt, dann … Im letzten Monat zum Beispiel gab’s Stress vor dem Kiosk. Streit zwischen einem Pärchen. Der Typ war mega aggro. Lutz ging raus, packte ihm an den Kragen und – ich weiß nicht, was er ihm gesagt hat – Sekunden später war der Eumel weg und die Frau ziemlich erleichtert.“
Schritte im Hausflur kündigten Lutz’ Rückkehr an.
„Danke, dass du mir das erzählt hast“, flüsterte Nana Yasemin noch schnell zu, bevor ihr Reisegefährte wieder das Wohnzimmer betrat.
„Kann ich euch während eurer Tour eigentlich auf Insta folgen?“, fragte Yasemin, während Lutz den Hamster vorsichtig aus der Transportbox ins Terrarium setzte.
Seine Antwort brummelte er. „Natürlich nicht.“
„Warum eigentlich nicht?“, erwiderte Nana langsam. „Das ist keine schlechte Idee. Es wäre wie ein digitales Fotoalbum. Vielleicht hilft es dir, deine Reisenotizen später besser zu erinnern.“ Sie war selbst erstaunt, wie schnell sie für die Idee Feuer fing.
„Ich verschwende meine Zeit nicht mit albernen Hashtags. Und schon gar nicht mit Bildern.“
„Was hast du denn gegen Bilder?“ Nanas Stimme klang gereizter, als ihr lieb war. „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, Herr Autor.“
Lutz setzte zur Antwort an, als Yasemin beschwichtigend ihre Arme hob. „Ts, ts, ts, das fängt ja schön harmonisch an. Fahrt jetzt lieber, bevor ihr euch schon in meinem Wohnzimmer an die Gurgel springt. Aber kommt vorher kurz mit.“ Schwungvoll schnappte sie sich ihre Tochter, die sich gerade wackelig an einem Sessel hochzog. „Hier.“ Im Kiosk überreichte sie ihnen ein liebevoll geschnürtes Päckchen. „Reiseproviant. Brötchen, Kekse, und für dich, Nana, eine extra große Tüte Weingummi. Vertragt euch.“
„Danke“, sagte Nana gerührt, als sie alles entgegennahm. „Das ist total nett von dir.“
„ꞌTotalꞌ ist ein schreckliches Füllwort“, flüsterte Lutz Nana zu, bevor er sich ebenfalls bei Yasemin bedankte. „Und falls etwas mit Churchill sein sollte …“
„… hab ich deine Nummer“, beruhigte Yasemin ihn. „Aber bei der dreiseitigen Anweisung, die du mir vorab gemailt hast, sollten echt keine Fragen offen sein. Entspann dich, ich krieg das hin. Bei euch beiden hingegen bin ich mir da nicht so sicher.“ Sie brach in ein ansteckendes Lachen aus, und Nana winkte ihr beim Hinausgehen zu.
Wenige Minuten später befanden sich Nana und Lutz auf der Autobahn, die sie Richtung Ruhrgebiet führte.
„Wir können uns beim Fahren gerne abwechseln“, bot Lutz an. „Sag einfach Bescheid, falls du eine Pause brauchst.“
„Danke für das Angebot, aber das Auto fahre nur ich“, entgegnete sie bestimmt. „Nimm’s nicht persönlich“, setzte sie schnell hinterher, weil sie nicht gleich zu Beginn der Reise unhöflich wirken wollte. „Du bist bestimmt ein guter Fahrer. Es ist nur … es ist einfach so.“ Zu ihrer Erleichterung fragte Lutz nicht weiter nach, sondern nickte nur. „Aber du könntest das Tanken während unserer Reise übernehmen – und das Einkaufen. Ich hasse beides.“
„Ich auch.“
„Ach guck! Wie nett.“
„Nett?“
„Unsere ersten Gemeinsamkeiten! Wir hassen dieselben Dinge. Gemeinsamkeiten sind von Vorteil, wenn man eine längere Zeit zusammen verbringt.“
„Hast du mit deinem Ex viele Gemeinsamkeiten?“
„Ich … äh … was für ein Themenwechsel, Lutz! Ich hatte gerade angefangen, gute Laune zu bekommen.“
„Tut mir leid. Ich bin von Natur aus neugierig. Das bringt meine Arbeit mit sich.“
Sie seufzte. „Na gut, das sehe ich dir nach. Ohne Neugierde keine Impulse. Ohne Impulse keine Kreativität.“
Er blickte sie überrascht an. „Genau.“
„Wo steigt eigentlich unser erster Mitfahrer zu?“, wechselte sie das Thema.
„In Oberhausen, fährt mit bis Boulogne-sur-Mer. Und es ist eine Mitfahrerin. Sie heißt Amelie.“